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Full text of "Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung"

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Ciirsiis  der  Philosophie 


als  streng  wissenschaftlicher 


Weltanschauung  und  Lebensgestaltung. 


Von 


Dr.  E.  Dühring, 


Doc«nten  der  Philosophie  und  der  Staatswissenschafteu  an  der  Berliner  Universität. 


Leipzig. 

Ericli    Koschny 

(L.  Heimann's  Verlag). 
1875. 


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Vorrede 


Uas  vorliegende  Werk  ist  eine  Darstellung  des  Ganzen  der  Philo- 
sophie in  derjenigen  Gestalt ,  welche  dieselbe  in  meinem  System 
angenommen  hat.  In  Verbindung  mit  meiner  Geschichte  der  Philo- 
sophie stellt  es  einen  nicht  blos  systematisch,  sondern  auch  historisch 
und  kritisch  abgegrenzten  Gedankenkreis  der  Weltauffassung  und 
Lebensgestaltung  vor.  Wie  es  sich  zu  meinen  andern  Arbeiten  ver- 
halte, und  wie  es  zu  studiren  sei,  ist  am  Schlüsse  auseinandergesetzt 
worden. 

Die  Logik  und  Wissenschaftstheorie  in  ausfuhr  lieber  Darstellung 
zu  geben,  ist  nicht  die  Sache  eines  Gesammtcursus  der  Philosophie. 
Ja  es  lässt  sich  behaupten,  dass  die  wissenschaftstheoretischen  Lehren 
ein  Gebiet  bilden,  welches  in  seinen  subtileren  Theilen  vornehmlich 
für  das  Studium  der  Specialwissenschaften  fruchtbar  wird  und  in 
diesen  Richtungen  für  Niemand  gehörig  brauchbar  ist,  der  den  spe- 
cialistisch  verzweigten  Lehren  der  logischen  Theorien  nicht  in  das 
Detail  der  besondern  Einzelwissenschaften  zu  folgen  vermag.  Ein 
besonderes  Werk  über  Logik  und  Wissenschaftstheorie  hat  daher  die 
Interessen  der  eigentlichen  Wissenschaft  und  Forschung  in  eingehen- 
der Weise  zu  berücksichtigen.  Es  hat  bei  einem  Theil  seiner  Leser 
Bedürfnisse  zu  befriedigen,  die  über  den  Kreis  der  allgemeinen 
Theilnahme  an  der  Philosophie  hinausliegen,  und  wird  demgemäss 
in  meiner  Schriftengruppe  eine  völlig  selbständige  Veröffentlichung 
ausmachen. 


—    IV     — 

Mein  Cursus  wendet  sich  an  Leser  und  Studirende,  welche  einer 
thatkräftigen  Idealität  fähig  sind  und  die  sich  auf  dem  lauten  Markt 
breitmachende  Frivolität  von  sich  weisen.  Er  setzt  im  Wissen  das 
Bedürfniss  nach  Gründlichlceit  und  Tiefe,  im  Wollen  aber  die  Be- 
reitschaft voraus,  jede  Anwandlung  von  Blasirtheit  energisch  zu 
bekämpfen.  Mit  dem  Dienste  der  Fäulniss  und  mit  dem  sich  in 
ihrem  Reich  ergelienden  Kleinmuth*  der  Weltverzweifelung  und  dazu 
gepaarten  Uebermuth  der  Brutalität  hat  er  nichts  gemein.  Sein 
Ausblick  ist  auf  das  frische  Leben  und  auf  die  Mächte  gerichtet, 
welche  jugendkräftig  die  ferneren  Schicksale  der  Menschheit  gestalten 
und  mit  dem  Absterben  des  alten  geistigen  Regime  auch  schon  die 
einstige  Reife  einer  edleren  Ordnung  ankündigen. 

Berlin,  im  Januar  1875. 

Dühring. 


Inhalt. 


Einleitung. 
I.   Bedeutung  der  Philosophie. 


Seite 


Tieferer  Sinn  der  Frage:  Was  ist  Philosophie?  Erläuterung  der  Ant- 
wort: Philosophie  ist  die  höchste  Form  des  Bewusstseins  Yon  Welt  und 
Leben.  Allgemeine  Bedeutung  des  Bewusstseins  trotz  seiner  mensch- 
lichen Specification.  Verhaltniss  von  Gesinnung  und  Wissenschaft  als 
von  Elementen  der  Philosophie.  Wirksamkeit  der  Gesinnung  in  der  Her- 
vorbringung von  entsprechenden  Formen  der  Lebensgemeinschaft.  Wissen- 
schaft und  Verstand  als  das  letzte  weltgeschichtliche  Mittel.  Höchste 
Form  des  Bewusstseins  und  entsprechende  Autoritätsfreiheit 1 

II.   Bestandtheile  und  natürliolies  System. 

Besonderer  Sinn,  in  welchem  in  der  Philosophie  .die  Principien  des 
Wissens  und  Wollens  verstanden  werden.  Verzweigung  der  Philosophie 
in  besondere  Lehren.  Die  sich  an  das  Herkommen  anschliessenden  Ab- 
theilungen. Doppelte  Rolle  der  logischen  Elemente.  Die  Metaphysik  als 
Weltschematik.  Auswahl  des  philosophischen  Stoffs  für  einen  einheitlich 
zusammenhängenden  Cürsus.  Wirklichkeitsphilosophie  Natürliche  Grup- 
pirung^ 8 

Erster  Abschnitt. 

Grundgestalten  des  Seins. 

Erstes  Capitel.  Elementarbegriffe  der  Weltauffassung. 
1.  Einzigkeit  des  Seins.  •  Ableitung  dieser  Einzigkeit  aus  dem  Einheits- 
punkt jeglichen  Denkens.  2.  Grundgestalt,  in  welcher  eine  Unendlich- 
keit möglich  ist.  Ausschliessung  falscher  Unendlichkeitsideen.  Andeu- 
tung der  Ungleichartigkeiten  in  dem  universellen  Seinsbegriff.  0.  Beharrung 
und  Veränderung  als  zusammengehörige  Elemente  des  Seins.  Keine  Ver- 
änderung ohne  ein  zu  Grunde  liegendes  Beharrliehe.  4.  Neue  Elemente 
im  Zusammenhang  der  Dinge.  Schöpfung  als  Häufung  von  Veränderun- 
gen. Volle  Realität  der  Veränderungen.  Das  sich  selbst  Gleiche  schliesst 
die  Veränderungen  nicht  aus  sondern  ein.  5.  Allgemeines  und  Besonderes, 
Gattungen  und  Arten.  Wesen  und  Veränderlichkeit  der  Artgebilde. 
Charakter  der  Entwicklung.  Ursachen  nur  als  Gründe  der  Veränderungen 
denkbar.  Ruhende  Gattungen  und  Allgemeinheiten  der  Abfolge.  6.  Grösse, 
und  Bedeutung  des  Grössenbegriffs  für  die  Gattungen  des  Seins.  Zeit- 
grösse.  7.  Art  und  Weise,  den  Verlauf  der  Weltentwicklung  in  der  Rich- 
tung auf  die  Zukunft  exact  vorzustellen 16 

Zweites  Capitel.  Logische  Eigenschaften  des  Seins.  I.Sinn 
einer   Innern   Logik    der  Dinge.     Realer  Ausschluss  des   Widerspruchs. 


—     VI    — 

Seite 

2.  Unterscneidung  vom  Antagonismus  der  Kräfte.  Frage  nach  dem  letz- 
tern als  einer  Grundform  des  Verhaltens  der  Weltelemente  3.  Durch- 
gängige Begründung  im  Sein  und  verwandte  Vorstellungen.  Ausnahms- 
lose Gesetzmässigkeit  der  Vorgänge.  Absolute  Nothweudigkeit.  Vor- 
urtheile  der  früheren  Metaphysik.  4.  Kennzeichnung  der  nicht  abgeleiteten 
Nothwendigkeit.  Verhältniss  zur  Identität  und  Causalität.  Natürliche 
Grenzen  der  Fragen  nach  dem  Warum.     5.  Systemnatur  des  Seins     .     .       29 

Drittes  Capitel.  Verhältnisse  zum  Denken.  1.  Souveraine 
Bedeutung  des  Verstandes  in  der  Erfassung  der  Wirklichkeit.  Mögliche 
Absonderung  des  rein  ideellen  Denkens  nach  Art  der  Mathematik.  Ein 
einfaches  Mittel,  die  autonome  Geltung  der  formalen  Logik  sichtbar  zu 
machen.  ?.  Verständniss  der  normalen  Functionen  der  Phantasie  aus  der 
mathematischen  Imagination.  3.  Phantasie  und  Wirklichkeit  in  ihrer  Ent- 
fremdung und  in  ihrer  Ueberein Stimmung.  Wissenschaftliche  rationelle 
Phantasie.  Rolle  der  idealen  Anticipatiön.  4.  Elemente  des  Denkens  und 
Elemente  des  Seins.  Entsprechende  Vollständigkeit  der  Composition  in 
den  subjectiven  Mitteln  der  Auffassung.  Rückschluss  von  dem  Verhalten 
der  Natur  in  der  Hervorbringung  des  Denkens  und  namentlich  der  Phan- 
tasie auf  den  objectiven  CharaKter  der  Dinge.  5.  Das  ausschliesslich 
Menschliche  und  das  Allgemeingültige  in  den  leitenden  Begriffen.  Kritik 
der  Finalität.  Unentbehrlichkeit  der  subjectiven  Analogien  zum  Verständ- 
niss der  Welt • 41 

Zweiter  Abschnitt. 

Principien  des  Naturwissens. 

Erstes  Capitel.  Ausgangspunkte.  1.  Die  gegenwärtige  Situa- 
tion der  sogenannten  Naturphilosophie,  Augenblickliche  Einmischung 
der  Specialisten.  Unzulänglichkeiten  des  rein  Positivistischen  jeder  Art. 
Gefährdung  der  souverainen  Wissenschaft  durch  den  Mysticismus.  2.  Be- 
griff der  Natur.  x\bweg  in  der  Fassung  desselben.  Leitfaden  der  Ma- 
terialität. 3.  Die  mathematischen  und  die  empirischen  Kategorien  der 
Naturauffassung.  Das  Gesetz  der  bestimmten  Anzahl  und  die  aus*  ihm 
folgende  Naturansicht.  4.  Eigenschaften  des  Räumlichen.  Geometrischer 
My.sticismus  bei  Mathematikern.  Falsche  Seite  der  Idealitätslehre,  n.  Na- 
turvorstellung mit  Rücksicht  auf  die  Eigenschaften  der  Zeit.  Die  Bewe- 
gung als  blosses  Anschauungsbild.     6.  Materie  und  mechanische  Kraft    .       56 

Zweites  Capitel.  Grundgesetze  des  Universums.  1.  Wesen 
des  Naturgesetzes.  Zwei  Classen:  Beharrungsgesetze  und  Entwicklungs- 
gesetze. Die  wiederholten  und  die  einmaligen  Entwicklungen.  Zu- 
spitzung der  Frage  nach  den  Gesetzen  des  Uebergangs  zum  Nichtiden- 
tischen. 2.  Ursprungszustand  des  Universums  als  unabweisliche  Frage. 
Verhältniss  dieser  Fra-^e  zu  der  Unveräjiderlichkeit  der  Grösse  des  Vor- 
raths  an  Materie  und  mechanischer  Kraft.  Antagonismus  als  Grund- 
schema der  Mechanik  des  Universums.  3.  Vergleichuug  unseres  Bildes 
vom  Universum  mit  demjenigen,  welches  nach  den  wüsten  ünendlich- 
keitsvorstellungen  imaginirt  wird.  4.  Ursprünglicher  Zerstreuungszustand 
der  Materie.  Kritisch  möglicher  Sinn  dieser  Vorstellung  5.  Bisherige 
Unzulänglichkeit  der  Entwicklung  der  mechanischen  Wärmetheorie  und 
hieraus  folgende  Minderung  ihrer  jetzigen  Tragweite  für  die  kosmogo- 
nische  Mechanik.  Beispiel  aer  meclianisQhön  Ersetzung  der  Sonnenwärme 
als  Ausgangspunkt,  ß.  UnvoUkomnienheit  der  kosmischen  Entwicklungs- 
vorstellungen. Entschädigung  durch  die  Einsicht,  welche  das  VorurtUeil 
des  Katastrophismus  wegräumt.  Charakter  der  Zukunftsvorstellungen. 
7.  Einheit  der  chemischen  Woltconipo.sition.  Ursprüuglichkeit  der  che- 
mischen Elemente.  Frage  nach  der  Stufenleiter  der  physikalischen  Kraft- 
formen. Charakter  und  Tragweite  der  Gravitation.  Aussichten  bezüglich 
der  Erkenntniss  der  printipiellen  Rolle  der  Wärme 76 


VII 


Seite 


Drittes  Capitel.  Organische  Entwicklungsgesetze.  1.  Ent- 
wicklungs-  und  Fortsclirittstheorie.  2.  Begriff  des  Fortschritts.  Voll- 
kommenlieit  und  Zweck.  Das  Leben  als  Wirkung  der  kosmischen  Cau- 
salität.  3.  Voraussetzung  des  Lebens  auf  andern  Weltkörpern.  Zeitliche 
Bestimmtheit  in  der  Entstehung  der  Empfindung.  Bedeutung  der  abso- 
luten Zeitgrössen  für  alle  Entwicklungsgesetze.  4.  Beschränktheiten  der 
Descenden^ztheorie.  Falscher  Schluss  auf  die  Abstammung  von  einem 
einzigen  Individuum.  5.  Unklarheit  der  Vorstellungen  von  Metamorphose. 
Ersefzung  derselben  durch  den  Gedanken  der  Composition  aus  ursprüng- 
lichen Elementen.  6.  Lamarcks  Princip  der  Abänderlichkeit  der  Arten. 
Darwins  einseitige  Fixirung  der  Idee  auf  die  geschlechtliche  Combination. 
Echte  Brutalität  der  Kampftheorie.  7.  Vermeintliche  Vervollkommnung 
durch  den  Kampf  um  das  Dasein.  Die  wirklichen  Chancen  eines  vor- 
herrschenden Raubkampfes.  Einüuss  einer  passiven  Rolle  der  Weiber. 
8.  Häufung  und  Fixirung  von  Eigenschaften  durch  Vererbung.  Frage 
nach  der  Vernicbtung  von  Formeigenthümlichkeiten  durch  die  geschlecht- 
liche Combination  und  nach  dem  schöpferisch  verändernden  Element  in 
der  Saamen-  und  Eibildung.  Falsche  Rolle  der  sogenannten  Instincte 
und  Ausmerzung  dieser  nebelhaften  Vorstellung.  9.  Gefahr,  mit  der  so- 
genannten EntwTcklung^heorie  in  völlig  unwissenschaftliche  Vorstellungen 
za  gerathen.     Exacter  Sinn  ihrer  Zulässigkeit .     100 

Dritter  Abschnitt. 

Elemente  des  Bewusstseins. 

Erstes  Capitel.  Empfindung  und  Sinne.  1.  Vereinzelung 
des  Bewusstseins.  Chimäre  eines  Universalbewusstseins.  2.  Doppelte 
Causalität,  nämlich  in  den  Productionsfactoren  der  verschiedenen  Bewusst- 
sein,  und  Verkehr  der  letzteren  durch  Sinne  am  Leitfaden  der  Materialität. 
Spiritistische  Verzerrung  einer  sogenannten  Psychologie.  3.  Nothwendig- 
keit  einer  echten  Bewusstseinslehre  im  Gegensatz  zu  einer  blossen  Phy- 
siologie der  Organe.  Thatsächliche  Bornirtheit  der  eigentlichen  Psycho- 
logen. Die  Bewusstseinslehre  als  Hülfswissenschaft  für  reale  und  prak- 
tische Probleme,  nicht  aber  als  beschränkte  und  eitle  Spielerei  der  Selbst- 
bespiegelung.  4.  Objective  Bedeutung  aller  Empfindung  und  kosmische 
Uebereinstimmung  der  einfachen  Empfindungselemente.  Antagonismus 
und  Widerstandsempfindung.  5.  Empfindung  im  Unterschiede  vom 
empfindungslosen  Leben  Nächster  Gegenstand  des  Empfindens.  Wen- 
dung nach  Aussen  auch  schon  in  den  chemischen  Sinnen  vorhanden. 
6.  Empfindung  und  Vorstellung.  Das  Verstandesmässige  ist  in  dem  un- 
willkürlichen Vorstellungsact  in  keinem  andern  Sinne  vorhanden,  als  in 
der  Empfindung.  Fälschuno-  der  Theorie  der  Sinneswahrnehmung  durch 
den  Idolismus.  7.  Einheitliches  Grundgerüst  im  System  der  Sinne.  Wahr- 
nehmung des  mechanischen  Widerstandes  als  durchgängiges  Schema  nach 
Analogie  des  Tastens  und  einer  Art  von  Kraftsinn.  8.  Nothwendigkeit 
und  Emzigkeit  in  der  Art,  die  realen  Vorgänge  durch  subjective  Elemente 
auszudrücken.  Uebereinstimmung  in  den  Bestandtheilen  aller  wirklichen 
oder  möglichen  Innerlichkeit  subjectiver  Existenzen 128 

Zweites  Capitel.  Triebe  und  Leidenschaften.  1.  Trieb- 
förmige  Nothwendigkeiten.  Der  bewusstlose  Mechanismus  als  Grundlage. 
Vermittlung  von  Thätigkeiten  durch  die  Triebempfindung.  2.  Aufklärung 
des  nebelhaften  Instinctbegriffs  in  seiner  Anwendung  auf  den  Menschen. 
3.  Die  Triebempfindung  als  Selbstzweck  und  erst  in  zweiter  Linie  als 
Mittel.  4.  Indirecte  Beschaffenheit  des  Merkmals  natürlicher  Functionen, 
an  welchen  die  Normahtät  der  Triebe  und  speciell  der  Geschlechts - 
erre^ungen  gemessen  wird.  Höherer  Standpunkt.  5.  Tragweite  der  durch 
die  fundamentalsten  Triebe  gegebenen  Anzeigen.  6.  Veredlung  der  Trieb- 
empfindungen  und   Ursprung   der  maassgebenden  Ideale  dieses   Gebiets. 


-    Vlll    - 

Seite 

Systematik  der  Natur  in  den  Triebanlagen  und  Fortführung  ihrer  Ten- 
denzen durch  die  Cultur.  7.  Gruppirung  der  Leidenschaften.  Auferlegte 
Gesetzmässigkeit.  Fälschlich  gebrandmarkte  Erregungen.  8.  Functionen 
der  Natur  in  Affecten  wie  Kache,  Eifersucht-  und  Neid  9.  Wichtige 
Beispiele  zur  Kennzeichnung  einzelner  Affectformen  Universelle  Gestal- 
tung der  Gemüthsbewegungen 151 

Drittes  Capitel.  Verstand  und  Vernunft.  1.  Allgemeine 
Kennzeichnung.  2.  Verstand  und  Ideenassociation.  3.  Verstandesstörun^en 
und  Vorbedingungen  der  Normalität.  Stellung  der  Phantasie.  4.  Wille 
und  sogenannte  psychologische  Freiheit.  5.  Die  Sprache  ein  Mitthei- 
lungswerkzeug,  nicht  aber  eine  Vorbedingung  des  Denkens 178 


/  Vierter  Abschnitt. 

\  ^  l/t^^^  Sitte,  Gerechtigkeit  und  edlere  Menschlichkeit. 

Erstes  Capitel.  Grundgesetze  der  Moral.  1.  Weitester  Sinn 
der  Moral.  2.  Tragweite  ihrer  Principien.  3.  Ableitbarkeit  der  lÖtoral 
aus  dem  Wollen.  Bedeutung  des  natürlichen  Charakters.  4.  Das  Sollen 
als  ein  Verhältniss  zweier  Willen  und  zwar  als  Rückwirkung  einer  Ver- 
letzung. 5.  Verhalten  gegen  die  Bestie  im  Menschen.  6.  Gegenseitigkeit 
als  Voraussetzung  der  positiven  Moral  und  in  der  Rückwirkung  des 
Schlimmen.  Degradation  des  moralischen  Niveau.  7.  Das  feindliche  Ele- 
ment der  menschlichen  Natur  im  Rahmen  positiv  verbindender  Eigen- 
schaften. Moralisch  verleumdete  Affecte.  Verbindende  Naturrogungen. 
'Mitleid.  8.  Ursprünglich  Böses.  Einfache  Grundsätze  über  die  natur- 
gesetzlichen Rück  Wirkungen  des  feindlichen  Verhaltens.  Lüge.  9.  Indi- 
recte  Pflichten.  Moralische  Kunst  des  Einzellebens.  Aufsteigen  zu  den 
höheren  Stufen  der  Lebensenergien.  Normale  Rolle  der  Arbeit.  10.  Ent- 
scheidung zwischen  zwei  Willen  durch  Berufung  auf  den  Verstand.  Rein 
individuelle  Verantwortlichkeit  auf  Grundlage  der  normalen  Empfänglich- 
keit für  bewusste  Beweggründe      . , •     192 

Zweites  Capitel.  Natürliche  Auffassung  des  Rechts.  1.  Der 
gegen  die  Gerechtigkeit  gleichgültige  RechtsbegriflF.  Sinn  der  Einheit  und 
der  Unterscheidbarkeit  von  natürlichem  und  positivem  Recht.  Zwangs- 
recht und  Gewissensmoral.  2.  Hauptgegenstand  der  Rechtsgelehrsamkeit. 
Herabgekommenheit  auf  ein  unpolitisches  isolirtes  Privatrecht.  3.  Fun- 
damentales Recht.  Rache  als  Naturgrund  und  Ausgano;spunkt.  4.  Kluft 
zwischen  Abschreckung  und  Gerechtigkeit.  5.  Oeffentliche  Rache  mit  poli- 
tischen Organen.  6.  Das  über  der  geschichtlichen  und  thatsächlichen 
Zufälligkeit  waltende  Princip  Ergänzung  einer  mangelnden  Rechtshülfe 
durch  die  Selbstverfolgung  aer  Unbilden.  7.  Das  Maass  in  der  Wirkungs- 
art der  Rache.  Grossmuth  und  Gnade.  8.  Verhältniss  des  Vergeltungs- 
princips  zu  den  schöpferischen  Rechtsverbindungen.  Geschlechtszwang 
und  Zwangsehe.  9.  Gewalteigenthum  im  Gegensatz  zu  positiv  mensch- 
lichen Vereinigungsgebilden • 219 

Drittes  Capitel.  Bessere  Menschheitsausprägung.  1. Natür- 
liche mit  der  Geburt  gegebene  Beschaffenheit  des  Menschen.  Förderung 
und  Ausmerzun^  der  Eigenschaften.  Moralische  und  physische  Verwesung 
in  der  Ungerechtigkeit  eines  egoistischen  Kampfes  um  das  Dasein.  2.  Die 
doppelseitige  Liebe  als  Kennzeichen  heilsamer  Geschlechtsverbindungen 
und  als  Ausgangspunkt  humaner  Affecte  3.  Die  Philanthropie  in  ihren 
schwächlichen  Ausdrucksformen.  4.  Beseitigung  der  Todesstrafo  als  eines 
Gerechtigkeitsactes.  5.  Humanisirung  des  Strafprincips.  Vorbeugende 
Mittel.  Ablenkung  von  gegenseitigen  Störungen  durch  Richtung  der 
Kräfte  auf  unmittelbare  Arbeit  an  der  Natur.  6.  Ueberwiegen  der  direct 
schaffenden  Kräfte.  Gestaltung  dos  Idealmenschen  in  Fleisch  und  Blut, 
statt  blos  in  Marmor.  Der  Leichnam  des  Philologenhumanismus.  7,  Ge- 
reifte,   von    '1'^"     Ali^ntvlit-it.Mi     /n    bcfn'iond.^   Pn.-^io    und    ]>hysiologische 


-    IX    - 

Steif^erung  der  Lebensgefühle.  8.  Sprache  als  Ausdruck  und  Hülfsmittel 
edlel-er  Menschlichkeit.  Gesellige  Benehmungsart  und  materiell  smnhche 
Ausschweifungen 

p   ,.^^^  Fünfter  Abschnitt. 

^,tL  \\V^  Gemeinwesen  und  Geschichte. 

Erstes  Capitel.  Freie  Gesellschaft.  1.  Rückständigkeit  der 
Politik  als  Wissenschaft.  Schema  zur  Ableitung  der  _  Fundamentalprin- 
cipien.  2.  Unterdrückungs-  und  Gewaltstaat  der  Geschichte  im  Gegensatz 
zur  freien  Gesellschaft  der  Zukunft.  3.  Macht  der  Vielheit  noch  kein 
Recht  gegen  den  Einzelnen.  Verhinderung  der  freien  politischen  Vereini- 
gungen das  Grundprincip  des  Gewaltstaats  4.  Einmischungsfunction 
der  Vielheit.  Chancen  einsichtsvollerer  Gerechtigkeit.  Richterliclie  Func- 
tion aus  einem  auf  Schutz  gerichteten  Bündniss  im  Gegensatz  zu  dem 
aufgezwungenen  Richterthum  des  Unterdrückungsstaats.  5.  Keine  Theilung 
der  wesentlichen  politischen  Functionen  und  namentlich  nicht  der  Waffen- 
führung. 6.  Wesentliche  Unübertragbarkeit  der  Rechtswahrnehmung  in 
Gesetzgebung  und  Gerichtswesen.  Einschränkung  des  Erfordernisses 
specialistischer  Sachverständigkeit.  7,  Gelehrtes  Recht^  mit  der  Richter- 
souverainetät  des  Volksindividuums  unverträglich.  Specialistische  Wissen- 
schaft als  blosses  Hülfsorgan,  ohne  autoritäre  Verkörperung  in  privilegir- 
ten  Richterpersonen.  8.  Zurückführung  aller  politischen  Functionen  auf 
hinreichend  kleine  Grundvereinigungen.  Regelung  des  materiellen  Existenz- 
rechts und  des  positiven  wirthschaftlichen  Zusammenwirkens.  0.  Func- 
tionäre  des  Wirthschaftsrechts.  Bestimmung  der  technischen  Leiter. 
Ausgangspunkt  von  der  allgemeinen  Schule,  Gleichheit  der  allgemeinen 
Bildung.  10.  Wegfall  alles  Cultus  und  der  zugehörigen  sonstigen  Ein- 
richtungen. Kein  Eid  und  auch  kein  Surrogat  desselben.  An  Stelle 
vereinzelter  milder  Stiftungen  eine  vollständige,  nicht  auf  den  Bettel  ge- 
gründete Organisation.  11.  Kleinere  politische  Einheiten  im  Rahmen  des 
Gewaltstaats.  J^ifijjjniliß-als  ein  ursprünglich  politisches  Gebilde.  Zu- 
sammengehörigkeit der  Zwangsehe  und  des  Gewaltstaats.  12.  Einseitig- 
keit und  Ungleichheit  des  Eherechts.  Natürlich  geschichtliche  Bedeutung 
des  Ehebruchs  in  der  Zwangsehe.  13.  Wegfall  der  wirthschaftlichen  In- 
teressen und  besondere  Schutzrücksichten,  durch  welche  die  Zwangsehe 
auch  für  den  gezwungenen  Theil  in  der  Unterdrückungsgesellschaft  als 
eine  Nothwendigkeit  erscheint.  14.  Vollberechtigung  der  Frauen  im  Ge- 
meinwesen  

Zweites  Capitel.  Geschichtsauffassung  und  Civilisation, 
1.  Bisheriger  Mangel  einer  rationellen  Geschichtsauffassung.  Der  schöpfe- 
rische Fortschritt  als  Wesen  der  Geschichte.  2.  Geistige  Regsamkeit  als 
entscheidendste  Bewegungskraft  der  Geschichte.  Ein  Gesichtspunkt  zur 
Ausgleichung  mit  den  missliebigen  Thatsachen.  3.  Das  Bisherige  als  eine 
besondere  Aera  Einleitende  und  prophetische  Stellung  der  Französischen 
Revolution  für  eine  zweite  Grundgestalt  des  Menschenschicksals.  Zusam- 
mengehörigkeit von  Gewaltstaat  und  Revolution  in  der  Uebergangs Wen- 
dung. 4.  Gesetz  der  Umwandlung  und  des  Todes  politischer  Gebilde. 
Staaten-  und  Völkertod.  5.  Verfassungswandlungen.  Entkleidung  des 
Gewaltstaats  von  allem  sittlichen  Schein.  Der  ihm  dienstbare  Historismus 
und  die  echte  Geschichtswissenschaft,  6.  Untergeordnete  Verfassungs- 
gestaltungen gemischter  und  haltloser  Art.  Charakter  .des  Cäsarismus 
und  seiner  Spielarten.  7.  Bedeutung  und  Bedeutungslosigkeit  derlhei-vor- 
ragenden  Individualitäten  je  nach  der  Artung  ihrer  Kräfte.  8.  Geschichts- 
romantik im  weiteren  und  engeren  Sinne,  sowie  in  der  Richtung  auf  das 
Schlechte  oder  Gute  9.  Unstetigkeit  in  der  durch  den  Völkertod 
unterbrochenen  Abfolge  der  Volksexistenzen.  Realer  oder  blos  ideeller 
Zusammenhang.     10.  Aufsammlung  der  Bildungstrü ramer  todter  Völker. 


Seit« 
243 


263 


-     X     - 

Falsche  Aufpfropfungen.  11.  Der  moderne  Staat  mit  seiner  absorbirenden 
Centralisation  als  blosse  Vorläufigkeit  der  Geschichte.  1-^  Zukunftsschick - 
saie  der  Oentralisationen  aller  Art.  13.  Schwächung  der  Brittischen  Han- 
dels- und  Industriecentralisation  als  Beispiel.  Die  politischen  Oentralisa- 
tionen der  heutigen  Culturvölker.  Auswärtige  Chancen.  Antretung 
der  Centralisationserbschaft  durch  die '  innerlich  befreienden  Volkskräfte. 
14.  DieVerzweigungen  der  innern  Centralisation  Angesichts  der  geschicht- 
lichen IJebergangsaufgaben.  Centralistisches  Polizeiwesen  und  zugehöriges 
Schulmonopol.  15.  Justiz- und  Militaircentralisation.  16.  Das  Maass  der 
Vereinigungsfähigkeit  als  Maass  der  Cultur.  Wirthschaftliche  Seite  dieses 
Maassstabes.  17.  Politische  Seite.  18.  Unterschied  von  Civilisation  und 
Cultur.  Gewaltcivilisation.  Heutige  Lage  Angesichts  der  Vergangenheit 
und  Function  der  kommenden  Geschichte 297 

-• 

Sechster  Abschnitt. 

Individnalisirung  und  Wertlisteigerung  des  Lebens. 

Erstes  Capitel.  Ursachen  des  Pessimismus.  1,  Markirtes 
Wiederhervortreten  pessimistischer  Neigungen  im  19.  Jahrhundert.  Erin- 
nerung an  Byron,  Schopenhauer  und  Heine.  2.  Gescllscliaftszustände 
Brittischer  Art  als  Ausgangspunkte  für  pessimistische  Auslegungen. 
Malthusisch  -  Darwinistischer  Kampf  um  das  Dasein.  3.  Falscher  und 
wahrer  Optimismus.  Der  mit  idealem  Entrüstungspessimismus  verbundene  . 
Optimismus  von  Bruno,  Rousseau  und  Shelley.  4,  Politischer  und  socialer 
Pessimismus.  5.  Universeller  Weltpessimismus  mit  einer  Flucht  ins  Jen- 
seits oder  Nichts.  6.  Gesellschaftlicher  Fauliingspessimismus  von  frivolem 
Charakter.     Geschichtlicher  Hintergrund 341 

Zweites  Capitel.  .  Schätzung  der  Lebenselemente.  1.  Aus- 
gangspunkte der  Würdigung  alles  empfindenden  Daseins.  Steigerung  des 
positiven  Lebensgehalts  auf  den  höheren  Stufen.  2.  Die  Wurzeln  des 
IJrtheils  über  Werth  und  Unwerth  des  Lebens  sind  im  Wollen  selbst  zu 
suchen.  Vernachlässigung  der  moralischen  Leiden  durch  den  gemeinen 
Corruptionspessimismus.  3.  Rolle  der  natürlichen  Widerstände  in  der 
Entfaltung  der  Lebensbethätigungen.  Gesetz  der  Differenz.  Erheblich- 
keit des  Uebergangs  zu  neuen  Lagen.  4.  Negative  und  positive  Wirkung 
des  Ideals.  Berücksichtigung  des  Maasses  subjectiver  Ansprüche,  das  den 
unentwickelten  oder  verdorbenen  Zuständen  entspricht.  5.  Reiz  des  Ein- 
maligen und  Befriedigung  des  Lebens  durch  dessen  Erprobung  selbst. 
Vergieichung  alier  Arten  von  Störungen  mit  denen  der  Gesundheit    .     .     355 

Drittes  Capitel.  Entwicklung  und  Erhöhung  der  Daseins- 
reize. 1.  Zusammenhang  des  Privaten  und  des  Politischen  in  den  Chancen 
des  Einzelglücks.  2.  Princip  der  Individualisirung  und  Variation  der 
Reize.  3.  Grundregel,  nichts  ohne  wahrhaftes  Interesse  zu  thun.  4.  Reize 
der  beiden  äussersten  Lebensalter.    Gestaltung  des  Lernens.     5.  Die  Auf- 

faben  des  vollen  Lebens,    Beziehungen  der  Geschlechter.    Materielle  Pro- 
uction.     6.   Einwirkung  der  universellen  Lebensansichten.     Aesthetische 
Reize.    Geistige  Diät 368 

Siebenter  Abschnitt. 

Sooialisimng  aller  Qesammttliätigkeiten. 

Erstes  Capitel.  Physiologische  und  materielle  Existenz. 
1.  Allgemeine  Aufgabe.  2.  Bedeutung  der  Raoen-  und  Stammesverschie- 
denheiten für  die  Gruppirungen.  3.^ntormischung  mit  dem  jüdifidlgn 
filem(^nt  4.  S''  '  '  •  '  ''  ^ci^  5.  Nalurlu^hö  Grul^ptfung  und  bewusstes 
in  wirken  auf  isch  gute  Beschaffenheit  des  werdenden  Ge- 

schlcciits.     6.   S i  .wailic.     7.   Sicherung  der   materiollen  Unter- 


—    XI    — 

Seite 

lagen  für  alle  gesellschaftliclien  Bedürfnisse  unter  Beseitigung  des  Nah- 

rungskrieges  und  der  egoistischen  Interessengestaltung 386 

Zweites  Capitel.  Geistige  Institutionen.  1.  Möglichkeit 
einer  tieferen  Moral  Angesichts  eines  besseren  Rechts.  Individuelle  Ver- 
antwortlichkeit. 2.  Befreiung  der  Moral  von  der  Einmischung  religiöser 
Voraussetzungen.  3.'  Wegfall  jedes  religiösen  Cultus.  4.  Mitbeseitigung 
der  secundären  Cultuseinmischungen  in  die  einzelnen  Lebensacte,  Ver- 
urtheilung  aller  Surrogate  und  positive  Ausbildung  rein  menschlicher 
Formen  für  die  Hauptereignisse  des  Lebens.  5.  Mittheilungsart  der  Welt- 
und  Lebensanschauung.  Literatur  und  Presse.  6.  Lehrstoff  der  einheit- 
lichen und  gleichen  Schule,  Sinn  des  Sprachunterrichts.  7.  Hinweisung 
auf  die  systematische  Gestaltung  der  realistischen  Lehrstoffe.  Mathematik 
und  Naturwissenschaft.  8,  Physiologie  und  Gesundheitslehre.  Rechts- 
kenntniss.  Stellung  der  eigentlichen  Erziehung.  9.  Functionen  der  Kunst 
und  Poesie.  Uebereinstimmung  mit  der  neuen  Welt-  und  Lebens- 
anschauung. 10.  Günstigere  Verliältnisse  für  die  Kunst  und  für  die  uni- 
verseUe  Veredlung  der  Sprache.  11.  Ersatz  der  vielerlei  Grammatik  durch 
die  logischen  Elemente  des  eig-nen  Sprachbaues.  Philosophische  Vertie- 
fung und  Schürfung  aller  Bildung.  12.  Elemente  der  Philosophie  und 
Affect  der  Lebensauffassung 401 

Achter  Abschnitt. 

Wissenschaft  und  Philosophie  in  der  alten  und  in  der  neuen 
Gesellschaft. 

Erstes  Capitel.  Erfahrungen  der  Geschichte.  1.  Wechsel- 
verhältniss  von  Freiheit  und  Wissen.  Geschichtlicher  Hintergrund  im 
Druck  des  Asiatismus.  Jugendlicher  Aufschwung  des  Griechenthums. 
2.  Schicksale  der  Griechischen  Philosophie  und  der  Ansätze  zur  strengen 
Wissenschaft.  Eminent  classische  Jahrhunderte  und  erstickende  Alexan- 
drisirung.  3.  Geseilschaftlicli  günstige  Umstände  sogar  inmitten  der  älte- 
ren Griechischen  Corruption.  Freie  Gründungen  der  Lehrstätten.  Con- 
trast  mit  der  weltgeschichtlichen  Geistesrohheit  des  Römerthums.  4.  Er- 
gänzung des  Despotismus  durch  eine  Knechtsreligion.  Nacht  des  Mittel- 
alters. Auferweckung  der  Wissenschaft  und  Philosophie  in  Italien. 
5.  Kirchliche,  ökonomische  und  politische  Unterbindungen  der  Wissen- 
schaft und  Philosophie'  In  den  neuern  Jahrhunderten.  tJ.  Die  Englische 
Revolutionszeit  in  ihrem  Zusammenhang  mit  der  eignen  und  der  später 
nach  Frankreich  übertragenen  Bildung.  7.  Die  Lage  auf  dem  Festmnde 
zur  Zeit  der  Encyklopädisten  und  die  gleichzeitige  politische  Anomalie 
bei  Hume.  8.  Die  Humeschen  Schicksale  in  Beziehung  auf  die  äussern 
Vorbedingungen  der  Philosophie.  Rückständigkeit  Deutschlands  als  Er- 
klärungsgrund für  die  gleichzeitige  Professor-  und  Philosophenrolle  Kants. 
9.  Ablenkender  und  zweideutiger  Charakter  jeder  sich  blos  mit  Verstandes- 
kritik befassenden  Art  des  Philosophirens.  10.  Einmischung  der  super-« 
stitiosen_  Denkweise  sogar  in  die  strengsten  Theile  des  Naturwissens.' 
Hindernisse  emancipirender  Consequenzenziehung 431 

Zweites  Capitel.  Verhältnisse  der  Gegenwart.  1.  Poli- 
tischer Rahmen.  Technisches  Schaffen.  2.  Romantisch  restaurative  Verun- 
staltung der  Halbwissenschaften  und  der  Philosophie.  3.  Hemmende  Rolle 
der  wissenschaftlichen  Körperschaften.  Akademien,'  4.  Zustände  der 
Universitäten.  5.  Philosophische  Facultäten  insbesondere.  6.  Die  ihnen 
angehörigen  Priester  zweiter  Classe.  7.  Treiben  derselb*fen.  8.  Unzuläng- 
lichkeit im  eignen  Handwerk.  9.  Schlechte  Rückwirkung  auf  Mathematik 
und  Naturwissenschaft.  10.  Allgemeine  Rolle  der  universitären  Zustände 
1^  den  strengeren  Wissenschaften.  11.  Allgemeinere  Einflüsse  des  Ge- 
sellschaftszustandes auf  Wissenschaft  und  Philosophie.  Corruptive  und 
pessimistische  Ablenkungen.     12.  Emancipatorische  Denkercharaktere  in 


-  xn  — 

Seite 

hervorragender   Ausnahmsstellung.      13.   Uebergang    der   entscheidenden 
Wissenschaftscultur   an  diejenigen,    welche  dem   körperschaftlichen   und 

materiellen  Bann  Trotz  bieten 456 

Drittes  Capitel.  Umschaffende  Grundlegung.  1.  Vorläufige 
Erl;.  Uterungen  durch  Vergleichung  mit  den  alten  Verhältnissen.  Völlige 
ümkehrung  in  der  Werthschätzung  der  Universitätsfacultäten.  2.  Ord- 
nung der  philosophischen  Fächer  im  weiteren  Sinne  des  Worts.  Vereini- 
gung der  strengen  Wissenschaften  mit  den  Antrieben  der  Wirklichkeits- 
philosophie. ;l  Uebrige  Gelehrsamkeitszweige.  Negativer  Charakter  ihrer 
Functionen.  Schicksal  der  Studienmonopole.  4.  Vortheile  eines  Zwischen- 
reichs von  Reformen,  welches  zunächst  die  üblen  Rückwirkungen  der 
universitären  Missstände  auf  die  Functionäre  des  Staats  und  der  Gesell- 
schaft mindert.  5.  Züge  derartiger  schlimmer  Rückwirkungen  im  höhe- 
ren Schulunterricht,  b.  Ausgangspunkte  eines  natürlichen  Entwurfs  uni- 
verseller Bildung,  erläutert  an  der  Aufgabe  der  Einführung  des  weiblichen 
Geschlechts  in  die  Wissenschaften.  7.  Universalbildung  in  der  neuen 
Gesellschaft.  8.  Abschliessende  Vollständigkeit  des  in  diese  Bildung  ein- 
tretenden Wissens  strenger  Art.  9.  Doppelseitiger  Ausgangspunkt  der 
für  die  Bildungswissenschaft  maassgebenaen  Methode.  Einschränkung 
des  blossen  Beschreibungsstoffs.  10.  Besonderer  Inhalt  des  Systems  der 
universellen  Bildungswissenschaft  im  Hinblick  auf  deren  philosophische 
Vollendung.  11.  Wissenschaftliche  Voraussetzungen  der  Philosophie  der 
menschlichen  Verhältnisse.  12.  Bedeutung  und  Function  der  letzten,  die 
Welt-  und  Lebensvorstellung  abschliessenden  Einsichten 490 

Schluss. 

Studium  und  Entwicklung  der  Wirkliohkeitsphilosoplile. 

1.  Nothwendigkeit  besonderer  Orientirung  über  die  individuelle  Ge- 
stalt der  Wirklichkeitsphilosophie.  2.  -Ergänzung  des  rein  theoretischen 
Theils  durch  mathematisch  mechanische  Grundlagen  und  Ausführungen. 
Function  und  Stellung  einer  eigentlichen  Wissenschaftstheorie.  3.  Studium 
des  zur  Wirklichkeitsphilosophie  gehörigen  Systems  der  Volkswirthschafts- 
lehre.  4.  Eigne  socialtheoretische  Grundlagen  in  besondern  Werken. 
üT  Bedeutung  des  juristischen  Fachstudiums  für  die  naturrechtlichen,  po- 
litischen una  ökonomischen  Theile  des  Systems.  6.  Das  Urtheil  über  den 
Werth  -des  Lebens  in  der  Stellung  zum  Ganzen.  Verhältniss  des  Systems 
zur  Kritischen  Geschichte  der  Philosophie.  Ergänzung  der  letzteren  durch 
die  eignen  Geschichtswerke  über  Specialwissenschaften.  7.  Entlastung 
des  Studiums  von  überflüssigen  Stoffen.  Selbstbeschaffung  der  realen 
Hülfskenntnisse.  8.  Aufmerksamkeit  auf  die  unterscheidenden  Eigen- 
thümlichkeiten  der  neuen  Philosophie.  Thatsächliche  Bekundung  der  von 
ihr  vertretenen  Gesinnung  in  dem  Leben  ihres  Urhebers.  9.  Aeussere 
Stellung  des  wirklichen  Philosophen  zur  universitären  Philosophie.  10.  Ent- 
wicklung der  äussern  Wirkungen  des  Systems.  11.  Zusammenhang  der 
Auffindung  eijTeuthümiicher  Lehren  und  Lösungen  mit  Gesinnungsantrier 
ben.  12.  Beispiele  von  besonders  zu  markirenden  eignen  Ideen  und 
Sätzen 525 


Schriften  desselben  Verfassers   ." 500 


Einleitung. 


I.    Bedeutung  der  Philosophie. 

Als  erste  und  natürlichste  Angelegenheit  muss  dem  Lernenden  im 
Eingang  die  Frage  erscheinen,  was  der  Gegenstand,  dem  er  sich 
hingeben  will,  eigentlich  sei  und  bedeute.  Eine  kurze  Beantwortung 
der  Frage,  was  Philosophie  sei,  entspricht  jedoch  nicht  blos  dem 
Bedürfniss,  das  genauere  Bekanntwerden  mit  einer  neuen  Sache  regel- 
recht vermittelt  zu  sehen,  sondern  hat  auch  ausserdem  einen  weiter- 
greifenden Sinn.  Solange  über  das  Wesen  einer  geistigen  Bestre- 
bung in  erhebHcher  Weise  gestritten  werden  kann,  und  solange  die 
weltgeschichtliche  Entwicklung  einer  ideellen  Macht  noch  nicht  die 
entscheidende  Seite  der  letzteren  vor  Aller  Augen  gebracht  hat,  wird 
die  Bestimmung,  was  diese  Macht  in  ihrer  tieferen  Anlage  sei  und 
wohin  sie  führe,  zu  denjenigen  Rechenschaften  gehören,  mit  denen 
derjenige,  der  die  Vertretung  dieser  Macht  in  seiner  Zeit  und  für 
die  zunächst  absehbare  Entfaltung  derselben  in  Anspruch  nimmt, 
von  vornherein  über  seinen  Beruf  entscheidet. 

Es  ist  daher  etwas  mehr  als  die  Rücksicht  auf  eine  ordnungs- 
mässige  Begriffsbestimmung,  was  uns ,  die  Erledigung  jener  ersten 
Grundfrage  werthvoll  macht.  So  kurz  auch  die  Formulirung  aus- 
fallen möge,  in  welcher  wir  die  eigenste  Natur  der  Philosophie  aus- 
zudrücken unternehmen,  so  wird  sie  doch  Entscheidungen  und  Auf- 
schlüsse enthaltien,  die  über  mehr  als  einen  Hauptpunkt  zuverlässige 
Angaben  darbieten  und  über  die  maassgebende  Richtung  keinen 
Zweifel  lassen.  Für  uns  und  die  uns  bevorstehenden  Epochen  ist 
die  Philosophie  nicht  mehr  vorwiegend  eine  ruhende  Weltanschauung, 
sondern  wesentlich  ein  rastlos  thätiges  Princip  allseitiger  Gestaltung 

Du  bring,  Cursus  der  Philosophie.  1 


des  Lebeus.  Hiemit  ist  der  reformatorische  Beruf,  den  die  höchste 
der  ideellen  Mächte  zu  üben  hat,  als  unablegbares  Kennzeichen  ihres 
titiferen  Wesens  hingestellt.  Auch  lässt  es  sich  in  der  That  nicht 
denken,  wie  auf  die  Dauer  dieser  charaktervollste  Grundzug,  der  den 
besten  Erscheinungen  des  Gebiets  nie  ganz  gemangelt  hat,  in  einer 
Epoche  verborgen  oder  auch  nur  im  Hintergrunde  bleiben  sollte,  in 
v^^elcher  sich  eine  Weltwendung  aller  Zustände  immer  mächtiger 
anbahnt. 

Philosophie  ist  die  Entwicklung  der  höchsten  Form  des  Bewusst^ 
seins  von  Welt  und  Leben.  Dieser  einfache  Satz  sagt  sehr  viel, 
wenn  wir  den  Einzelheiten  seiner  Gedanken  auftnerksam  folgen.  Er 
spricht  überdies  nicht  nur  durch  das,  was  er  ausdrücklich  enthält, 
sondern  auch  durch  das,  was  er  grundsätzlich  weggelassen  hat.  So 
ist  in  ihm  absichtlich  nur  einfach  vom  Bewusstsein  und  nicht  etwa 
vom  menschlichen  Bewusstsein  die  Rede.  Es  würde  nämlich  in  der 
That  eine  ungerechtfertigte  Einschränkung,  um  nicht  zu  sagen  eine 
Herabwürdigung  der  Grundgestalten  des  Bewusstseins  und  Wissens 
sein,  wenn  man  ihre  souveraine  Geltung  und  ihren  unbedingten  An- 
spruch auf  Wahrheit  durch  das  Epitheton  menschlich  ausschliesseu 
oder  auch  nur  verdächtigen  wollte.  Eine  endgültige  Wahrheit  letzter 
Instanz  kann  nicht  gedacht  werden,  sobald  die  letzten  und  allge- 
meinsten Formen  des  Erkennens,  wie  wir  sie  in  der  uns  bekannten 
Art  des  Denkens  finden,  nicht  auch  zugleich  die  Constitution  und 
die  Elemente  alles  sonstigen  Wissens  ausmachen,  welches  wir  neben 
dem  unsrigen  in  andern  Wesen  voraussetzen  mögen.  Ohrie  also 
darüber  absprechen  zu  wollen,  in  welcher  Art  und  wie  hoch  das 
Bewusstsein  irgendwo  entwickelt  sein  oder  irgendwann  erweitert  und 
gesteigert  werden  möge,  müssen  wir  doch  darauf  bestehen,  dass  jeg- 
liche Form  des  Denkens  und  Erkennens  nm*  ein  schlechter  Spass 
und  eine  offenbare  Thorheit  sein  würde,  wenn  sie  nicht  aus  ein- 
fachen Elementen  bestände,  die  in  allem  nur  irgend  annehmbaren 
Wissen  eine  und  dieselbe  Rolle  spielen  und  in  vei*schiedenen  Mischun- 
gen die  Factoren  einer  und  derselben  Wahrheit  bilden.  Sogar  die 
Abstufungen,  die  wir  uns  bei  der  Betrachtung  der  thierischen  Be- 
wusstseinsreihe  auch  m  anderer  Richtung  mit  einigem  Schein  ent- 
werfen mögen,  verlieren  ihre  einschränkende  Kraft,  sobald  wir 
bedenken,  dass  alle  Erdichtungen  höherer  Intelligenzen  nur  Combina- 
tionen  aus  den  allgemeinsten  Bestandtheilen  unserer  eignen  Einsichts- 
art sein  können.   Wir  mögen  in  unserm  eignen  Be^vusstsein  Unter- 


—     3     — 

Scheidungen  treffen  und  eine  Aussonderung  der  höheren  Denkmittel 
vornehmen;  —  wir  werden  aber  doch  niemals  dazu  gelangen,  die 
Reibe  der  Voraussetzungen  abzukürzen  und  jene  schattenhafte  Er- 
dichtung einer  Intelligenz  festzuhalten,  in  welcher  die  höheren 
Functionen  unmittelbar  und  ohne  die  Hülfe  der  gewöhnKchen  uns 
bekannten  Vorbedingungen  das  Wesen  der  Dinge  zu  erfassen  ver- 
möchten. 

An  das  einfache  Wort  Bewusstsein  hat  sich  in  unserer  Defini- 
tion der  Philosophie  noch  eine  weitere  Bemerkung  anzuschliessen. 
Es  bedeutet  der  diesem  Wort  entsprechende  Begriff,  wenn  er  in 
seiner  ganzen  Weite  gefasst  wird,  nicht  blos  das  theoretische  und 
gleichsam  ruhende  Wissen,  sondern  auch  die  Empfindungen  der 
Triebkräfte,  in  denen  das  Wollen  seinen  bewussten  Ausdruck  erhält. 
Das  Bewusstsein  umfasst  hienach  die  Verzweigungen  des  Wissens 
und  die  Richtungen  des  Strebens.  Die  Philosophie  hat  demgemäss 
nicht  nur,  wie  schon  vorher  angedeutet,  eine  doppelte  Aufgabe,  son- 
dern es  entsteht  für  sie  auch  die  Frage,  in  welcher  Richtung  die 
vollständige  Vereinigung  dieser  Doppelrolle  zu  suchen  sei.  Als  Wissen- 
schaft und  als  Gesinnung,  als  Weltanschauung  und  als  Lebensge- 
staltung, als  zurückgezogene  Speculation  und  als  praktisch  eingrei- 
fende^acht  kann  die  Philosophie  doch  immer  nur  von  einheitlichem 
Wesen  sein,  wie  es  die  Welt  und  das  Denken,  das  Leben  und  der 
Mensch,  die  Thatsachen  und  die  Ideen  selber  sind.  Die  Philosophie 
als  Besinnung/  ist  eine  Fortpflanzung  der  Motive  edlerer  Menschlich- 
keit; sie  schafft  an  den  Idealen  der  Humanität  und  hegt  die  grossen 
Conceptionen,  in  denen  das  höchste  Wollen  der  Menschheit  gipfelt. 
Die  Philosophie  als  yWissenschaft/  ist  theils  Hervorbringung,  theils 
Aufnahme  derjenigen  Einsichten,  durch  welche  die  Welt  und  das 
Leben  klar  übersichtlich,  die  Principien  der  Vorgänge  verständlich 
und  die  Abfolgen  der  unserer  Kraft  erreichbaren  Zustände  für  die 
verstandesmässige  Leitung  zugänglich  werden.  Die  Gesinnung  veredelt 
sich,  indem  die  natürlichen  Triebkräfte  des  Wollens  ihr  Maass,  ihre 
gegenseitige  Begrenzung  und  ihren  sich  selbst  am  meisten  befriedi- 
genden Gehalt  finden  lernen.  Die  Wissenschaft  wächst,  indem  die 
Functionen  des  Verstandes  zur  Bethätigung  gelangen  und  diejenigen 
Vorstellungen  ins  Dasein  rufen,  vermöge  deren  die  Welt  der  Dinge 
und  die  Welt  der  Gedanken  die  ebenmässigste  Einheit  ergeben.  Das 
Bewusstsein  vom  Leben,  im  Sinne  eines  durch  höchste  Einsicht  und 
grösste  Wirkungsfähigkeit  gesteigerten  Lebensgefühls,  ist  nun  aber 

1* 


—     4     — 

stets  auf  die  universellen  Aussichten  alles  Strebens  gerichtet,  und  so 
erklärt  es  sich,  dass  in  der  Philosophie  die  herrschende  und  ursprüng- 
lichste Macht  das  Interesse  an  einer  mit  dem  höchsten  Maass  von 
Wissen  beleuchteten  Lebensenergie  sein  muss.  Diese  letztere  Energie 
selbst  ist  nun  aber  in  ihren  höheren  Combinationen  von  dem  Schick- 
sal abhängig,  dem  die  Thätigkeiten  des  Denkens  anheimfallen,  und 
die  Functionen  der  Intelligenz  sind,  soweit  sie  sich  auf  Triebe  und 
Leidenschaften  beziehen,  unverkennbar  selbst  die  Formen,  in  denen 
das  bewusstere  Leben  seiner  selbst  und  der  universellen  Tragweite 
des  Empfindens  inne  wird.  Hiemit  ist  aber  schon  ausgesprochen, 
dass  es  im  letzten  Grunde  nur  eine  einheitliche  Form  des  Bewusst- 
seins  gebe,  und  dass  mithin  die  philosophische  Gesinnung  der  voll- 
ständige Ausdruck  von  dem  sei,  wodurch  Welt  und  Leben  im  Inner- 
sten bewegt  werden.  Handeln  und  Denken,  Wollen  und  Wissen, 
active  Regung  und  passive  Spiegelung  sind  hier  nur  zwei  Theile 
eines  und  desselben  Hergangs.  Wohl  aber  kann  man  auf  den  nie- 
deren Stufen  der  Entwicklung  ein  einseitiges  Vorherrschen  des  un- 
au%eklärten  WoUens  und  daher  eine  durch  den  Contrast  gesteigerte 
Bedeutung  der  Gesinnung  einzelner  Vertreter  des  Denkens  und  edler 
Lebenshaltung  wahrnehmen.  Die  Gesinnung  aber,  die  wir  heute  als 
den  Hauptfactor  lebendiger  Philosophie  fordern,  ist  nicht  mehr  blos 
privater  Natur,  sondern  betrifft  die  coUective  Erleuchtung  und  Rich- 
tung des  menschhchen  Wollens.  Diese  Gesinnung  kann  ohne  die 
Wissenschaft  gar  nicht  gedacht  werden;  denn  es  sind  die  ursprüng- 
lichen, der  befriedigenden  Gestalt  noch  ermangelnden  Antriebe  gleich- 
sam erst  das  Rohmaterial,  an  und  mit  dem  die  sich  allmälig  ent- 
wickelnde, schliesslich  durch  strenge  Wissenschaft  geleitete  Intelh- 
genz  arbeitet. 

So  wichtig  es  ist,  einer  in  Scholastik  vertrocknenden  und  in 
Unselbständigkeit  sich  corrumpirenden  Scheinphilosophie  gegenüber 
die  Gesinnung  und  Lebenshaltung  einzelner  grosser  Denkercharaktere 
hervorzuheben,  so  würde  es  doch  den  natürlichen  Gang  der  Dinge 
verleugnen  heissen,  wenn  man  im  Ganzen  und  namentUch  für  die 
jetzt  anbrechende  Aera  der  Weltgeschichte  den  Errungenschaften  des 
Wissens  die  zweite  Rolle  anweisen  wollte.  Die  Wissenschaft  und 
der  Verstand  in  seiner  praktischen  Bethätigung  sind  diejenigen 
Machte,  auf  welche  die  freiere  Gestaltung  des  Menschheitsschicksals 
an  erster  Stelle  zu  rechnen  hat.  Aus  den  Völkerphg,ntasien ,  die 
unter  den  Antrieben  der  von  mange\nder  oder  falscher  Einsicht  irre- 


geleiteten  Gemüthsmächte  arbeiteten,  sind  Weltansichten  und  Lebens- 
formen hervorgegangen,  deren  fernere  Unhaltbarkeit  gegenwärtig 
klar  eingesehen  werden  kann.  Das  fehlgreifende  Gemüth  des  noch 
kindisch  vorstellenden  Menschen  hat  seine  Rolle  so  ziemlich  aus- 
gespielt, und  es  lässt  sich  wenigstens  eine  Zeit  absehen,  in  welcher 
die  höchst  entwickelten  Theile  der  Menschheit  jene  üeberheferungen 
vollständig  abgestreift  und  mit  einem  wahreren  Zustande  vertauscht 
haben  werden.  Für  diesen  neuen  Zustand  müssen  nun  Verstand  und 
Wissenschaft  die  früheren  Einbildungen  ersetzen  und  ausserdem  das 
leisten,  was  dem  verstandlosen  Gemüth  trotz  seiner  gewaltigen  An- 
sprüche und  angeblichen  Hülfen  niemals  gelungen  ist.  Die  Ohn- 
macht aller  Systeme,  welche  einzelne  Yölkergruppen  und  zuletzt  den 
höher  civilisirten  Theil  der  Menschheit  geistig  und  indirect  auch  po- 
litisch und  social  zu  binden  gesucht  halDcn,  ist  heute  eine  bis  zur 
Handgreiflichkeit  ausgemachte  Sache.  Die  Religionsschöpfungen 
haben  eher  alles  Andere  als  eine  moraHsche  Einigung  der  Menschen 
bewerkstelligt.  Sie  haben  weder  den  innern  Frieden  des  Gemüths 
noch  die  äussere  Vereinbarkeit  des  Verhaltens  sonderhch  gefördert. 
Sie  haben  im  Gegentheil  künstliche  Beunruhigungen  erfunden  und 
durch  Fixirung  mannichfaltiger  Superstitionen  in  dauernden  Einrich- 
tungen neue  Arten  von  Feindschaft  und  Ungerechtigkeit  ins  Leben 
gerufen.  Ihr  Anspruch,  für  die  Menschen  ein  befriedigendes  Band 
und  eine  Quelle  des  Heils  zu  sein,  ist  heute  in  seiner  ausnahmslosen 
Nichtigkeit  allen  denen  erkennbar,  die  von  der  Wissenschaft  und 
dem  Verstände  her  zu  einer  natürlichen  Welt-  und  Lebensauffassung 
gelangt  sind.  Von  diesem  letzteren  höheren  Standpunkt  aus  lässt 
sich  aber  auch  schon  bemessen,  wie  der  Verstand  mit  seinen  wissen- 
schaftlichen Errungenschaften  die  letzte  Instanz  bilden  und  das  zu 
leisten  im  Stande  sein  werde,  was  dem  A^erworrenen  Gemüth  und 
den  trüben  Superstitionen  nie  gelingen  konnte. 

Bei  dieser  grossen  Aufgabe  handelt  es  sich  nicht  darum,  das 
natürliche  Gemüth  oder,  mit  andern  Worten,  die  Antriebe  und  Ge- 
fühle der  menschlichen  Natur  zu  Gunsten  einer  einseitigen  Ver- 
standescultur  herabzusetzen,  sondern  im  Gegentheil  darum,  diese 
naturwüchsigen  Ausstattungen  unseres  Wesens  durch  den  Verstand 
völlig  freizumachen  und  in  solchen  Richtungen  wirken  zu  lassen, 
wo  sie  sich  mit  der  geringsten  gegenseitigen  Störung  auszuleben 
vermögen.  Hieraus  folgt,  dass  die  wahre  Gesinnung,  auf  welche  die 
Philosophie  für  die  Menschheit  zielt,  erst  dann  in  grösserer  Aus- 


—    6    — 

breitung  und  nachhaltigerer  Wirksamkeit  bestehen  Icann,  wenn  sie 
in  der  Gemeinschaft  Vieler  und  in  der  Sicherheit  der  gegenseitigen 
Bethätigung  über  die  zerstreute  und  unverbundene,  rein  individuelle 
Privatexistenz  hinausgelangt  sein  wird. 

Die  Lebensgestaltung,  fiir  die  sie  neben  der  blos  theoretischen 
Vertretung  der  Weltanschauung  eintritt,  bezieht  sich  daher  weit 
weniger  auf  die  isolirte  Privatmoral  individualistischer  Art,  als  viel- 
mehr auf  den  socialitären  und  politischen  Zusammenhang  des  all- 
seitigen und  insbesondere  des  geistigen  Verkehrs.  Keine  einzige 
Form  oder  Einrichtung  des  Gemeinlebens  kann  von  ihr  unberührt 
bleiben;  aber  vor  Allem  bedarf  sie  sogar  schon  zu  ihrer  blos  ideellen 
Fortpflanzung  und  Sicherung  eines  gesellschaftlichen  Zusammen- 
wirkens aller  derjenigen,  die  von  ihr  durchdrungen  sind.  Es  ver- 
steht sich  von  selbst,  dass  dieses  Zusammenwirken  schliesslich  die 
Form  des  Staats  selbst  annehmen  muss;  aber  die  Mittelstufen  bis 
zu  diesem  Ziele  mögen  eine  Mannichfaltigkeit  durchmessen,  die  mit 
der  lockersten  Verbindung,  ja  mit  den  Zufälligkeiten  der  unorgani- 
sirten  literarischen  Mittheilung  beginnen  kann  und  sich  erst  später 
zu  geordneten  Vereinigungen  und  zwar  zunächst  im  Rahmen  der  ge- 
wöhnlichen Formen  der  Collectivaction  steigert.  Auch  sei  schon 
liier  bemerkt,  dass  nicht  blos  die  Gegenseitigkeit  und  das  Zusammen- 
wirken unter  den  Erwachsenen  in  allen  Hauptangelegenheiten  des 
privaten,  gesellschaftlichen  und  öffentlichen  Lebens  die  allgemeine 
Grundlage  zu  bilden  habe,  sondern  dass  speciell  die  Erziehung  im 
Sinne  der  Philosophie  und  zunächst  die  Lähmung  der  auf  diesem 
Gebiet  herrschenden  Superstition  die  positive  Collectivthätigkeit  in 
Anspruch  nehmen  müsse. 

Wir  haben  Inhalt  und  Richtung  des  philosophischen  Bewusst- 
seins  kurz  bezeichnet.  Es  bleibt  noch  übrig  zu  erklären,  was  wir 
mit  der  höchsten  Form  meinen,  in  der  wir  erst  die  der  Philosophie 
entsprechende  Steigerung  des  Welt-  und  Lebensbewusstseins  finden. 
Diese  höchste  Form  besagt  zunächst,  dass  in  Vergleichung  mit  ihr 
keine  höhere  Instanz  anzutreffen  sei,  von  welcher  über  die  Würdi- 
gung und  Behandlung  des  Daseins  entschieden  werden  könnte  Die 
Philosophie  kennt  keine  andere  Autorität  als  etwa  die  ihres  eignen 
Gebiets,  und  auch  hier  ist  sie  in  einem  solchen  Sinne  souveraiu, 
dass  man  jenes  Wort  in  seiner  äusserlichen  Bedeutung  gar  nicht 
brauchen  darf.  Naturthatsachen  und  selbstgewonnene  Einsichten 
sind  die  einzigen  Nöthigungen,  denen  die  Philosophie  folgt.   Neben 


__     7     - 

ihr  giebt  es  keine  zweite  Fundstätte  der  Wahrheit  und  keine  zweite 
Quelle  der  Gerechtigkeit.  Alles  was  unter  der  Form  irgend  einer 
Art  von  Wahrheit  Ansprüche  auf  Geltung  macht,  muss  sich  auf 
Verstand  und  Wissenschaft  als  letztes  Entscheidungsmittel  auch  dann 
berufen,  wenn  üeberzeugungen  im  Sinne  eines  vom  Gefühl  geleiteten 
Annehmens  oder  Glaubens  in  Frage  sind.  Grade  über  die  Möglich- 
keit derartigen  Fürwahrhaltens  und  über  die  Zulässigkeit  der  ent- 
sprechenden Vorstellungen  entscheidet  die  Philosophie,  da  sie  das 
Maass  für  alle  Gattungen  von  Ideen  in  Händen  hat.  Woher  sollte 
auch  dem  philosophisch  selbstbewussten  Menschen  eine  ideelle  Macht 
entgegentreten,  die  nicht  von  dem  eignen  Wesen  menschlicher  Vor- 
stellungen abstammte?  Auf  dem  Planeten  giebt  es  keine  Kraft,  die 
der  philosophischen  autoritätsfreien  Selbstgenügsamkeit  eine  moralisch 
verbindliche  oder  überhaupt  innere  Einschränkung  aufzuzwängen  ver- 
möchte. Der  Mensch  hat  vielmehr,  sobald  er  zur  Würde  der  auf 
sich  selbst  ruhenden  Einsicht  und  des  innerlich  verstandenen,  auf 
dem  Naturgrunde  ruhenden,  sich  selbst  klaren  Wollen s  gelangt  ist, 
mit  nichts  als  dem  Boden  unter  sich,  der  Luft  über  sich  und  Seines- 
gleichen neben  sich  zu  schaffen.  Die  ihn  umgebende  Natur,  sei  sie 
irdisch  oder  kosmisch,  erregt  ihn  nach  allen  Richtungen,  aber  ver- 
bindet ihn  nicht  und  legt  ihm  keine,  moralische  oder  autoritäre  Ge- 
setze auf.  Von  Seinesgleichen  hat  er  keinen  Willen  anzunehmen, 
den  er  nicht  selbst  üben  könnte,  und  wo  sie  ihn  verbindlich  machen 
wollen,  müssen  sie  sich  auf  etwas  berufen,  was  ihnen  mit  ihm  ge- 
meinschaftlich ist.  Er  wird  daher  in  Andern  nicht  etwas  Anderes 
anerkennen,  als  was  er  in  sich  selbst  gelten  lässt,  und  so  wird  wie- 
derum die  höchste  Form  des  Bewusstseins  von  Leben  und  Welt  als 
die  normgebende  Macht  angerufen  werden.  Diese  letzte  Entschei- 
dungskraft wird  aber  nur  aus  der  streng  wissenschaftlichen  Steige- 
rung aller  Bewusstseinselemente  gewonnen,  und  so  zeigt  es  sich  auch 
von  dieser  Seite,  dass  die  Bereicherung  mit  den  Errungenschaften 
des  genaueren  und  sicheren  Wissens  von  Welt  und  Menschennatur 
die  Vorbedingung  aller  philosophischen  Selbständigkeit  ist.  Auch 
gilt  diese  Selbständigkeit  und  Autoritätsfreiheit  nicht  blos  für  das 
Denken,  sondern  auch  für  das  Handeln  und  zwar  gleicherweise  für 
die  collective  Action  wie  für  das  Thun  des  Einzelnen. 


—    8    — 


n.    Bestandtheile  und  natürliches  System. 

Die  Philosophie,  wie  wir  sie  eben  kurz  gekennzeichnet  haben, 
umfasst  in  einem  weiteren  Sinne  die  Principien  alles  Wissens  und 
Wollens.  Diese  universelle  Bedeutung  ist  keineswegs  zu  kühn  an- 
gelegt; denn  um  eine  auch  nur  formal  vollständige  Natur-  und 
Lebensansicht  zu  gewähren,  müssen  die  ersten  Anknüpfungspunkte 
aller  Gattungen  von  Thatsachen,  Existenzen  und  Vorgängen  dargelegt 
werden.  Der  Rahmen  der  Welt  und  des  Lebens  mit  seinen  mannich- 
faltigen  Entwicklungen  muss  eine  wenigstens  schematisch  vollständige 
Ausfüllung  erhalten,  und  wo  irgend  eine  Reihe  von  Erkenntnissen 
oder  Antrieben  oder  eine  Gruppe  von  Existenzformen  für  das  mensch- 
liche Bewusstsein  in  Frage  kommt,  müssen  die  Principien  dieser  Ge- 
stalten ein  Gegenstand  der  Philosophie  werden.  Nur  auf  diese  Weise 
wird  jener  universellen  Vollständigkeit  entsprochen,  welche  die  ideale 
Forderung  zulänglicher  Systeme  ist.  Wenn  das  System  der  Dinge 
in  einem  Gedankenbilde  erfasst  und  das  Dasein  in  seinen  Grund- 
zügen entworfen  werden  soll,  so  darf  keine  Linie  fehlen,  die  zum 
Verständniss  der  Verfassung  des  Ganzen  einen  Beitrag  liefert.  Die 
Beschränkung  auf  die  Principien  ist  hinreichend,  um  die  Philosophie 
vor  unerheblichem  Material  zu  bewahren  und  die  Ausführung  ihrer 
Aufgabe  nach  dem  jeweiligen  Stande  des  positiven  Wissens  mögUch 
zu  machen.  Hiebei  ist  zu  beachten,  dass  Punkte  zweiten  Ranges, 
die  in  einer  individuellen  Unternehmung  etwa  unberührt  bleiben  oder 
nicht  zulänglich  erledigt  werden,  für  die  Wirkung  des  Gesammt- 
entwurfs  zwar  immerhin  eine  Bedeutung  haben  mögen ,  dass  aber 
die  Existenz  der  Philosophie  in  ihrem  vollständigen  Wesen  nicht 
ausschliesslich  von  dem  Grade  des  Gelingens  und  von  den  Schranken 
einer  privaten  Bestrebung  abhängig  zu  denken  sei. 

Die  Principien,  für  welche  sich  die  Philosophie  interessirt,  sind 
nicht  beliebige  relative  Anfänge  von  Erkeuntnissreihen  und  That- 
sachengruppen,  sondern  die  einfachen  oder  bis  jetzt  als  einfach  voraus- 
zusetzenden Bestandtheile,  aus  denen  sich  das  mannichfaltige  Wissen 
und  Wollen  zusammensetzen  lässt.  Wäre  die  Verfassung  der  Welt 
und  des  Lebens  nicht  so  beschaffen,  dass  sie  sich  in  eine  Summe 
von  Bestandstücken  auflösen  Hesse,  so  würde  der  Ausdruck  Princi- 
pien einen  völlig  relativen  und  schwankenden  Sinn  haben.  Man 
würde  nicht  wissen,  wie  weit  man  die  Gliederung  der  Dinge  zu  ver- 


—     9     — 

folgen  und  weitere  Ansätze  zu  secundären  Gebilden  aufzusuchen 
hätte,  um  den  Welt-  und  Lebensschematismus  verständlich  zu  machen. 
So  aber  ist  eine  feste  Norm  gegeben,  und  ähnlich,  wie  die  chemische 
Constitution  der  Körper,  kann  auch  die  allgemeine  "Verfassung  des 
Daseins  auf  Grundelemente  und  Grundformen  zurückgeführt  werden. 
Diese  letzten  Bestandtheile  oder  Principien  gelten,  sobald  sie  einmal 
gewonnen  sind,  nicht  blos  für  das  unmittelbar  Bekannte  und  Zu- 
gängliche, sondern  auch  für  Alles,  was  jenseit  der  Tragweite  unserer 
speciellen  und  ausreichenden  Wahrnehmung  liegt,  oder  was  die  ra- 
tionelle Phantasie  unter  veränderten  räumlichen  und  zeitlichen  Ver- 
hältnissen voraussetzen  mag.  In  den  Principien  solcher  Art  haben 
wir  mithin  das  Baumaterial  und  die  elementaren  Fügungsformen  für 
die  Construction  der  gesammten  Existenz  vor  uns.  Die  principiellen 
Schemata  und  Elemente,  zu  denen  die  philosophische  Zergliederung 
gelangt,  müssen  in  einer  noch  höheren  Weise  selbstgenugsam  und 
zum  unbeschränkten  Verständniss  der  Dinge  ausreichend  sein,  als 
dies  in  irgend  einer  besondern  Wissenschaft  der  Fall  sein  kann.  Die 
philosophischen  Principien  bilden  mithin  die  letzte  Ergänzung,  deren 
die  Wissenschaften  bedürfen,  um  zu  einem  einheitlichen  System  der 
Erklärung  von  Natur  und  Menschenleben  zu  werden. 

Nach  der  bisherigen  üeberlieferung  setzt  sich  die  Philosophie 
aus  einer  Reihe  besonderer  Lehren  zusammen,  aus  deren  Eigenthüm- 
lichkeiten  nicht  immer  sofort  der  Zusammenhang  mit  den  Principien 
der  vorher  erläuterten  Art  oder  gar  die  Beschränkung  auf  diese 
Principien  zu  entnehmen  ist.  Im  Gegentheil  schliesst  die  Philosophie 
in  ihrer  engeren  Bedeutung  eine  Gruppe  von  Specialwissenschaften 
eia,  die  ihr  mit  Recht  ausschliesslich  angehören,  und  in  denen  sie 
weit  über  die  Principien  hinaus  zu  mannichfaltig  zusammengesetzten 
Ergebnissen  fortschreitet.  Die  Noth wendigkeit  eines  Theils  dieser 
Verzweigungen  und  Ausfuhrungen  erklärt  sich  aus  der  besondern 
Aufgabe  der  Philosophie,  die  allgemeine  Wissenschaft  vom  Menschen- 
leben und  von  den  Mitteln  der  Erkenntniss  zu  sein.  Ein  anderer 
Theil  dieser  Sonderdisciplinen  könnte  aus  dem  Bereich  der  engeren 
Philosophie  ausgeschieden  gedacht  werden,  sobald  die  Arbeits theilung 
und  Verselbständigung  der  Functionen  diesen  Schritt  möglich  machte. 
Dennoch  werden  aber  vorläufig  mehrere  Zweige  auch  mit  ihrer  Aus- 
führung in  das  Einzelne  bei  der  Gesammtphilosophie  verbleiben 
müssen,  weil  sich  noch  nicht  absehen  lässt,  wie  sie  zur  Selbständig- 
keit  positiver  Wissenschaften  gelangen  sollten,    oder  wie  die  rein 


—     10     — 

philosophische  Behandlung  die  Principien  derselben  sichern  könnte, 
ohne  in  den  weiteren  Stoff  selbst  untersuchend  und  darstellend  ein- 
7Aigehen.  Letzteres  gilt  namentlich  von  der  Moral,  die  bis  jetzt 
vollständig  und  ausschliesshch  der  engeren  Philosophie  angehören 
musste. 

Werfen  wir  einen  Blick  auf  die  herkömmUche  Zusammensetzung 
der  Philosophie  aus  einzelneu  Disciplinen.  Wir  treffen  hier  an  der 
Spitze  auf  die  Logik  und  Metaphysik  oder  überhaupt  auf  die  Dia- 
lektik, woran  sich  in  neuerer  Zeit  Erkenntniss-  und  Forschungs- 
theorie angereiht  haben.  Am  natürlichsten  schliesst  sich  an  diese 
vorherrschend  logische  Gruppe  die  Psychologie,  indem  es  sich  hier 
ebenfalls  um  zunächst  subjective  Elemente  handelt.  Eine  zweite  Ab- 
theilung ergiebt  sich  mit  der  Naturphilosophie.  Das  dritte  Bereich 
ist  das  umfassendste,  indem  es  das  eigenthümlich  menschHche  Ver- 
halten und  dessen  geschichtliche  Schöpfungen  zum  Gegenstande  hat. 
Hieher  gehören  Moral  und  Naturrecht  nebst  den  Grundlagen  der 
Pohtik,  alsdann  die  Philosophie  der  Geschichte,  die  Religionskritik 
und  die  Ausgangspunkte  des  Aesthetischen.  Endlich  ist  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  eine  Ergänzung  der  Gesammtauf fassung  und 
aller  besondern  Theile,  indem  sie  zu  dem  gegenwärtigen  Bestände 
des  philosophischen  Wissens  und  Wollens  gleichsam  die  zweite  zeit- 
liche Dimension  hinzufügt  und  uns  zeigt,  wie  im  Strome  der  Ge- 
danken die  einzelnen  Gebilde  nach  und  nach  hervorgetreten  sind. 

Ein  natürliches  System  der  Philosophie  kann  sich  bei  dieser, 
zum  Theil  sehr  äusserlichen  Gruppiruug  nicht  beruhigen.  Es  muss 
zunächst  an  der  gewohnheitsmässigen  Verbindung  von  Logik  und 
Metaphysik,  sowie  überhaupt  an  einem  Theil  der  an  das  Wort  Meta- 
physik geknüpften  Ideen  Anstoss  nehmen.  Die  Logik  im  engeren 
Sinne  oder,  wie  man  auch  sagen  kann,  die  formale  Logik,  also  die 
Lehre  von  den  Definitionen,  den  Urtheilen  und  den  syllogistischen 
Schlüssen,  kann  an  sich  selbst  als  eine  Wissenschaft  angesehen  wer- 
den, die  wie  die  Elementarmathematik  keinen  besondem  Zusammen- 
hang mit  der  eigentlichen  Philosophie  habe.  Sie  kann,  so  dürftig 
ihr  wirklich  fruchtbarer  Inhalt  auch  ist,  dennoch  für  sich  selbst  eine 
völlig  selbständige  Doctrin  bilden  und  zu  den  ersten  Elementen  des 
positiven  Wissens  zählen.  Man  kann  noch  heute  über  ihre  Consti- 
tution und  Behandlung  erheblich  streiten;  aber  etwas  Aehnliches 
kann  auch  bei  der  Elementarmathematik  geschehen.  Uebrigens  ist 
aber  ein  Theil  der  logischen  Grundlehren  grade  eben  so  sicher,  wie 


—    11   — 

die  allgemein  anerkannten  Einzelwahrheiten  aus  dem  Bereich  der 
mathematischen  Elemente.  Derselbe  Grund,  welcher  für  die  Auf- 
nahme der  logischen  Elemente  in  die  Philosophie  sprechen  sollte, 
würde  annähernd  auch  zum  Eingehen  auf  die  mathematischen  Sätze 
berechtigen,  ohne  welche  z.  B.  das  von  der  Naturphilosophie  voraus- 
gesetzte Wissen  nicht  zu  Stande  kommt.  Wollte  aber  die  Philosophie 
alle  Voraussetzungen  des  besonde'rn  Wissens,  von  dem  sie  Gebrauch 
macht,  in  ihren  eignen  Rahmen  aufnehmen,  so  würde  sie  ihren  Beruf 
und  ihre  Grenzen  völlig  verkennen. 

Es  giebt  jedoch  eine  Beziehung  der  Philosophie  zu  den  logischen 
Wahrheiten,  in  welcher  die  letzteren  in  einer  eigenthümlichen  An- 
wendung und  Bedeutung  auftreten.  Das  Ganze  der  Dinge  hat  eine 
systematische  Gliederung  und  innere  logische  Consequenz.  Natur  und 
Geschichte  haben  eine  Verfassung  und  Entwicklung,  deren  Wesen 
zu  einem  grossen  Theil  den  allgemeinen  logischen  Beziehungen  aller 
Begriffe  entspricht.  Die  allgemeinen  Eigenschaften  und  Verhältnisse 
der  Denkbegriffe,  mit  denen  sich  die  Logik  beschäftigt,  müssen  auch 
für  den  besonders  auszuzeichnenden  Fall  gelten,  dass  ihr  Gegenstand 
die  Gesammtheit  des  Seins  nebst  dessen  Hauptgestalten  ist.  Da  das 
allgemeinste  Denken  in  einem  weiten  Umfange  über  das  entscheidet, 
was  sein  und  wie  es  sein  kann,  so  müssen  die  obersten  Grundsätze 
und  Hauptformen  der  Logik  auch  für  alle  Wirklichkeit  und  deren 
Formen  eine  maassgebende  Bedeutung  erhalten.  Hiemit  gelangen 
wir  zu  einer  logischen  Weltschematik,  in  der  die  Wahrheiten  der 
formalen  Logik  einen  neuen  speciellen  Sinn  annehmen  und  eine 
Tragweite  von  der  höchsten  Bedeutung  aufzuweisen  haben. 

Der  Ausdruck  Metaphysik  ist  mit  Recht  der  Zwitterhaftigkeit 
verdächtig;  denn  er  hat  bisher  zwei  Dinge  benannt,  von  denen  das 
eine,  nämlich  die  Empfänglichkeit  für  unwirkliche  und  phantastische 
Begriffsgebilde,  im  natürlichen  System  völlig  entfernt  sein  muss. 
Ausser  mit  den  willkürlich  erdichteten  Wesenheiten  hat  sich  aber 
die  Metaphysik  jederzeit  auch  mit  wirklichen  Elementen  des  Daseins 
befasst,  und  in  dieser  Hinsicht  sind  es  besonders  die  Grundbegriffe, 
darch  welche  die  Welt  mit  ihrer  Verfassung  zu  denken  sei,  was  den 
Gegenstand  dieser  Lehre  gebildet  hat.  Diese  metaphysischen  Kate- 
gorien fallen  nun  keineswegs  mit  den  metaphysischen  Anwendungen 
der  logischen  Gesichtspunkte  zusammen,  sondern  gesellen  sich  den 
letzteren  als  eine  unterschiedene  Art  zu,  so  dass  die  Frage  nach  dem 
Rangverhältniss   beider  Bestandtheile  der  Weltschematik  keineswegs 


—     12     — 

überflüssig  ist.  Um  Schemata  des  Denkens  oder  Vorstellens  und  um 
formal  einfache  Voraussetzungen  wird  es  sich  in  dem  einen  wie  in 
dem  andern  Theil  des  Gebiets  handeln,  und  die  Constituirung  einer 
wohlgeordneten  Lehre  vom  Weltschematismus  wird  davon  abhängen, 
wie  es  gelingt,  Sein  und  Denken  als  eine  Einheit  zu  fassen,  in 
welcher  die  realen  Vorgänge  eine  logische  Seite  und  die  logischen 
Vorgänge  eine  reale  Bedeutung  haben.  Die  Metaphysik  überhaupt 
aber,  deren  Namen  man  sehr  wohl  mit  der  rationelleren  Bezeichnung 
als  Weltschematik  vertauschen  könnte,  wird  unbekümmert  um  be- 
griffliche Erdichtungen  alle  allgemeinen  Züge  des  wirklichen  Daseins 
zu  entwerfen  haben,  ohne  jedoch  in  die  Hauptverzweigungen  selbst, 
nänüich  in  Natur  und  Geschichte  überzugreifen.  Sie  wird  sich  also 
auf  die  Grundgestalten  alles  Seins  überhaupt  beschränken  und  sich 
nicht  auf  solche  Eigenschaften  ausdehnen,  die  nur  einer  Art  desselben 
ausschliesslich  eigen  sind.  In  diesem  engeren  Sinne  wird  sie  in  der 
That  den  allgemeinsten  Schematismus  aller  Wirklichkeit  vertreten. 

Bei  der  Behandlung  des  Gesammtstoffs  der  Philosophie  in  einem 
einheitlichen  Cursus  werden  wir  unserer  leitenden  Definition  einge- 
denk bleiben  und  alles  das  ausschliessen  müssen,  was  nicht  zur  Ent- 
wicklung der  Principien  der  Weltanschauung  und  Lebensgestaltung 
unmittelbar  erforderlich  ist.  Blosse  Hülfsiehren,  die  ähnlich  dem 
Lihalt  der  positiven  Wissenschaften  eine  fertige  Voraussetzung  bilden 
können,  werden  daher  nur  in  Bezug  zu  nehmen  sein.  Aus  diesem 
Grunde  werden  auch  die  rein  logischen  Wahrheiten  nur  insoweit 
dargestellt  werden,  als  es  der  Zweck  der  Anknüpfung  höherer  Ein- 
sichten unumgänglich  macht.  Ueberdies  versteht  es  sich  eigentlich 
von  selbst,  dass  eine  Philosophie  nicht  etwa  blos  Mehr,  sondern 
etwas  ganz  Anderes  zu  sein  hat,  als  eine  Vereinigung  des  princi- 
piellen  Gehalts  der  positiven  Wissenschaften.  Die  Weitläufigkeit, 
die  durch  blosse  Verarbeitung  der  wichtigsten  positiven  Wissen- 
schaften entstehen  müsste,  fallt  grundsätzlich  fort,  und  selbst  inner- 
halb der  eigentUchen  Philosophie  gestattet  die  naturgemässe  Be- 
schaffenheit imseres  vom  Leben  selbst  vorgezeichneten  Zweckes  einen 
Grad  der  Sichtung  des  gewöhnlichen  Materials,  der  bei  äusserlicher 
Kürze  doch  zu  Deutlichkeit  und  Fülle  des  Gedankengehalts  fähren 
mag.  Die  Rücksicht  auf  das  Originale  in  jeder  Gattuug,  sei  es  über- 
liefert oder  neu  gewonnen,  wird  ebenfalls  den  Werth  des  Ausgewähl- 
ten steigern.  Die  bedeutende  Einschränkung,  die  wir  uns  in  den 
ersten  abstractereu  Abschnitten  sowie  auch  in  der  Naturphilosophie 


—     13    — 

mit  Rücksicht  auf  andere  Arbeiten,  in  denen  wir  die  hier  concen- 
trirten  Lehren  ansfuhrhcher  entwickelt  haben,  ohne  Bedenken  auf- 
erl^en  konnten,  hat  es  ermöglicht,  die  entscheidenden  Probleme  des 
Menschenlebens  ausgiebig  zu  erörtern.  Aber  auch  in  diesem  letzteren 
Bereich  konnte  noch  dadurch  für  das  Beste  Raum  gewonnen  werden, 
dass  eine  Frage,  die  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  mit  unverhält- 
nissmässiger  Breite  in  den  Vordergrund  gedrängt  hatte,  als  ander- 
wärts abgethan  einer  sehr  kurzen  und  entschiedenen  Beantwortung 
fähig  wurde.  Es  ist  dies  die  Erörterung  des  auf  ein  Jenseits  aus- 
schauenden oder  mystisch  nihihstischen  Pessimismus,  der  mit  seiner 
trägen  Ruhesucht  schon  in  meiner  Betrachtung  über  den  Werth  des 
Lebens  zergliedert  worden  ist. 

Das  System,  welches  in  dem  vorliegenden  Cursus  zu  einer  nach 
allen  wesentlichen  Richtungen  verzweigten  Darstellung  gelangt,  unter- 
scheidet sich  sehr  erheblich  von  allen  früheren  Gestalten  der  Philo- 
sophie. Man  könnte  es  das  natürhche  System  oder  die  Wirklichkeits- 
philosophie nennen,  da  es  die  künstlichen  und  naturwidrigen  Er- 
dichtungen beseitigt  und  zum  ersten  Mal  den  Begriff  der  Wirklichkeit 
zum  Maass  aller  ideellen  Conceptionen  macht.  Die  Wirklichkeit  wird 
von  ihm  in  einer  Weise  gedacht,  die  jede  Anwandlung  zu  einer 
traumhaften  und  subjectivistisch  beschränkten  Weltvorstellung  aus- 
schhesst.  Der  Inbegriff  aller  Möglichkeiten,  der  für  die  Weltschematik 
durchaus  keine  gleichgültige  Conception  ist,  wird  auf  das  combina- 
torische  Denken  bezogen,  welches  mit  den  bekannten  Bestandtheilen 
operirt.  Die  Phantasie,  deren  erste  kindische  Ansprüche  überall  aus- 
geschlossen werden,  zeigt  sich  in  Vereinigung  mit  dem  sichtenden 
Verstände  als  diejenige  schöpferische  Macht,  die  allein  im  Stande  ist, 
die  Thatsachen  aus  ihrer  äusserlichen  Trägheit  zu  befreien  und  die 
Ergebnisse  der  Erfahrung  zu  einem  lebensvollen  Ganzen  zu  verbinden. 
Die  wissenschaftliche  Phantasie  erdichtet  nicht,  sondern  bildet  nur 
und  entspricht  so  einem  wirklichen  Zusammenhange  der  Dinge,  wie 
er  durch  die  weltgestaltenden  Kräfte  vollzogen  worden  ist  oder  zur 
Vollziehung  gelangt.  Um  vorausbestimmend  spätere  Nothwendig- 
keiten  zu  bemessen,  ist  die  Beweglichkeit  der  rationellen  Phantasie 
unentbehrhch.  Andernfalls  würde  der  Gedanke  nur  an  dem  Gege- 
benen und  unmittelbar  Thatsächlichen  haften  bleiben  und  jener  all- 
seitigen Freiheit  ermangeln,  durch  welche  er  die  Möglichkeiten  der 
Weltentwicklung  umfasst.  Für  das  Menschenschicksal  hat  überhaupt 
das  gestaltende  Denken  noch  den  besondem  Sinn,  die  unwillkürhchen 


—     14    — 

Gebilde  blosser  Naturtriebe  und  beschränkter  Ueberlegung  durch  eine 
bewusste  Gesammtaction  zu  veredeln  und  Wirkungen  sichtbar  zu 
machen,  die  in  der  bisher  abgelaufenen  Geschichte  nicht  vertreten 
sind.  Es  würde  ein  sehr  beengter  Begriff  von  der  Wirklichkeit  sein, 
wenn  man  die  Anlagen  zu  neuen  Gebilden  übersehen  oder  die  Wissen- 
schaft dazu  herabwürdigen  wollte,  sich  nur  mit  fertigen  Thatsachen 
zu  befassen.  Der  höhere  Aufschwung  des  Denkens  hat  stets  den 
schaffenden  Trieben  zu  entsprechen  gesucht  und  hat  hiemit  jene 
natürliche  und  darum  einzig  wahre  Prophetie  geübt,  die  nichts  weiter 
als  ein  tieferer  Bhck  in  die  Entwicklung  der  Zustände  ist.  Das 
Merkmal  aber,  durch  welches  alle  jenseitig  oder,  wie  man  auch 
sagen  könnte,  doppelweltlich  gearteten  Erdichtungen  von  dem  Reich 
der  Wirkhchkeit  unterschieden  werden,  ist  der  nachweisbare  Zu- 
sammenhang mit  irgend  welchen  Elementen  cheser  Wirklichkeit. 
Die  transcendente  Dichtung  beginnt,  wo  dieser  Leitfaden,  der  nur 
zwischen  lauter  Wirklichkeitselementen  hinlaufen  darf,  entweder  ab- 
reisst  oder  in  das  Nichts  absolut  leerer  Möglichkeit  fuhren  würde. 
Das  Nichts  des  Denkens  entspricht  genau  dem  Nichts  der  Welt  und 
der  Wirklichkeit.  Aus  diesem  Grunde  beruht  alles  unberechtigte 
metaphysische  Phantasiespiel  auf  einem  Mangel  oder  einer  völligen 
Abwesenheit  des  eigenthchen  Denkens.  Die  Einzigkeit  des  universell 
Wirklichen,  die  mehr  ist,  als  die  blosse  Einheitlichkeit,  schhesst  zu- 
gleich den  Gedanken  ein,  dass  Alles,  was  Gegenstand  des  Denkens 
wird,  einem  untheilbaren  System  des  Seins  angehört. 

Für  das  natürliche  System  giebt  es  ausser  den  allgemeinen 
Grundformen  aller  Existenz  nur  zwei  eigentliche  Gegenstände  der 
Untersuchung,  nämlich  die  Natur  und  die  Menschenwelt.  Obwohl 
die  letztere  nur  ein  besonders  geartetes  Bestandstück  der  ersteren 
ist,  so  kann  man  doch  das  aussermenschliche  Dasein  und  nament- 
lich die  kosmischen  Formen  desselben  von  dem  Gebiet  des  eigen- 
thümüch  Menschhchen  unterscheiden.  Der  Mensch  kennt  sich  direct 
von  Innen,  während  er  andere  Wesen  oder  Dinge  entweder  nur  von 
Aussen  oder  innerlich  nur  indirect  versteht.  Der  Mensch  nimmt 
ausserdem  mit  Ueberlegung  an  den  Organisationen  Theil,  in  denen 
sich  die  Lebensformen  und  die  Wandlungen  der  Geschichte  bethäti- 
gen.  Die  sociale  Welt  kann  also  als  ein  besonderes  Bereich  aus  dem 
Gesammtsystem  der  Natur  ausgeschieden  werden  und  muss  bei  dem 
Interesse,  welches  sie  für  uns  in  eminenter  Weise  hat,  au  die  Er- 
kenntuiss  die  höchsten  Ansprüche  stellen.   Trotzdem  ist  grade  dieses 


—     15     — 

Erkenntnissgebiet  weniger  streng  und  mit  weniger  Erfolg  behandelt 
worden,  als  die  kosmische  Welt.  Die  natürliche  Auffassungsart  wird 
hier  zunächst  das  bisher  äusserst  hinderlich  gewesene  Vorurtheil  zu 
entfernen  haben,  als  wenn  die  durchgängige  Gesetzmässigkeit  der 
Natur  in  den  Handlungen  der  Menschen  sich  verleugnen  und  in  der 
Geschichte  auch  nur  den  geringsten  Abbruch  erleiden  könnte. 

Hienach  ergeben  sich  für  die  Anordnung  unseres  Stoffs  völlig 
ungezwungen  drei  Gruppen,  nämlich  die  allgemeine  Weltschematik, 
die  Lehre  von  den  Naturprincipien  und  schliesshch  diejenige  vom 
Reich  des  Menschen.  In  dieser  Abfolge  ist  zugleich  eine  innerlich 
logische  Ordnung  enthalten;  denn  die  formalen  Grundsätze,  welche 
für  alles  Sein  gelten,  gehen  voran,  und  die  gegenständlichen  Gebiete, 
auf  die  sie  anzuwenden  sind,  folgen  in  der  Abstufung  ihrer  Unter- 
ordnung nach.  Die  Naturprincipien  sind  nämlich  wiederum  maass- 
gebend  für  den  Menschen  als  Theil  der  Natur,  und  in  der  uns  be- 
kannten höchsten  Organisation  des  Lebens  und  seiner  Formen  müs- 
sen wir  alle  Gesetze  der  vorangehenden  Stufen  des  Seins  und  alle 
Schemata  der  allgemeineren  Existenz  wiederfinden. 


Erster  Abschnitt. 

Crrundgestalten  des  Seins. 


Erstes  Oapitel. 
Elementarbegriffe  der  Weltauffassung. 

JJas  allumfassende  Sein  ist  einzig.  In  seiner  Selbstgenügsamkeit  hat 
es  nichts  über  oder  neben  sich.  Ihm  ein  zweites  Sein  zugesellen, 
hiesse  es  zu  dem  machen,  was  es  nicht  ist,  nämlich  zu  dem  Theil 
odet  Bestandstück  eines  umfangreicheren  Ganzen.  Indem  wir  unsem 
einheithchen  Gedanken  gleichsam  als  Rahmen  ausspannen,  kann 
nichts,  was  in  diese  Gedankeneinheit  eingehen  muss,  eine  Doppelheit 
an  sich  behalten.  Es  kann  sich  aber  dieser  Gedankeneinheit  auch 
nichts  entziehen;  denn  wohin  sollte  ein  Element  verlegt  werden, 
welches  überhaupt  noch  Gegenstand  des  Denkens  bleiben  soll?  Was 
aber  nie  Gegenstand  des  Denkens  sein  könnte ,  würde  aufliören ,  zu 
unserm  Seins-  und  Weltbegriff  zu  gehören  und  daher  für  uns  zu 
einem  völligen  Nichts  werden. 

Es  ist  jedoch  nicht  genug,  auf  die  angegebene  Weise  aus  der 
Einheit  unseres  eignen  Denkens  die  Einzigkeit  des  Seins  zu  erkennen. 
Auch  jedes  andere  Denken  würde  dieselbe  Idee  mit  sich  bringen. 
'i^x'^^'.Das  Wesen  alles  Denkens  besteht  in  der  Vereinigung  von  Bewusst- 
seinselementen  zu  einer  Einheit.  Wie  wir  daher  auch  ein  Denken 
ausser  dem  unsrigen  concipiren  mögen,  —  wir  werden  es  in  jener 
letzten  Wurzel  auf  gleiche  Weise  mit  der  Zusammenfassungskraft 
und  mit  der  Anlage  ausstatten  müssen,  die  Welt  und  alle  Welten, 
die  exiötiren  mögen,  in  seinen  Rahmen  aufzunehmen.  Ja  selbst  wenn 
ihm  die  Aussenwerkzeuge  fehlten,  sich  im  Besondem  aller  Wirklich- 
keit zu  versichern,  so  würde  dennoch  der  Ausgangspunkt  in  ihm 
selbst  eine  untheilbare  Einheit  bleiben,  die  der  Einzigkeit  alles  Seins 


—     17     — 

entspräche  und  die  Vereinigung  aller  Theile  in  einem  Gesammt- 
gedanken  verbürgte.  Jene  vielen  Welten,  die  wir  hypothetisch  und 
eigentlich  nur  dem  Worte  nach  genannt  haben,  würden  sich  vor 
jeghchem  Denken  in  eine  einzige  verwandeln. 

Femer  ist  es  wichtig,  sich  deutlich  zu  machen,  dass  der  Grad 
der  Universalität  des  Denkens  zu  der  eben  erläuterten  Einheit  nichts 
hinzufugt.  Ob  ein  Denken  hoch  oder  niedrig  stehe,  ob  es  viel  oder 
wenig  umspanne,  hängt  von  seiner  besondern  Ausrüstung  ab.  Es 
ist  aber  bereits  seine  ganz  allgemeine  Natur,  welche  ohne  Rücksicht 
auf  specielle  Anlage  und  Ausstattung  die  durchgängige  Einheit  der 
Auffassung  und  hiemit  die  Einzigkeit  des  zugehörigen  Weltbegriffs 
mit  sich  bringt.  Auch  die  Wiederholung  des  Denkens  in  mannich- 
faltigen  Trägem  desselben  ändert  an  jenem  Grund verhältniss  nichts ; 
denn  es  ist  nicht  eine  Einzigkeit  der  Denkfun  ction,  sondern  der 
Einheitspunkt  der  Zusammenfassung,  wodurch  der  untheilbare  Welt- 
begriff entsteht  und  das  Universum,  wie  es  schon  das  Wort  besagt, 
als  etwas  erkannt  wird,  worin  Alles  zu  einer  Einheit  vereinigt  ist. 

Es  wäre  thöricht,  diese  letztere  Vereinigung,  vermöge  deren  alle 
Wirklichkeit  einheitüch  verbunden  und  gleichsam  zu  einem  einzigen 
Wesen  gemacht  ist,  als  ein  inneres  Denken  in  den  Dingen  vorstellen 
zu  wollen.  Dies  hiesse  in  der  That,  ein  Bewusstsein  da  erdichten, 
wo  keines  vorhanden  ist.  Ein  Denken  ohne  Bewusstsein  ist  aber 
entweder  eine  nichtssagende  Wortcombination  oder  aber  ein  schiefer 
Ausdruck  für  einen  Act,  der  gar  kein  Denken,  sondern  nur  über- 
haupt eine  verbindende  Thätigkeit  enthält.  Ueberdies  sind  die  Ver- 
kettungen und  die  Einheit,  die  sich  am  Wirklichen  in  verschiedenen 
Schematen  und  Beziehungen  ausdrücken,  nur  secundäre  Folgen  der 
Einzigkeit,  so  dass  in  der  Parallele,  die  wir  zwischen  Denken  und 
Sein  vor  Augen  haben,  nur  zwei  einfache  Punkte  einander  ent- 
sprechen. Von  den  mehrfachen  Uebereinstimmuugen  ist  hier  noch 
gar  nicht  die  Rede,  und  so  kann  man  weder  von  besondern  Denk- 
fonctionen  noch  von  speciellen  Seinsverkettungen  in  dieser  Grund- 
frage reden.  Das  Denken  hat  seine  Einheit,  ehe  es  zu  einer  beson- 
dem  Auffassung  und  zu  besondem  Thätigkeiten  der  Vereinigung 
übergeht.  Das  Sein  aber  ist  ein  einziges,  ganz  unabhängig  davon, 
wie  und  durch  welche  Kräfte  es  in  sich  verbunden  werde. 

Das  Sein  würde  dieselbe  Eigenschaft,  die  wir  an  ihm  erläutert 
haben,  auch  dann  behalten,  wenn  es  gar  nicht  gedacht  würde.  In- 
dem wir  dieses  Gedankens   fähig  sind,  beweisen  wir,  dass  wir  von 

Dil  bring,  Cursus  der  Philosophie.  2 


—     18    — 

demjenigen  Denken  abzusehen  vermögen,  in  welchem  die  Welt  als 
Gegenstand  erscheint.  Mit  dieser  Abstraction  betreten  wir  aber 
bereits  jene  Grenze,  an  welcher  das  Denken  im  Nichtdenken  oder, 
um  es  recht  deutlich  zu  sagen,  der  Gedanke  in  Gedankenlosigkeit 
erlischt.  Es  könnte  scheinen,  als  wenn  wir  uns  mit  jener  Idee  von 
der  ungedachten  Einzigkeit  und  Einheit  des  Seins  in  das  Innere  der 
Dinge  selbst  versetzten  und  einen  wesentlichen  Zug  erfassten,  der 
vor  allem  Denken  oder,  genauer  gesagt,  an  der  Grenze  alles  Denkens 
etwas  ausdrückte,  was  ausser  dem  subjectiven  Bewusstsein  die  An- 
knüpfung für  eine  neue  Art  von  Logik  und  Consequenz  lieferte.  In- 
dessen schwindet  dieser  Anschein,  sobald  wir  erwägen,  dass  jede 
Eigenschaft  des  Wirklichen  von  uns  stets  durch  ein  deutliches  Ge- 
dankenelement gedeckt  wird,  und  dass  wir  nicht  das  Wissen  von 
dieser  Eigenschaft  mit  ihrer  Existenz  an  sich  selbst  verwechseln 
dürfen.  Unser  Wissen  ist  nie  von  unserm  Denken,  wohl  aber  die 
dem  Begriff  entsprechende  Wirklichkeit  von  dem  Acte  des  Begreifens 
unabhängig.  Der  Begriff  der  Einzigkeit  und  Einheit  existirt  nie 
ausser  irgend  einem  Bewusstsein ;  jene  Einzigkeit  selbst  hat  aber  mit 
Dasein  oder  Abwesenheit  dieses  oder  jenes  oder  alles  Denkens  nichts 
zu  schaffen. 

2.  Von  der  erläuterten  Einzigkeit,  durch  welche  der  selbstgenug- 
sarae  Weltbegriff  erst  gesichert  wird,  ist  die  innere  Einheit  zu  unter- 
scheiden. Wäre  etwas  ausser  der  Welt,  so  wäre  sie  nicht  einzig; 
fehlte  es  aber  innerhalb  ihres  Bereichs  an  Grundgestalten,  in  denen 
ihre  Mannichfaltigkeiten  umspannbar  werden,  so  würde  die  durch- 
gehende und  abschliessende  Einheitsform  und  gleichsam  die  Durch- 
sichtigkeit ihres  Charakters  mangeln.  Für  unsere  Begriffe  stellt  sich 
als  erst«  und  wichtigste  Aufgabe  die  zutreffende  Auffassung  des 
Sinnes,  in  welchem  das  Sein  eine  Unendlichkeit  darzustellen  vermag. 

Die  deutlichste  Gestalt  einer  widerspruchslos  zu  denkenden  Un- 
endlichkeit ist  die  unbeschränkte  Häufung  der  Zahlen  in  der  Zahlen- 
reihe. Wollte  man  aber  aus  dieser  schrankenlosen  Abfolge  einen 
Inbegriff  und  ein  Nebeneinander  machen,  worin  sich  alle  Zahlen  im 
Voraus  vereinigt  gedacht  fanden,  so  würde  man  sich  einer  Chimäre 
ergeben.  Wie  es  keine  letzte  Zahl  giebt,  so  kann  es  auch  kenie 
vollendete  Ausführung  einer  Unendlichkeit  geben.  Das  Wesen  des 
Unendlichen  besteht  eben  darin,  nie  zu  enden  und  nie  abzuschliessen. 
Seine  Unvollendetheit  ist  die  Bürgschaft  der  unbeschränkten  Fülle 
von  Möglichkeiten,  die  sich  entwickeln.    Eine  vollendete  Unendlich- 


—     19     - 

keit  wäre  uicht  nur  keine,  sondern  auch  der  unvereinbarste  Wider- 
spruch, der  sich  nur  erdenken  lässt.  Trotzdem  leiden  die  gewöhn- 
Hchen  Weltvorstellungen  der  Philosophie  hauptsächlich  an  diesem 
Punkte. 

Was  in  einer  einfachen  Einheit  gegeben  ist,  kann  an  sich  selbst 
nicht  unendlich  sein,  wenn  es  auch  immerhin  als  der  Träger  eines 
Ausflusses  von  Unendlichkeit  erscheinen  mag.  Die  Aneinanderreihung 
bleibt  also  die  einzig  möghche  Form,  in  welcher  die  Unendlichkeit 
sich  vollzieht.  Wie  wir  zu  jeder  Zahl  noch  eine  weitere  Einheit 
hinzufügen  können,  ohne  jemals  die  Möglichkeit  des  Weiterzählens 
zu  erschöpfen,  so  reiht  sich  auch  an  jeglichen  Zustand  des  Seins 
ein  fernerer  an,  und  in  der  unbeschränkten  Erzeugung  dieser  Zu- 
stände besteht  die  Unendlichkeit.  Diese  genau  gedachte  Unendlich- 
keit hat  daher  auch  nur  eine  einzige  Grundform  mit  einer  einzigen 
Richtung.  Wenn  es  nämlich  auch  für  unser  Denken  gleichgültig  ist, 
eine  entgegengesetzte  Richtung  der  Häufungen  der  Zustände  zu  ent- 
werfen, so  ist  doch  die  rückwärts  fortschreitende  Unendlichkeit  eben 
nur  ein  voreiliges  Vorstellungsgebilde.  Da  sie  nämlich  in  der  Wirk- 
lichkeit in  umgekehrter  Richtung  durchlaufen  sein  müsste,  so  würde 
sie  bei  jedem  ihrer  Zustände  eine  unendliche  Zahlenreihe  hinter  sich 
haben.  Hiemit  wäre  aber  der  unzulässige  Widerspruch  einer  ab- 
gezählten unendlichen  Zahlenreihe  begangen,  und  so  erweist  es  sich 
als  widersinnig,  noch  eine  zweite  Richtung  der  Unendlichkeit  voraus- 
zusetzen. 

Soweit  das  Sein  oder  die  Welt  in  einer  Production  von  Zu- 
ständen besteht,  die  wie  die  Zahlen  sich  aneinanderreihen,  muss 
irgend  ein  Zustand  dieser  Art  als  der  erste  gesetzt  werden,  weil 
sonst  eine  falsche  unzulässige  UnendHchkeit  angenommen  werden 
müsste.  Hiemit  ist  aber  durchaus  nicht  ausgesprochen,  es  müsste 
das  Sein  selbst  einen  Anfang  haben.  Im  Gegentheil  wird  durch 
jenen  Gedanken  erst  deutlich  gemacht,  wie  die  unbeschränkte  Ab- 
folge von  Zuständen  nicht  mit  dem  Sein  selbst  vollständig  zusammen- 
falle, sondern  eben  nur  die  Grundform  sei,  in  der  sich  die  in  ihm 
angelegte  Unendlichkeit  bethätigt.  Unentstandenheit  und  ünver- 
gänglichkeit  kommen  der  Existenz  nichtsdestoweniger  zu,  sobald 
man  nur  von  ihren  differenten  Zuständen  absieht,  die  sich  nur  in 
einer  Reihe  mit  einer  einzigen  Richtung  entwickeln. 

Wie  thöricht  es  wäre,  ein  unendliches  Nebeneinander  als  etwas 
fertig  an  sich  Vorhandenes  annehmen  zu  wollen,  muss  aus  unsern 


—     20     — 

strengen  Gedankenbestimmungen  klar  sein.  Eine  unendliche  Anzahl 
von  Weltkörpem,  die  im  Räume  zugleich  gedacht  würde,  wäre  jene 
absurde  Unzahl  selbst,  die  wir  durch  reine  Denknothwendigkeit  als 
den  klaffendst^n  aller  Widersprüche  ausgeschlossen  haben.  Jede 
Gruppe  von  Existenzen,  innerhalb  deren  man  irgendwo  zählbare 
Einzelheiten  als  gegebene  Bestandtheile  eines  vorhandenen  Ganzen 
unterscheiden  kann,  muss  endlich  sein.  Dem  Räume  aber,  von  dem 
wir  hier  noch  nicht  eingehender  zu  reden  haben,  kommt  nur  Un- 
beschränktheit ,  aber  keine  Unendlichkeit  zu,  indem  seine  Grenzen- 
losigkeit nichts  weiter  als  der  Mangel  eines  Hindernisses  für  den 
realen  Act  der  Ausdehnung  der  Dinge  ist. 

Wir  haben  die  Zahlenreihe  zum  Typus  der  wahren  Unendlich- 
keit gemacht  und  grundsätzlich  die  besondere  Betrachtung  der  Zeit 
ausser  dem  Spiel  gelassen.  Nun  ist  aber  hier  wenigstens  soviel  zu 
bemerken,  dass  der  Abfluss  der  Zeitreihe  und  die  unbeschränkte  zeit- 
liche Entwicklung  der  Zustände  die  bestimmtere  Gestalt  bilden,  unter 
welcher  wir  die  widerspruchslose  Unendlichkeit  des  Weltdaseins  vor- 
zustellen haben.  Durch  die  Anschaulichkeit  dieser  speciel leren  Vor- 
stellungsart wird  es  nun  aber  auch  um  so  klarer,  wie  das  Sein  und 
die  Elemente  desselben  in  sich  eine  Mannichfaltigkeit  hegen,  inner- 
halb deren  ein  durchgreifender  Unterschied  einige  Schwierigkeit  zu 
bereiten  scheint.  Es  ist  nämlich  das  allumfassende  Sein  von  uns 
bisher  als  etwas  Homogenes  angesehen  worden,  während  in  der  That 
diese  einheitliche  Artung  durch  den  Gegensatz  der  zeitlich  hinschwin- 
denden Vorgänge  und  der  bleibenden  Productionskraft  eingeschränkt 
wird.  Was  sollen  wir  nun  als  eigentliches  Sein  oder  als  Kern  der 
Welt  betrachten?  Ist  es  der  flüchtige  Vorgang,  der,  gleichviel  ob 
in  irgend  einem  Bewusstsein  aufgefasst  oder  nicht,  einem  andern 
Vorgange  weicht?  Ist  es  die  niemals  als  solche  zur  Darstellung  ge- 
langende Disposition,  jene  Vorgänge  zu  häufen  und  zu  wechseln? 
Wenn  wir  die  Gesammtheit  der  Entwicklungen  als  erschöpfendes 
Gegenbild  des  Seins  oder  vielmehr  als  den  vollständigeo  Inbegriff 
desselben  anerkennen,  so  meldet  sich  sofort  die  Frage  an,  was  die 
Einfuhrung  neuer  Gestalten  und  die  Vernichtung  alter  zu  bedeuten 
habe.  Wenn  wir  aber  nur  in  den  sich  selbst  gleichen  und  beharr- 
lichen Elementen  das  Wesen  der  Dinge  suchen,  so  geben  wir  grade 
das  an  der  Weltproduction  als  nichtig  Preis,  was  für  das  bewusste 
Leben  ausschliesslich  Reiz  hat. 

3.  Was  uns  an  der  Welt  kümmert,  ist  nicht  die  Unterschieds- 


—     21     - 

lose,  unwandelbare,  sich  selbst  gleicbe  Beharrlichkeit  eines  ewig  re- 
gungslosen Etwas,  sondern  die  mannichfaltige,  immer  neue,  von  sich 
selbst  abweichende  Veränderlichkeit  spielender  Gestalten,  die  sich 
hinzeichnen  und  wieder  auslöschen,  ohne  sich  jemals  in  der  unab- 
lässigen Production  zu  erschöpfen.  Der  Rhythmus  von  Gestaltung 
und  Vernichtung,  die  Perioden  und  Phasen  der  sich  ablösenden  Er- 
scheinungen, die  Differenzen  innerhalb  der  wiederkehrenden  Kreis- 
laufsgebilde imd  noch  mehr  die  Variationen  der  letzteren  selbst 
machen  die  Bühne  des  Daseins  interessant.  Ein  in  jedem  Augen- 
blick sich  selbst  gleiches  Gesammtwesen  würde  die  Erstarrung  und 
das  Nichts  des  Lebens  bedeuten.  Wenn  man  also  die  Erhabenheit 
des  Seins  in  einer  völligen  Unveränderlichkeit  gesucht  und  die  Ver- 
änderungen zu  einem  bedeutungslosen  Schein  herabzusetzen  unter- 
nommen hat,  so  ist  diese  Vorstellungsart  aus  einer  Verkennung  der 
Idee  des  Lebens  und  aus  einer  Hinwegsetzung  über  die  Grundformen 
des  Bewusstseins  entsprungen.  Zum  Theil  hat  hiezu  auch  eine  Ver- 
wechselung des  Beharrlichen,  welches  die  Grundlage  und  das  Gegen- 
bild aller  Veränderungen  liefert,  mit  der  vollständigen  Veränderungs- 
losigkeit  geführt.  Man  fand  sich  durch  den  Hinblick  auf  das 
Bleibende  im  Wechsel  gehoben;  man  glaubte  durch  die  Versenkung 
des  Gedankens  in  dieses  Bleibende  wenigstens  ideell  an  der  unver- 
wüstlichen Dauerbarkeit  theilzunehmen,  und  man  vermeinte  schliess- 
lich das  Beste  zu  thun,  indem  man  das  Unveränderliche  in  das 
Monströse  steigerte  und  zum  einzigen  und  ausschhesslichen  Sein 
stempelte.  So  sind  die  Begriffe  jenes  sich  selbst  gleichen,  verände- 
rungslosen Seins  entstanden,  die  ihren  classischen  Ausdruck  schon 
im  fünften  Jahrhundert  vor  dem  Anfang  unserer  Zeitrechnung  bei 
den  Eleaten  gefunden  haben.  Die  Femhaltung  des  Begriffs  der  Ver- 
nichtung aus  dem  vermeintlich  in  ausschhesslicher  Positivität  zu 
denkenden  Sein  möchte  hiebei  noch  der  am  meisten  logische  Beweg- 
grund gewesen  sein. 

In  der  That  müsste  es  uns  schwer  ankommen,  wenn  wir  das 
der  Vernichtung  Anheimfallende  als  dem  universellen  Sein  gleich- 
artig denken  sollten.  Entstehung  und  Vergänglichkeit  oder  Schöpfung 
und  Vernichtung  sind  Begriffe,  die  sich  auf  das  Hervortreten  der 
Gestalten,  aber  nicht  auf  die  letzten  producirenden  Kjräffce  beziehen, 
vermöge  deren  die  flüchtigen  Gebilde  kommen  und  gehen.  Wenn 
wir  also  auch  in  das  Sein  die  Anlage  zu  allen  Differenzen  und 
Veränderungen  verlegen  müssen,   die  sich  in  seinem  Rahmen  voll- 


—    22    — 

liehen,  so  haben  wir  uns  doch  zu  hüten,  den  Act  der  Erscheinung 
des  VeränderHchen  mit  dem  hervorbringenden  Element  für  einerlei 
zu  halten.  Wir  können  nicht  umhin,  den  Inbegriff  der  Bedingungen 
irgend  welcher  Formen  von  der  jedesmaligen  Erscheinung  dieser 
Formen  zu  unterscheiden.  Jedoch  kommt  die  entscheidende  Klarheit 
in  diese  unvermeidHchen  Doppelvorstellungen  erst  durch  die  Unter- 
scheidung von  Beharrung  und  Veränderung  innerhalb  desselben  Seins. 

Im  universellen  Sein  oder,  was  dasselbe  bedeutet,  im  einheit- 
lichen Weltdasein  ist  keine  Veränderung  denkbar,  die  nicht  auf  der 
Grundlage  einer  Beharrung  vor  sich  ginge.  Beharrung  und  Ver- 
änderung gehören  als  zwei  Bestandtheile  eines  und  desselben  Begriffs 
zusammen.  Eine  reine,  völlig  ungemischte  Beharrung,  in  der  auch 
nicht  das  geringste  Element  von  Veränderung  wäre,  schliesst  zwar 
keinen  Widerspruch  ein,  wäre  aber,  wie  schon  früher  gesagt,  das 
Nichts  des  Lebens.  Mit  ihr  würde  eine  Welt  in  dem  bestimmten 
Sinne,  wie  wir  sie  aJs  thatsächhch  kennen,  nicht  gegeben  sein  kön- 
nen. Dagegen  zeigt  schon  der  Begriff  einer  reinen  Veränderung,  in 
der  nichts  Beharrliches  sein  soll,  an  sich  selbst  seine  ünhaltbarkeit. 
Ein  Anderes  werden,  heisst  nicht  völlig  neu  entstehen,  sondern  als 
das,  was  fi*üher  war,  zum  Theil  fortbestehen,  indem  Etwas  wegfallt 
und  Etwas  hinzutritt.  Zwischen  zwei  verschiedenen  Zuständen,  von 
denen  der  eine  zu  seiner  Abweichung  durch  einen  verändernden 
Uebergang  gelangt  ist,  muss  irgend  ein  Einerlei  als  gemeinsames 
Band  aufzufinden  sein,  und  dieses  beiden  Gemeinschaftliche  ist  das 
beharrliche  Element,  von  dem  die  Veränderung  gleichsam  getragen 
worden  ist.  Absolute  Veränderhchkeit  ist  daher  ein  unvollziehbarer 
Begriff,  weil  das  Anderswerden  in  ihr  gar  keinen  Gegensatz  haben 
würde,  an  dem  es  sich  abheben  und  in  seiner  wesentlichen  Natur 
zeigen  könnte. 

4.  Das  Sein,  als  welches  wir  die  Welt  concipiren,  ist  nicht  jenes 
sogenannte  reine  Sein,  welches,  sich  selbst  gleich,  aller  besondem 
Bestimmungen  ermangeln  soll  und  in  der  That  nur  ein  Gegenbild 
des  Gedankennichts  oder  der  Gedankenabwesenheit  vertritt.  Auch 
ist  es,  wie  schon  dargelegt,  nicht  jenes  absolut  Veränderungslose, 
dessen  Form  man  so  oft  gebraucht  hat,  um  das  Wechselspiel  der 
Erscheinungen  als  ein  Nichts  ausgeben  zu  können.  Weil  wir  nun 
aber  in  unserm  universellen  Sein  Alles  und  jeglichen  Unterschied,  ja 
selbst  die  flüchtigste  Erscheinung  mitbegreifen,  so  müssen  wir  diesem 
Begriff  gemäss  auch  anerkennen,  dass  in  dem  Zusammenhang  der 


—     23     — 

Welt  im  Laufe  der  Entwicklung  neue  Bestandtheile,  neue  Gestalten 
und  neue  Arten  von  Vorgängen  eintreten.  Blosse  Kjeislaufsgebilde 
genügen  durchaus  nicht,  um  die  Beschaffenheit  der  Veränderungen 
zu  erklären.  Die  Reihe  der  Organisationen  und  die  Abfolge  der 
Arten  im  Bereich  der  pflanzhchen  und  thierischen  Gestaltungen  ist 
ein  Beispiel  von  der  Einwirkung  schaffender  Principien,  die  sich 
nicht  mit  der  Wiederhervorbringung  der  bereits  vorhanden  gewese- 
nen Gebilde  begnügen,  sondern  den  Daseins-  und  Lebensformen  neue 
Elemente  hinzufügen.  Diese  schöpferische  Production  inmitten  der 
Daseinsreihe  zeigt,  dass  wir  in  dem  strengen  Begriff  der  Veränderung 
ein  theilweises  Schaffen  und  Vernichten  anerkennen  müssen.  Auch 
geht  es  nicht  an,  diese  erhebliche  Seite  der  Veränderungen  als  ein 
oberflächliches  Spiel  zu  betrachten,  bei  welchem  der  eigentliche  Kern 
der  Dinge  nicht  betheiligt  wäre.  Ueberhaupt  wird  sich  jede  Schöpfung 
als  eine  Häufung  von  Veränderunge  n  ansehen  lassen,  und  wir  werden 
sogar  kein  anderes  Mittel  haben,  in  die  Gesetze  der  Entstehung  eiu- 
zudringen,  als  von  den  unserer  Wahrnehmung  zugänglichen  Ver- 
änderungen auszugehen.  Schaffen  und  Verändern  sind  wesentlich 
von  einundderselben  Natur,  und  das  eine  genau  soweit  begreiflich 
als  das  andere.  Absolute  Schöpfung  wäre  eine  Veränderung,  die 
dem  Nichts  folgte,  und  muss  daher  als  unmöglicher  Begriff  zurück- 
gewiesen werden. 

Der  angegebenen  Vorstellungsart  widerspricht  nun  keineswegs 
die  Forderung,  den  Begriff  des  universellen  Seins  sich  selbst  gleich 
festzuhalten.  Die  Idee  der  Welt  wird  immer  dieselbe  und  sich 
gleiche  sein,  wie  viele  Veränderungen  in  ihrem  Rahmen  auch  ge- 
dacht werden  mögen.  Auf  den  Standpunkt,  von  welchem  aus  die 
Weltconception  vollzogen  werde,  kommt  es  nicht  an;  denn  es  ist 
immer  das  universelle  Denken,  in  welchem  sie  ihren  Ausgangspunkt 
hat.  Alle  Weltbegriffe  müssen  sich  decken,  gleichviel  von  welchem 
Punkte  der  Zeit  oder  des  Raumes  sie  entspringen.  Für  den  Gedanken 
hat  die  zukünftige  Reihe  denselben  Inhalt,  als  wenn  sie  abgelaufen 
wäre,  und  umgekehrt.  Nur  das  Verhältniss  des  Auffassungsortes 
zum  Ganzen  ist  in  diesen  Fällen  ein  verschiedenes;  aber  dieses  Ver- 
hältniss ändert  an  dem  eignen  Inhalt  des  universellen  Gegenstandes 
gar  nichts.  Es  wäre  mithin  ein  Abweg,  zu  meinen,  die  sich  selbst 
gleiche  Natur  des  Weltbegriffs  würde  durch  die  Anerkennung  der 
vollen  Realität  der  Veränderungen  beeinträchtigt.  Nur  dann,  wenn 
man  das  sich  selbst  Gleiche  nicht  auf  den  Begriff  des  universellen, 


~     24     — 

alle  Veränderungen  einschliessenden  Seins,  sondern  auf  die  einzelnen 
mit  einander  verglichenen  Theilzustände  desselben  in  der  Zeit  be- 
zieht, ergiebt  sich  wirklich  die  Veränderungslosigkeit.  Diese  Vor- 
stellung würde  aber  eben  nur  das  ewig  Beharrliche  und  nicht  alle 
seine  Bestimmungen  umfassen.  Der  Satz,  es  bleibe  das  Sein  in 
jedem  Augenblick,  was  es  im  vorangehenden  gewesen,  ist  in  dieser 
Allgemeinheit  falsch  und  muss  auf  die  Beharrungselemente  beschränkt 
werden.  Im  Grunde  der  Dinge  sind  die  Veränderungen  angelegt, 
ehe  sie  hervortreten ;  aber  die  Art,  wie  diese  Dispositionen  sich  inner- 
halb des  Seins  gruppiren,  ergiebt  Verschiedenheiten,  die,  abgesehen 
von  aller  Zeitausdehnung,  vereinigt  gedacht  werden  müssen  und 
innere,  völHg  reale  Veränderungsprincipien  vertreten.  Das  schwie- 
rigste aller  Probleme,  nämlich  die  Bestimmung  der  Art,  wie  die 
Veränderung  vor  ihrer  Erscheinung  in  der  Eiuheit  eines  zeitlich 
punktuellen  imd  eine  ausdehnungslose  Gegenwart  vertretenden  Seins 
enthalten  sein  könne,  wird  also  nur  dadurch  lösbar,  dass  man  ra- 
dicale  Veränderungen  anninunt,  die  dem  Sein  selbst  und  nicht  etwa 
erst  einer  herabzusetzenden  Erscheinungssphäre  angehören. 

5.  Mit  den  Veränderungen,  die  als  innere  Wirklichkeiten  und 
nicht  blos  als  Erscheinungen  gedacht  werden,  ergiebt  sich  auch  der 
wahre  Begriff  der  Differenzen,  die  den  Charakter  der  Weltelemente 
näher  bestimmen.  Gattung  und  Art  oder  überhaupt  Allgemeines  und 
Besonderes  sind  die  einfachsten  Unterscheidungsmittel,  ohne  welche 
die  Verfassung  der  Dinge  nicht  begriffen  werden  kann.  Nun  würde 
es  aber  wiederum  eine  Einseitigkeit  sein,  wenn  wir  nur  ruhende  All- 
gemeinheiten oder,  mit  andern  Worten,  absolut  beharrliche  Gattungen 
annehmen  wollten.  Es  hiesse  dies  offenbar,  über  dem  Beharrlichen 
der  Welt  die  doch  als  völlig  real  gesetzte  Veränderlichkeit  vergessen. 
Das  Allgemeine  kann  äusserlich  als  ein  Gemeinschaftliches  vorgestellt 
werden,  welches  sich  in  einer  Mannichfaltigkeit  von  Besonderheiten 
wiederholt.  Innerlicher  und  tiefer  wird  es  aber  gedacht,  wenn  man 
es  als  ein  schaffendes  Element  begreift,  welches  den  verschiedenen 
Gestaltungen  bildend  zu  Grunde  liegt.  Die  diesem  Bilduugshergang 
entsprechenden  Gebilde  enthalten  das  Allgemeine  oder  die  Gattung 
in  Verbindung  mit  eigenthümlichen  Bestandtheilen  oder  speciellen 
Eigenschaften,  auf  deren  Hinzufügung  der  verändernde  Fortschritt 
beruht.  Die  Hervorbringung  der  besondern  Eigenschaften  und  Com- 
binatiouen  ist  daher  die  entscheidende  Function  in  der  Bestimmung 
der  maiinichfaltigen  Gestalten  der  Daseinselemente.   Wir  müssen  uns 


—     25     — 

die  verschiedenen  Stufen  des  Generellen  und  Speciellen  im  wirklichen 
Hervortreten  der  Erscheinungen  als  Entwicklungen  denken,  die  mit- 
hin wesentlich  auf  Veränderungen  und  zwar  auf  einer  Häufung  der- 
selben gegründet  sind.  Die  Arten  sind  hienach  als  Differenzen  an- 
zusehen, die  an  dem  Fluss  der  Veränderungen  theilhaben.  Nur  die 
einfachen  und  letzten  Unterschiede,  bei  denen  fär  uns  keine  Zerlegung 
mehr  vollziehbar  ist  und  deren  es  auch  an  sich  selbst  geben  muss, 
sind  den  absolut  beharrlichen  Elementen  der  Welt  zuzuzählen.  Die 
sonstige  Variabilität  wird  theils  auf  Zusammensetzung,  theils  auf 
Grössenveränderung  zurückzuführen  sein,  und  die  verschiedenen  For- 
men, welche  geometrische  Gebilde  durchlaufen,  sind  echte  Beispiele 
von  rationellen  Metamorphosen,  zu  denen  eine  Allgemeinheit  in  ihrer 
besondem  Bethätigung  gelangt. 

x4.11e  Entwicklung  des  Besondem  kennzeichnet  sich  dadurch, 
dass  zu  irgend  einem  Etwas  noch  ein  Anderes  hinzugefügt  wird. 
Das  Hinwegnehmen  gehört  zwar  auch  zu  dem  vollständigen  Her- 
gang, wie  er  sich  in  dem  Weltschematismus  vollzieht,  ist  aber  nicht 
wesentlich  an  erster  Stelle  und  jedenfalls  immer  nur  im  Zusammen- 
hang mit  Hinzufügungen  zu  betrachten.  Jenes  Eintreten  des  Andern 
oder,  weniger  abstract  zu  reden,  des  Verschiedenen  ist  das  eigent- 
liche Element  der  Veränderung,  und  grade  ihm  hat  man  den  wahren 
Begriff  von  einer  Ursache  entsprechen  zu  lassen.  Ursache  ist  der 
Grund  der  realen  Veränderung.  Alles  was  im  Sein  eine  Veränderung 
hervorbringt  oder  auf  eine  solche  Hervorbringung  angelegt  ist,  wird 
fiir  einen  strengen  Begriffsgebrauch  den  Inbegriff  der  Ursachen  oder 
Kräfte  erschöpfen.  Hieraus  folgt  aber  sofort,  dass  auch  von  keiner 
Ursache  mehr  geredet  werden  kann,  wo  keine  Veränderung  oder 
Entwicklung  in  Frage  ist.  Nicht  blos  das  universelle  Sein  in  seiner 
Totalität  ist  demgemäss  ursachlos,  sondern  auch  für  die  absolut  be- 
harrlichen Elemente  desselben,  also  namenthch  für  die  Materie,  würde 
die  Frage  nach  einer  Ursache  widersinnig  sein.  Wer  dennoch  so 
fragen  will,  muss  erst  die  Unentstandenheit  der  absolut  beharrlichen 
Elemente  leugnen  oder,  mit  andern  Worten,  der  wüsten  Erdichtung 
anhängen,  dass  im  Sein  gar  nichts  absolut  Beharrliches  vorgestellt 
werde. 

Irgend  ein  Allgemeines,  welches  die  Abfolge  der  Zustände  in 
der  Zeit  bestimmt,  wird  die  Ursächlichkeit  in  Form  einer  Regel  des 
Geschehens  ausdrücken  und  so  ein  Gesetz  der  Verknüpfung  ergeben. 
Diese  eigentlichen  Gesetze,  die  sich  stets  auf  Veränderungen  beziehen. 


—     26    — 

in  denen  es  zu  keiner  ruhenden  Zusammenfassung  kommt,  sind  von 
den  zusammenbestehenden  Gattungseinheiten  zu  unterscheiden.  Die 
letzteren  lassen  sich  bildlich  durch  das  Beharrliche  des  Raumes  vor- 
stellen; aber  auch  sie  schliessen  ein  Element  der  verändernden  Dif- 
ferenz ein,  indem  sie  eine  Mannichfaltigkeit  von  Bestimmungen  in 
einer  einfachen  Einheit  zusammenhalten  und  das  Heraustreten  ihrer 
Anlagen  in  der  Zeit  regeln.  Auf  diese  Weise  ist  klar,  wie  sowohl 
in  den  ruhenden  Gattungen  als  in  den  unmittelbaren  Entwicklungs- 
formen der  Zustände  eine  regulirende  Action  vorhanden  sein  könne. 

6.  Den  Gattungen  gegenüber  steht  der  Begriff  der  Grösse,  als 
desjenigen  Gleichartigen,  in  welchem  keine  Artdifferenzen  mehr  statt- 
haben. Die  Grösse  ist  gleichsam  der  letzte  Ausläufer  aller  Unter- 
scheidungen und  die  Grenze,  wo  die  Stufen  der  Gattungsleiter  auf- 
hören. Aber  grade  deswegen  prägen  sich  in  der  Abtheilung  und 
Gruppirung  des  Quantitativen  die  Gattungen  eigenthümlich  aus,  und 
die  Üebergänge  von  einer  Artgestalt  zu  einer  andern  sind  an  das 
Durchmessen  eines  Grössenspielraums  gebunden. 

Die  Grössen  müssen  immer  als  messbar  gedacht  werden  können 
und  sind  stets  nur  als  begrenzt  gegeben.  Sie  gehören  dem  Sein  als 
innere  und  zwar  völlig  specielle  Bestimmungen  an,  so  dass  sie  den 
besondern  Typen,  Schematen,  Gattungen  und  Arten  beizulegen,  aber 
nicht  unmittelbar  vom  Sein  selbst  auszusagen  sind.  Wie  sie  aber 
auch  den  am  weitesten  von  einander  abstehenden  Verschiedenheiten 
des  Seins  zukommen,  zeigt  ihre  Anwendbarkeit  auf  rein  subjective 
wie  auf  objective  Zustände.  Es  giebt  innerhalb  des  Seins  keine  er- 
heblichere Ungleichartigkeit,  als  die  der  empfindimgslosen  und  der 
empfindenden  Existenzen.  Nun  lässt  sich  von  einem  Mehr  und 
Minder  auch  bei  den  eignen  Empfindungs-  und  überhaupt  Bewusat- 
seinszuständen  reden.  Der  subjective  psychische  Vorgang  ist  nicht 
nur  nach  Gattung  und  Art,  sondern  auch  der  Grösse  nach  aufzu- 
fassen; denn  wo  eine  Häufung  desselben  Gleichartigen  statthat,  da 
haben  wir  Grössen  vor  uns,  auch  wenn  uns  die  Mittel  fehlen  mögen, 
sie  zu  messen. 

Wo  die  Grösse  einem  beharrlichen  Element  des  Seins  zukommt, 
wird  sie  in  ihrer  Bestimmtheit  unverändert  bleiben.  Dies  gilt,  wie 
wir  später  sehen  werden,  von  der  Materie  und  der  mechanischen 
Kraft.  Der  Vorrath  an  Grösse  bleibt  sich  hier  gleich,  und  in  der 
That  lässt  sich  das  Unveränderliche  auch,  insofern  es  Grösse  hat, 
nur  durch  Theilung  oder  Zusammensetzung  betroffen  denken.   Jeder 


—     27     — 

Himrafugung  zu  einem  Theil  des  unveränderlichen  Bestandes  muss 
die  Hinwegnahme  von  einem  andern  Theil  her  entsprechen. 

Die  Grössen  der  Veränderungen  produciren  sich  anscheinend 
unerschöpflich.  Innerhalb  einer  Gattung  vervielfältigen  sich  die 
Einzelgebilde  und  häufen  sich  der  Zahl  nach  derartig,  dass  man 
hier  keinen  Vorrath  annehmen  kann ,  aus  dem  die  Elemente  gleich- 
sam geschöpft  würden.  Die  allgemeinste  Form  einer  solchen  als 
schrankenlos  erscheinenden  Häufung  ist  die  Zeitdauer  oder  Zeitent- 
wicklung selbst.  Indem  wir  genöthigt  werden,  die  Zeit  als  Grösse 
zu  denken,  gelangen  wir  zu  einer  neuen  Gestalt  derjenigen  Frage, 
von  der  wir  ursprünglich  ausgegangen  sind.  Wir  befinden  uns  näm- 
lich vor  einer  neuen  Wendung,  vermöge  deren  sich  die  Unendlichkeit 
im  Sein  in  einer  etwas  veränderten  Weise  aufdrängt.  Wir  stellen 
die  Zeitdauer  als  eine  Ausdehnuugsgrösse  unter  dem  Bilde  einer 
graden  Linie  vor,  die  in  einer  einzigen  Richtung  durchmessen  wird. 
Ist  nun  die  Welt  der  Zeitinhalt,  so  kann  hienach"  von  einer  Grösse 
derselben  und  von  einem  unablässigen  Entstehen  dieser  Grösse  die 
Rede  sein.  Eine  rückwärts  liegende  Unendlichkeit  haben  wir  bereits 
oben  als  innem  Widerspruch  abgewiesen.  Eine  nach  vorwärts  ge- 
richtete Schrankenlosigkeit  können  und  müssen  wir  annehmen;  aber 
es  versteht  sich  trotz  dieser  Schrankenlosigkeit  keineswegs  von  selbst, 
dass  der  reale  Gehalt  der  Welt  auch  deswegen  unablässig  in  Ver- 
änderungen spielen  werde.  Die  Grösse  der  Veränderungen  könnte 
also  bemessen  sein,  während  natürlich  die  absolut  beharrlichen  Ele- 
mente von  einer  Zeitentwicklung  unabhängig  zu  denken  sind. 

7.  Die  Ausdehnung  der  Welt  im  Räume  oder,  kürzer  gesagt, 
den  Rauminhalt  als  eine  messbare  Grösse  zu  denken,  hat  keine 
Schwierigkeit;  denn  die  Unbeschränktheit  des  Räumlichen  bezieht 
sich  nur  auf  das  Leere,  und  wir  sind  keineswegs  genöthigt,  vorzu- 
stellen, dass  darin  eine  Erfüllung  anzutreffen  sei  oder  sein  werde. 
Wir  können  vielmehr  die  ganze  Production  dieser  leeren  Vorstellung 
auf  unsere  eigne  Gedankenthätigkeit  nehmen.  Anders  verhält  es  sich 
mit  der  leeren  Zeit;  denn  sobald  wir  überhaupt  ein  beharrliches  Sein 
annehmen,  so  müssen  wir  es  aucb  als  in  jedem  Zeitpunkt  gegen- 
wärtig denken.  Es  kann  also  keine  Zeit  gegeben  haben  oder  geben, 
die  nicht  als  erfüllt  vorzustellen  wäre.  Nur  ist  genau  darauf  zu 
achten,  dass  diese  noth wendige  Erfüllung  sich  nicht  auf  Verände- 
rungen, sondern  nur  auf  das  Beharrliche  bezieht.  Wir  schliessen 
also  aus  dem  realen  Sein  auf  eine  ihm  unter  allen  Umständen  ent- 


—     28     — 

sprechende  Gegenwart.  Eine  eigentliche  Zeitausdehnung,  durch  welche 
hin  sich  dauernde  Vorgänge  erstreckten,  wird  hiebei  nicht  gefolgert. 

Für  die  Zukunftsvorstellungen  gestaltet  sich  der  eben  dargelegte 
Gedankengang  zu  einem  wichtigen  Ergebniss.  Wir  erkennen  näm- 
lich, dass  zwar  die  Zeitentwicklung  in  ihrer  eigenthümHchen  Form 
nicht  hin  weggedacht  werden  kann,  dass  aber  die  Veränderungen, 
die  ihr  entsprechen  sollen,  an  sich  selbst  einen  realen  Grund  haben 
müssen.  Wenn  also  in  der  Wirklichkeit  der  weitere  Ablauf  von 
Veränderungen  nicht  angelegt  ist,  so  kann  die  blosse  Nothwendig- 
keit  unseres  Vorstellens,  die  Zeitausdehnung  fortzusetzen,  die  An- 
nahme einer  Fortsetzung  des  Spiels  der  Veränderungen  noch  keines- 
wegs rechtfertigen.  Während  der  universelle  Seinsbegriff  unter  allen 
Umständen  bleibt  und  an  ein  absolutes  Nichts  weder  vor  noch  nach 
einer  Reihe  von  Veränderungen  gedacht  werden  kann,  —  während 
im  Gegentheil  die  beharrlichen  Elemente  des  Seins  selbstgenugsam 
auch  ohne  das  specielle  Zeitschema  zu  begreifen  sind,  verhält  sich 
die  Reihe  der  realen  Veränderungen  zu  der  Schöpfung  und  Vernich- 
tung der  Zeittheilchen  in  einer  ähnlichen  Weise,  wie  die  materielle 
Erfüllung  zum  leereu  Räume.  Die  Zeitgrössen,  die  wir  in  Gedanken 
häufen  mögen,  verbürgen  uns  daher  auch  in  der  Zukunft  eine  Un- 
endlichkeit der  veränderlichen  Wirklichkeit  ebensowenig,  als  etwa 
der  in  Gedanken  erweiterte  leere  Raum  die  Fortsetzung  der  Materie. 
Was  wir  aber  jedenfalls  voraussetzen  müssen,  ist  eine  beharrliche 
Wirklichkeit,  die,  sich  selbst  gleich,  auch  nicht  die  geringste  Aus- 
dehnung in  der  Zeit  zum  Wesen  ihres  Bestandes  hat. 

Die  wirkliche  Welt  hat  einen  Inhalt,  der  dem  ausdehnungslosen 
Augenblick  entspricht,  also  keines  Ablaufs  auch  nur  der  geringsten 
Zeitgrösse  bedarf,  um  als  seiend  gedacht  zu  werden.  Zwischen  zwei 
Zeitpunkten  ist  das  Ganze  der  Welt  offenbar  vorhanden,  gleichviel 
wie  nahe  wir  dieselben  einander  rücken.  Auch  wenn  wir  sie  zu- 
sammenfallen lassen,  hören  nur  die  Vorgänge,  Actionen  und  Em- 
pfindungen gänzlich  auf,  aber  die  reale  Grundlage  der  Welt  bleibt 
unberührt  bestehen.  Die  strenge  Gegenwart  eines  ausdehnungslosen 
Zeitpunkts  ist  also  die  Form,  in  welcher  wir  die  Wirklichkeit  un- 
abhängig von  der  wahrnehmbaren  Entwicklung  zu  denken  haben. 
Die  unbeschränkte  Häufung  der  zukünftigen  Zeitgrössen  producirt 
in  strenger  Beziehung  auf  jene  scharf  gedachte  Gegenwart  gar  nichts; 
denn  vom  Standpunkt  dieser  Gegenwart  giebt  es  kein  Zeittheilchen, 
welches  nicht  entweder  Zukunft  oder  Vergangenheit,  also  etwas  wäre, 


—     29     — 

was  entweder  noch  nicht  ist,  oder  schon  gewesen  ist.  Der  Schema- 
tismus der  Zeitentwicklung  ist  hienach  innerhalb  des  universellen 
Seins  eine  eigenthümliche  Gattung,  in  welcher  die  unbeschränkte 
Vorstellung  der  Grössenhäufiing  weder  für  noch  gegen  einen  Ab- 
schluss  der  realen  Veränderungsreihe  sprechen  kann.  Dasselbe  lo- 
gische Mittel,  welches  die  Reihe  der  Veränderungen  nach  der  einen 
Seite  hin  einer  widersprechenden  Unendlichkeit  entzog,  ist  für  die 
andere  Seite  nicht  vorhanden,  und  hierin  liegt  die  Gewähr,  dass  der 
Fortschritt  der  Veränderungen  ins  Schrankenlose  wenigstens  möglich 
ist,  wenn  er  auch  immerhin  erst  durch  die  besondere  Natur  der  in 
der  Wirklichkeit  gegebenen  Entwicklungsanlage  gerechtfertigt  wer- 
den muss. 


!Z-^?ü^eites  Oapitel- 
Logische  Eigenschaften  des  Seins. 

Zu  den  Elementarbegriffen  der  Weltauffassung  treten  als  weniger 
einfache  Gesichtspunkte  diejenigen  auf  den  Zusammenhang  des  Seins 
bezüglichen  Charaktere  hinzu,  die  sich  nur  im  Hinblick  auf  die  lo- 
gischen Gestalten  der  Gedankenverknüpfung  näher  bezeichnen  lassen. 
Man  würde  diese  Grundeigenschaften  des  Seins  gar  nicht  aufgefun- 
den oder  wenigstens  nicht  in  ihrer  eigenthümlichen  Natur  erkannt 
haben,  wenn  man  nicht  von  den  Principien  der  logischen  Verknüpfung 
und  des  logisch  Möglichen  ausgegangen  wäre.  Ja  es  hat  sogar  über- 
haupt der  rein  ideelle  Zusammenhang  des  logischen  und  des  mathe- 
matischen Gebiets  den  besten  Denkern  die  Anknüpfungspunkte  liefern 
müssen,  um  indirect  eine  Vorstellung  von  der  verstandesmässigen 
Systematik  der  Welt  zu  gewinnen.  Dessenungeachtet  würde  es  aber 
ein  Fehlgriff  sein,  den  Weg  und  das  Mittel  der  Erkenntniss  mit 
den  zu  erkennenden  Verhältnissen  für  einerlei  zu  halten.  Die  Welt- 
verhältnisse sind  keine  Verkörperung  unserer  logischen  Merkmale 
der  Wahrheit;  sie  sind  weit  mehr  als  dies;  denn  die  Nothwendig- 
keit  unserer  subjectiven  Logik  wird  von  ihnen  getragen.  Weit  ent- 
fernt also,  dass  die  Grundbeziehungen  im  Sein  in  irgend  einer  sub- 
jectiven Instanz,  also  in  irgend  einem  Denken  ihren  Halt  hätten, 
sind  sie  vielmehr  umgekehrt  diejenigen  Mächte,  vermöge  deren  alle 
Denkgesetze  producirt  werden.     Wenn  wir  metaphorisch  von  einer 


—     30     - 

innem  Logik  der  Dinge  oder  von  einer  objectiven  Logik  der  Natur 
reden,  so  bedienen  wir  uns  eben  einer  Vergleichung,  in  welcher  die 
Aehnlichkeit  in  einer  einzigen  Beziehung  über  die  fundamentale  Un- 
gleichheit hinwegsehen  lässt.  Es  hiesse,  auf  das  Niveau  der  kindi- 
schen Phantasien  der  Völker  hinabsteigen,  wenn  man  das  Verfahren 
eines,  seiner  Natur  nach  immer  subjectiven  Denkens  mit  seinen  Ge- 
sichtspimkten  für  die  Hervor-bringung  der  Wahrheit  in  das  Sein 
hinein  dichten  wollte,  in.  welchem  alle  Gedanken  erst  als  secundäre 
Erzeugnisse  auftreten.  Verstehen  wir  aber  jene  bildhche  üebertragung 
nach  Maassgabe  ihrer  eignen  Grenzen,  so  brauchen  wir  allerdings 
an  den  fraglichen  Redeweisen  keinen  Anstoss  zu  nehmen,  sondern 
können  uns  derselben  sogar  bedienen,  um  in  Kürze  den  rationellen 
Zusammenhang  der  Dinge  anzudeuten.  Die  gegenseitige  Verbürgung 
des  Denkens  und  des  Seins  beruht  auf  ihrer  realen  Eioheit.  Das 
feubjective  ist  als  solches  zwar  niemals  in  dem  nichtdenkenden  Gan- 
zen der  Natur  vorauszusetzen;  wohl  aber  weist  es  uns  auf  rein  ob- 
jective  Verhältnisse  hin,  deren  Siun,  obwohl  sie  keine  Denkthätig- 
keiten  sind,  dennoch  aus  den  correspondirenden  Gestalten  unserer 
Vorstellungen  entnommen  werden  kann. 

Der  erste  und  wichtigste  Satz  über  die  logischen  Grundeigen- 
schaften des  Seins  bezieht  sich  auf  den  Ausschluss  des  Widerspruchs. 
Das  Widersprechende  ist  eine  Kategorie,  die  nur  der  Gedanken- 
combination,  aber  keiner  Wirklichkeit  angehören  kann.  In  den 
Dingen  sind  keine  Widersprüche  oder,  mit  andern  Worten,  der  real 
gesetzte  Widerspruch  ist  selbst  der  Gipfelpunkt  des  Widersinns.  Man 
verstösst  gegen  das  logische  Fundamentalprincip  der  Contradiction 
stets  nur  dadurch,  dass  man  das  Unvereinbare  als  vereinbar  setzt 
und  überhaupt  etwas  als  das  einführt,  was  es  nicht  ist.  Nun  schliesst 
die  Natur  eine  Menge  von  Veranstaltungen  der  Unvereinbarkeit  ein, 
die  als  solche  im  Denken  anerkannt  sein  wollen,  und  auf  deren  Vor- 
handensein die  Verfassimg  der  Dinge  mit  ihren  Schranken  und  be- 
messenen Möghchkeiteu  beruht.  Setzte  man  nun  diese  Unvereiubar- 
keiten  als  das,  was  sie  nicht  sind,  nämlich  als  Vereinbarkeiten,  so 
würde  man  hiemit  die  Realität  des  Widerspruchs  in  die  Welt  hinein- 
dichten. Am  leichtesten  triumphiren  wir  über  derartige,  aus  der 
Verworrenheit  des  Denkens  stammende  Zumuthungen,  wenn  wir 
unsern  Standpunkt  da  wählen,  wo  man  zwischen  subjectiver  Vor- 
stellung und  objectiver  Wahrheit  keine  besondere  Brücke  zu  schlagen 
hat.    Der  Satz,  dass  zwei  mal  zwei  gleich  vier  ist  und  nicht  gleich 


—   ai   — 

fünf  sein  könne,  ist  von  einer  Beschaffenheit,  dass  es  eine  meta- 
physische Albernheit  sein  würde,  auch  nur  fragen  zu  wollen,  ob 
dieser  subjectiven  Denkbestimmung  ein  objectiver  Sachverhalt  ent- 
sprechen müsse.  Es  lässt  sich  nämhch  in  Fällen  dieser  Art  gar 
nicht  angeben,  wie  eine  subjective  von  einer  objectiven  Seite  getrennt 
werden  solle.  Die  Einheit  und  Ungetheiltheit  der  realen  und  ideellen 
Nothwendigkeit  ist  hier  so  vollkommen,  dass  man  sie  als  Typus  für 
alle  Nothwendigkeit  brauchen  kann,  bei  welcher  die  Spaltung  in 
Subjectives  und  Objectives  auf  eine  trügerische,  die  absolute  Geltung 
des  Verstandes  gefährdende  Weise  unternommen  wird. 

2.  Das  Absurde  als  absurd  setzen,  heisst  zunächst  im  Gedanken 
die  Ausschhessung  der  unvereinbaren  Ideen  anerkennen.  Einen  ent- 
sprechenden Sinn  hat  dieser  Act  dann  aber  auch  weiter  in  der  Natur 
der  Dinge,  indem  er  dort  die  absoluten  realen  Hindemisse  der 
Existenz  zum  Ausdruck  bringt.  Der  Hebel  kann  nicht  im  Gleich- 
gewichte sein,  wenn  real  die  Bedingungen  seiner  Bewegung  gegeben 
sind.  Ihn  im  Gleichgewicht  denken  und  zugleich  eine  Anordnung 
der  Gewichte  vorstellen,  die  zur  Bewegung  führt,  heisst  in  Gedanken 
das  Widersprechende  als  zusammenstimmend  annehmen.  In  der 
Wirklichkeit  heisst  es  aber,  die  logische  Schranke  der  Natur  ver- 
kennen und  das  nach  ihrer  nothwendigen  Verfassung  Unvereinbare 
als  vereinbar  setzen.  Ich  rede  hier  absichtlich  von  einer  nothwen- 
digen Verfassung,  weil  eine  Natureinrichtung,  neben  der  noch  an- 
dere, das  Widersprechende  verwirklichende  Veranstaltungen  möglich 
wären,  grade  das  Widerspiel  unserer  Wahrheit  vertreten  würde. 
Doch  ist  hier  noch  nicht  der  Ort,  die  völhge  üebereinstimmung  der 
Charaktere  der  Nothwendigkeiten  im  Denken  und  in  der  ungedachten 
Wirklichkeit  darzulegen. 

Das  eben  gebrauchte  Beispiel  des  Hebels  kann  nebenbei  auch 
noch  lehren,  dass  der  logische  Widerspruch  und  die  zugehörige  reale 
Unvereinbarkeit  mit  dem  natürlichen  Widerstreit  in  den  Dingen  un- 
mittelbar gar  nichts  gemein  haben.  Der  Antagonismus  von  Kräften, 
die  sich  in  entgegengesetzter  Richtung  aneinander  messen,  ist  sogar 
die  Grundform  aller  Actionen  im  Dasein  der  Welt  und  ihrer  Wesen. 
Dieser  Widerstreit  der  Kräffcerichtungen  der  Elemente  und  der  In- 
dividuen fallt  aber  nicht  im  Entferntesten  mit  dem  Gedanken  einer 
Verwirlvlichung  von  Widerspruchsabsurditäten  zusammen.  Die  realen 
Gegensätze  oder  Gegentheile  bewegen  sich  vielmehr  innerhalb  des- 
jenigen Spielraums,  an  dessen  äussersten  Enden  die  Grenzüberschrei- 


—     32     — 

tung  wirklich  eine  Absurdit^  ergeben  würde.  Jedoch  ist  es  fast  zu 
elementar,  auch  noch  den  Unterschied  des  logischen  Widerspruchs 
und  des  logischen  Gegensatzes  herbeiziehen  zu  wollen,  zumal  der 
letztere  nur  die  quantitativen  Extreme  bezeichnet  und  daher  nicht 
als  Beispiel  gebraucht  werden  darf,  um  das  rein  sachliche  Verhältniss 
des  Widerstreits  der  Kräfte  zu  erläutern.  Der  Antagonismus  ist  ein 
Grundschema  der  Weltverfassung ;  aber  die  rein  logischen  Kategorien 
sind  in  ihrer  bisherigen  traditionellen  Gestaltung  nicht  geeignet,  für 
dieses  Grundverhältniss  der  Dinge  eine  unmittelbare  Deckung  zu  er- 
geben. Nur  diejenige  Logik,  welche  sich  zur  Weltschematik  erweitert, 
ist  auch  im  Stande,  sich  mit  solchen  Wirklichkeitsbegriffen  zu  be- 
reichern, die  über  die  Verknüpfangsformen  des  auf  sich  selbst  be- 
schränkten Denkens  hinausreichen.  Der  abstracte  Gedanke  der  logi- 
schen Verneinung  genügt  durchaus  nicht,  um  hier  die  Brücke  zu 
schlagen.  Das  Wirkliche  will  in  seiner  Unmittelbarkeit  schematisirt 
sein;  es  darf  nicht  derjenigen  Eigenschaften  entkleidet  werden,  die 
ihm  über  die  gewöhnHchen  logischen  Charaktere  hinaus  zukommen; 
man  darf  sich  also  bei  seiner  Kennzeichnung  nicht  mit  der  Berufung 
auf  eine  innere  radicale  Negation  abfinden  wollen;  denn  die  gegen- 
seitigen Beschränkungen  der  Existenzen  sind  weit  mehr  als  einfache 
Verneinungen.  Ohne  die  Rücksicht  auf  die  bestimmtere  Natur- 
beschaffenheit und  namentlich  auf  das  mathematische  Element  aller 
Vorgänge  ist  es  unmögHch,  die  Gesetze  des  Antagonismus  anschau- 
lich zu  erkennen,  und  wir  verweisen  daher  die  speciellere  Elrledigung 
dieser  Grundform  des  Weltdaseins  in  die  unmittelbar  auf  die  Natur 
bezüglichen  Erörterungen. 

Hier  können  wir  zufrieden  sein,  die  Nebel,  die  aus  vermeint- 
hchen  Mysterien  der  Logik  aufzusteigen  pflegen,  durch  einen  klaren 
Begriff  von  der  wirklichen  Absurdität  des  realen  Widerspruchs  auf- 
gelöst und  die  Nutzlosigkeit  des  Weihrauchs  dargethan  zu  haben, 
welchen  man  für  die  der  antagonistischen  Weltschematik  miter- 
geschobene  und  recht  plump  geschnitzte  Holzpuppe  von  Wider- 
spruchsdialektik hier  und  da  verschwendet  hat. 

3.  Es  ist  nicht  blos  das  oberste  Princip  der  Logik  in  seiner 
wesentlich  negativen  Gestalt,  was  auch  im  Sein  maassgebend  wird, 
sondern  es  ist  überhaupt  und  in  positiver  Weise  die  Eigenschaft 
eine«  logischen  Zusammenhangs,  die  sich  im  universellen  Sein  in 
jeder  Richtung  und  aus  jedem  Gesichtspunkt  antreffen  lassen  muss. 
Die  innere  Consequenz  und  Systematik  der  Dinge  verleugnet  sich 


-     33     — 

nirgend  nnd  es  kommt  nur  darauf  an,  für  diese  BeschaflPenheit  der 
Welt  den  richtigen  Ausdruck  zu  finden.  Hier  wo  wir  unsere  Aus- 
gangspunkte von  der  Logik  und  den  Eigenschaften  eines  ideellen 
Zusammenhanges  nehmen,  werden  wir  als  principielle  Formel  am 
besten  den  Satz  an  die  Spitze  stellen,  dass  im  realen  Sein  an  sich 
selbst  ebenso  wie  im  blossen  Denken  eine  durchgängige  Begründung 
und  demgemäss  im  Erkennen  eine  ausnahmslose  Begrün  dbarkeit  aller 
Theilbeziehungen  statthabe.  Man  pflegt  diese  durchgängige  Begrün- 
dung als  Gesetz  der  Causalität  hinzustellen,  oder  in  noch  modernerer 
Fassung  von  einer  unverbrüchlichen  Gesetzmässigkeit  und  Noth- 
wendigkeit  des  Laufes  der  Dinge  zu  sprechen.  Beide  Bezeichnungs- 
und Vorstellungsarten  bedürfen  aber  einer  erheblichen  Berichtigung 
und  Erläuterung,  wenn  sie  nicht  die  Träger  einer  als  falsch  nach- 
weisbaren Metaphysik  älterer  Art  bleiben  sollen. 

Am  unschuldigsten  ist  der  Gedanke  einer  durchgängigen  Gesetz- 
mässigkeit der  Vorgänge.  Hauptsächlich  von  der  neuern  Natur- 
wissenschaft und  der  durch  sie  erzeugten  Denkweise  getragen,  hat 
er  ursprünglich  seine  sichtbarsten  Stützen  in  der  unorganischen  Welt 
und  in  den  mechanischen  Noth wendigkeiten  gefunden  und  ist  von 
Gebiet  zu  Gebiet  ausgedehnt  worden,  bis  endlich  seine  empirischen 
Eroberungen  durch  Vermittlung  der  Statistik  auch  den  Spielraum 
menschlicher  Handlungen  zu  betreten  wagten.  Die  unaufhaltsame 
Consequenz  des  philosophischen  Denkens  hat  ihn  abgeschlossen  und 
macht  jetzt  auch  praktischen  Ernst  mit  der  Idee,  dass  keine  sub- 
jective  Regung,  keine  Vorstellung,  kein  Willensact  und  kein  Ein- 
sichtselement in  einem  Wesen  auftauche,  ohne  in  dem  universellen 
gesetzmässigen  Zusammenhang  seine  Begründung  zu  haben  oder,  mit 
andern  Worten,  gesetzmässig  aus  den  gegebenen  Bedingungen  und 
Umständen  erfolgt  zu  sein.  Das  Reich  der  Gedanken  und  Empfin- 
dungen ist  hienach  um  nichts  weniger  gesetzmässig,  als  das  der 
übrigen  Natur.  Was  man  sonst  nur  im  engeren  Sinne  Naturgesetz 
nannte,  gilt  in  einer  weiteren  Bedeutung  für  alle  Arten  und  Theile 
des  Seins.  Die  Doppelheit  in  der  Vorstellungsart  ist  hiemit  be- 
seitigt. Es  giebt  keine  Schranke,  wo  das  sonst  Alles  beherrschende 
Gesetz  Halt  zu  machen  und  das  Walten  einer  unmotivirten,  aus  dem 
Nichts  entscheidenden  Willkür  anzuerkennen  hätte.  Unter  den  spe- 
cialistischen  Schriftstellern  wehrt  sich  namentlich  ein  Theil  der  Histo- 
riker noch  im  Interesse  des  kurzsichtigen  und  inconsequenten  Dua- 
lismus, und  er  wird  hierin  von  den  Traditionen  einer  halben  Philo- 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  3 


—     34     - 

Sophie  unterstützt,  die  noch  immer  die  Reste  der  kindischen  Welt- 
ansichten mit  ihren  mährchenhaften  Will  kür  Spielereien  conserviren 
möchte.  Aber  auch  die  Gebiete  der  Biographie  und  Geschichte 
werden  sich  der  ehernen  Nothwendigkeit  nicht  entziehen,  und  es 
wird  nur  eines  etwas  klareren  Verständnisses  der  Grundgesetze  alles 
Denkens,  Wollens  und  Handelns  bedürfen,  um  auch  hier  wenigstens 
die  ehrlichen  Pfleger  der  Wissenschaft  für  die  Vorstellung  der  un- 
verbrüchlichen Gesetzmässigkeit  zu  gewinnen. 

Der  Satz  der  Logik,  dass  sich  aus  und  mit  Nichts  auch  Nichts 
begründen  lasse,  hat  sein  reales  Gegenbild  in  der  Wahrheit,  dass 
sich  im  Sein  aus  und  mit  Nichts  auch  Nichts  ergeben  könne.  Ver- 
gessen wir  aber  hiebei  nicht,  dass  auch  nach  der  rein  logischen 
Vorstellung  die  Axiome  einer  Begründung  weder  fähig  noch  bedürftig 
sind.  Diesen  Axiomen  entsprechen  in  der  Wirklichkeit  die  elemen- 
taren Thatsachen  des  Seins,  die  aber  deswegen  nicht  aufhören,  die 
durchgängige  Gesetzmässigkeit  zu  vertreten.  Ja  sogar  sind  sie  es 
grade,  deren  innere  Nothwendigkeit  und  Selbstgewissheit  sowohl  im 
Logischen  wie  im  Realen  die  Entstehung  falscher  Unendlichkeiten 
verhindert  und  an  die  Stelle  der  unendhchen  logischen  oder  realen 
Reihen,  mit  denen  die  bisherige  Metaphysik  nicht  recht  fertig  zu 
werden  wusste,  einen  natürlichen  Abschluss  zu  setzen  erlaubt.  Diese 
vollkommene  Uebereinstimmung  der  logischen  Gesammtform  des 
Wissens  mit  der  realen  Verfassung  des  Seins  wii*d  im  nächsten  Ca- 
pitel  genauer  ins  Auge  zu  fassen  sein ;  hier  aber  kann  sie  uns  als 
Erinnerung  an  die  richtige  Fassung  der  Begriffe  der  Gesetzmässig- 
keit und  Nothwendigkeit  dienen.  Die  durchgängige  Begründung  im 
Sein,  die  man  früher  in  das  falsche  metaphysische  Dogma  vom  zu- 
reichenden Grunde  verwandelte,  imd  die  man  gegenwärtig  weniger 
anstöbsig,  aber  darum  noch  nicht  sonderlich  richtiger,  als  CausaUtäts- 
gesetz  zu  formuliren  pflegt,  —  diese  ausnahmslose  Begründung  im 
universellen  Sein  hat  keinen  andern  Sinn  als  die  vollständige  Be- 
gründbarkeit  in  einem  logischen  Zusammenhange.  Diese  letztere 
Begründbarkeit  hat  nun  aber  ihre  Schranke  und  zugleich  ihre  Vollen- 
dung in  den  Axiomen,  und  sowenig  durch  die  Selbstgewissheit.  der 
Einsichten  die  Wissenschaft,  ebensowenig  wird  durch  die  Selbst- 
genügsamkeit der  Thatsachen  die  Natur  beeinträchtigt.  Im  Gegen- 
theil  ist  sogar  die  aus  sich  selbst  stammende  Thatsächlichkeit  ein 
treues  Gegenbild  der  ursprünglichen,  durch  den  blossen  unmittel- 
baren Einsichtsact  verbürgten  axiomatischen  Nothwendigkeit.   Aller- 


—     35     — 

dings  giebt  es  keine  Noth wendigkeit  aus  Nichts  und  in  diesem  Sinne 
also  auch  keine  voraussetzungslose  Noth  wendigkeit;  aber  wohl  giebt 
es  eiue  Nothwendigkeit,  die  nicht  auf  der  Reihe  der  Begründungen 
beruht,  sondern  selbst  die  Elemente  zu  diesen  Begründungen  liefert 
und  in  diesem  Sinne  keine  speciellen  Voraussetzungen  in  Gründen 
oder  Ursachen  haben  kann.  Worauf  es  also  besonders  ankommt, 
ist  die  Ausmerzung  des  noch  heute  und  zwar  nicht  blos  in  der  Halb- 
philosophie, sondern  auch  in  den  positiven  Wissenschaften  gepflegten 
Yorurtheils  der  altem  Metaphysik,  dass  die  Kette  der  ursächlichen 
Verknüpfung  keine  absoluten  Elemente  voraussetze,  und  dass  alle 
reale  Nothwendigkeit  in  unendliche  CausaUtätsreihen  auslaufe. 

4.  Die  Nothwendigkeit  ist  das  Letzte  und  Höchste,  wozu  wir 
in  einer  rationellen  Weltvorstellung  gelangen.  Handelte  es  sich  hier 
schon  um  die  Fragen  nach  der  Befriedigung  des  Gemüths  und  nach 
der  Abfindung  mit  den  schlimmen  Seiten  des  Daseins,  so  würden 
wir  in  letzter  Instanz  auch  keine  andere  Beruhigung  antreffen,  als 
die  Ergebung  in  eine  ursprüngliche,  in  der  Natur  des  Seins  ent- 
haltene und  daher  unabweisliche  Nothwendigkeit.  Wenn  es  nicht 
dieselbe  Nöthigung  ist,  vermöge  deren  zwei  mal  zwei  gleich  vier 
sein  muss,  wodurch  alle  andern  Verhältnisse  und  Schicksale  im  Sein 
bestimmt  werden,  so  bleiben  die  üblen  Thatsachen  des  Weltzusammen- 
hangs für  jedes  weiter  denkende  Wesen  unerträglich.  Das  Zurück- 
greifen auf  irgend  einen  Willen  ist  die  empörendste  Auskunft  unter 
allen;  denn  sie  muss -bei  näherer  Betrachtung  in  der  That  zur  In- 
dignation gegen  diesen  Willen  führen,  der  sich  auf  so  Vieles  ge- 
richtet hat,  was  ohne  Rücksicht  auf  die  Nothwendigkeit  nur  einen 
Fluch  werth  sein  könnte.  Es  ist  also  nicht  blos  das  Interesse  der 
letzten  und  endgültigen  Erkenntniss,  sondern  auch  dasjenige  der 
Leidenschaften,  in  einem  Aeussersten,  was  nicht  anders  sein  und 
werden  konnte,  als  es  ist,  die  letzte  Ruhe  und  das  ideelle  Gleich- 
gewicht aufzufinden.  Nun  behaupte  ich,  dass  nur  diejenigen  Systeme 
der  Weltauffassung,  welche  sich  in  der  Richtung  auf  jene  letzte 
Nothwendigkeit  bewegten,  im  Sinne  wahrer  Philosophie  fortschritten. 
Jede  andere  Lösung  kann  nur  eine  Scheinlösung  sein,  weil  sie,  welche 
Gestalt  sie  auch  annehmen  möge ,  unwissenschaftlich  geartet  sein 
muss.  Die  Erkenntniss  in  der  rein  ideellen  Sphäre  beruhigt  sich 
bei  den  Axiomen,  die  in  dem  blossen  Denkact  die  Gewähr  tragen, 
dass  etwas  nicht  anders  gedacht  werden  könne,  als  es  eben  in  dem 
Axiom  gedacht  worden  ist.    Die  Erforschung  der  realen  Welt  kann 


—     Be- 
sieh auf  eine  andere  Weise  befriedigen;   denn  auch  ihr  sind  letzte 
Noth wendigkeiten  in  der  Gestalt  absoluter  Thatsachen  zugänglich. 

Man  würde  von  den  Nothwendigkeiten  im  Sein  eine  falsche 
Vorstellung  hegen,  wenn  man  sie  nach  dem  gemeinen  Schema  der 
abgeleiteten  Nothweudigkeit  denken  wollte.  Hiezu  könnten  die 
schielenden  Fassungen  des  Causalitätsgesetzes ,  die  heute  nicht  blos 
in  der  Metaphysik  vorherrschen,  allerdings  Veranlassung  geben. 
Erinnern  wir  uns  jedoch  im  Gegensatz  zu  diesen  Fehlgriffen,  dass 
die  Causalität  nur  auf  Veränderungen  und  Differenzen  bezogen  wer- 
den kann,  und  dass  sie  neben  sich  die  Identität  oder  die  sich  selbst 
gleiche  Beharrung  als  gleich  wesentliche  Grundform  zugesellt  erhalten 
muss.  Identität  und  Causalität  der  Thatsachen  zeigen  erst  in  ihrer 
Verbindung,  wie  man  dem  Schematismus  des  Daseins  gerecht  werden 
könne.  Die  Frage  nach  dem  Warum  ist  nicht  überall  angebracht, 
und  diejenige  nach  dem  Warum  des  Warum  kann  unter  Umständen 
sogar  eine  Maske  sein,  mit  der  sich  die  kindische  Leerheit  des  Ge- 
dankens den  Anschein  des  Geistreichen  geben  möchte.  Die  ganze 
Dogmatik  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde  hat  einen  Theil  dieser 
Hohlheit  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  verleugnen  können,  wie 
sich  besonders  zeigt,  wenn  sie  für  jedes  fundamentale  Etwas,  welches 
gar  keine  Veränderung  und  nicht  einmal  eine  denkbare  Differenz 
gegen  einen  andern  Zustand  einschliesst,  trotzdem  eine  Ursache  ver- 
langt. Hienach  müsste  z.  B.  die  Materie  eine  Ursache  haben,  ver- 
möge deren  sie  nach  einer  R^el  das  irgend  einmal  geworden  wäre, 
was  sie  ist.  Ueberträgt  man  diese  kurzsichtige  und  thörichte  Art 
eines  halben  Denkens  auf  das  rein  ideelle  Gebiet  logischer  und  ma- 
thematischer B^riffe,  so  müssten  für  die  axiomatischen  Fundamental- 
verhältnisse ebenfalls  noch  Principien,  Regeln  oder  Gesetze  gesucht 
werden,  aus  denen  sie  so  zu  sagen  erst  geschaffen  wären.  Ihr  So- 
undnichtanderssein  würde  nicht  durch  sich  selbst,  sondern  anders- 
woher Geltung  haben,  und  man  sieht  leicht  ein,  dass  sich  hier  ein 
Luxus  von  falschen  Unendlichkeiten  sehr  billig  anbietet.  Die  rück- 
wärts führende  R«ise  in  die  Wüste  jener  auf  Gedankenleerheit  be- 
ruhenden Unendlichkeiten  ist  freilich  ein  beliebtes  Mittel,  die  Grund- 
formen des  Verstandes  zu  Schlingen  zu  machen,  mit  denen  er  sich 
selbst  das  Athmen  in  der  freien  Weite  für  immer  verschnüren  oder 
wenigstens  verleiden  soll.  Die  zurückschreitende  unendliche  Causa- 
litätsreihe  ist  in  doppelter  Beziehung  eine  Täuschung.  Erstens  wird 
sie  durch  die  blosse  Kritik  des  Begriffs  einer  vollendeten  Unendlich- 


—     37     — 

keit  hinfällig;  denn  eine  unendliche  Zahl  von  Ursachen,  die  sich 
bereits  aneinandergereiht  haben  soll,  ist  schon  darum  undenkbar, 
weil  sie  die  Unzahl  als  abgezählt  voraussetzt.  Hienach  ist  also  noch 
nicht  einmal  die  besondere  Eigenschaft  des  Begriffs  Ursache  in 
Frage  gekommen  und  dennoch  schon  diese  Species  der  unendlichen 
logischen  Reihen  als  absurd  abgewiesen.  Zweitens  ist  der  genaue 
Begriff  einer  Ursache  stets  mit  dem  Hinblick  auf  eine  Veränderung 
oder  Differenz  verbunden.  Nur  insofern  die  Zustände  sich  unter- 
scheiden, kann  man  nach  Ursachen  dieser  Unterschiede  fragen,  und 
überdies  muss  man  auch  die  Möglichkeit  der  Hervorbringung  eines 
Unterschieds  durch  Differenzirung  absehen.  Wo  eine  solche  Möglich- 
keit nicht  vorhanden  ist,  da  wird  die  Anwendung  des  Begriffs  der 
Causalität  widersinnig.  Nun  muss  man  bei  aller  intellectuellen  Zer- 
legung schliesslich  auf  Elemente  stossen,  bei  denen  die  Gesichts- 
punkte der  Trennung  und  Unterscheidung  aufhören,  einen  Sinn  zu 
behalten.  Das  Sichselbstgleiche  und  Beharrliche  sowie  überhaupt 
das  rein  Dingliche  und  Substantielle,  bei  welchem  von  keinem  Ge- 
schehen und  Anderssein  die  Rede  sein  kann,  entzieht  sich  durch 
seine  eigne  Natur  den  albernen  Versuchen,  es  in  ungeeignete  Formen 
pressen  und  das  Causalität sgesetz  darauf  anwenden  zu  wollen.  Wir 
werden  also  in  allen  Richtungen  wieder  zu  unsem  primitiven  Noth- 
wendigkeiten  zurückgeführt,  und  die  Anwesenheit  wie  die  Abwesen- 
heit der  Causalität  bleibt  nicht  blos  in  den  besondern  Gattungen 
ursächlicher  Verknüpfung  eine  bestimmte,  aus  Thatsachen  zu  ent- 
scheidende Frage,  sondern  wird  auch  ganz  im  Allgemeinen  durch 
bestimmte  Beschaffenheiten  der  Realität  angezeigt.  Es  ist  nicht 
Alles  und  Jedes  mit  Allem  und  Jedem  in  jeglicher  Richtung  nach 
der  Kategorie  der  Causalität  in  Verbindung  zu  setzen,  und  schon 
hiemit  werden  die  Voreiligkeiten  hinfallig,  deren  sich  namentlich 
die  dogmatische,  wenn  auch  kiitisch  genannte  Seite  der  Causalitäts- 
theorie  in  der  Auffassung  Kants  und  seiner  Nachfolger,  besonders 
aber  Schopenhauers,  schuldig  gemacht  hat.  Mit  strenger  Wissenschaft 
sind  diese  letztem  Rechenschaftsablegungen  über  die  Causalität  nicht 
verträglich,  indem  sie  die  Functionen  des  Verstandes  in  ungeeigneter 
Weise  beschränken,  nachdem  sie  dieselben  zuerst  durch  ein  falsches 
System  von  Anwendungen  compromittirt  haben. 

5.  Es  Hessen  sich  die  logischen  Eigenschaften  des  Seins  in 
mannichfaltigen  Richtungen  noch  weiter  verfolgen;  aber  wir  müssen 
uns  daran  genügen  lassen,  die  obersten  Begriffe  dieses  Gebiets  fest- 


—     38     — 

gestellt  zu  haben,  und  jetzt  diese  principiellen  Einleitungen  durch 
einen  Gesammtbegriff,  nämlich  denjenigen  der  Systemnatur  des  Seins 
abzuschliessen.  Die  Ausfüllung  des  zwischen  den  beiden  äussersten 
Conceptionen  in  der  Mitte  Liegenden  ist  für  die  allgemeine  An- 
schauung nm'  von  secundärer  Bedeutung  und  daher  für  eine  Arbeit, 
die  ihre  Kraft  in  der  con^ntrirteu  Initiative  suchen  muss,  in  der 
That  überflüssig. 

Das  Kühnste,  was  sich  im  Hinblick  auf  das  universelle  Sein  in 
logischer  Weise  aussprechen  lässt,  ist  die  durchgängig  systematische 
^«atur  desselben.  Wie  arm  erscheinen  nicht  die  einzelnen  Katego- 
rien und  Gesetze  der  Dinge,  wenn  man  ihre  isolirte  Geltung  mit 
der  nach  allen  Richtungen  verzweigten  Systembeschaffenheit  ver- 
gleicht? Angesichts  der  letzteren  kann  sich  der  Streit  der  Welt- 
anschauungen nicht  mehr  um  einzelne  Verstandesbegriffe  und  deren 
Anwendbarkeit  oder  Nichtanwendbarkeit  bewegen,  sondern  muss  sich 
auf  alle  wesentlichen  Glieder  und  Begriffe  des  Denksystems  und  der 
Totahtät  der  Wissensformen  ausdehnen.  Hier  ist  nicht  mehr  blos 
die  Herrschaft  der  Causalität  im  Gegensatz  zu  den  falschen  Voraus- 
setzungen der  Finalität  in  Frage,  sondern  es  ist  festzustellen,  wie 
die  Systemform  des  Wissens  überhaupt  auch  dem  Grundgerüst  des 
Seins  entspreche.  Nicht  Ursache  und  Zweck  sind  hier  die  einzigen 
Denkformen,  in  deren  richtigem  und  falschem  Gebrauch  der  Verstand 
zu  seinem  Rechte  kommt  oder  gefährdet  wird;  alle  Arten  der  Syn- 
these oder,  mit  andern  Worten,  der  rationellen  Verknüpfung  melden 
sich  in  ihrer  geordneten  Gesammtheit  an,  um  ihre  Bedeutung  für 
den  Weltzusammenhang  geltend  zu  machen.  Auch  ist  der  vermeint- 
lich und  scheinbar  kritische  Weg,  die  bestimmteren  Kategorien  des 
Verstandes  für  blos  subjectiv  zu  erklären  und  von  der  universellen 
Weltbetrachtung  auszuschliessen,  dem  echten  Wesen  unseres  Erken- 
nens  nicht  sonderlich  günstig  gewesen.  Die  Betretung  dieses  Weges 
hat  zu  einer  überaus  bescheidenen,  ja  aufopfernden  Selbstverleugnung 
des  Verstandes  geführt,  mit  welcher  nur  diejenigen  zufrieden  sein 
können,  denen  die  positive  Energie  des  Denkens  nicht  behagt.  Um 
die  Kräfte  des  Denkens  zur  positiven  Thätigkeit  zu  emancipiren,  hat 
man  sich  vor  nichts  melir  zu  hüten,  als  vor  den  Voreiligkeiten,  ver- 
möge deren  die  wichtigsten  Grundbegriffe  des  Verstandes  ihre  abso- 
lute Beden  tu  üg  für  die  Erkenntniss  des  Wesens  und  Zusammen- 
hanges der  Welt  verlieren  sollen.  Eine  der  grössten  VoreiHgkeiteu 
dieser  Art  ist  das  Kantische  System  gewesen,  und  dessen  skeptische, 


—     39     — 

gegen  den  Verstand  gerichtete  Natur  ist  heute  vor  aller  Augen  sicht- 
bar gemacht.  Im  völligsten  Gegensatze  zu  dieser  und  den  vorbe- 
reitenden oder  verwandten  Richtungen  der  neuern  Philosophie  muss 
man  nun  die  ganze  Systemform  aller  Verstandeseinsicht  zugleich  als 
Existenzform  des  Weltzusammenhangs  zur  Geltung  bringen.  Die 
natürhche  Tragweite  unseres  Denkens  ist  nicht  so  kurz  bemessen, 
um  sofort  an  der  absoluten  Wirklichkeit  der  Dinge  zu  scheitern 
oder  auch  nur  irgendwo  eine  Realität  zu  finden,  der  sie  nicht  gewachsen 
wäre.  Die  völlige  Homogeneität  ist  hier  eine  berechtigte  Voraus- 
setzung, die  sich  weder  im  Besondern  der  einzelnen  Wissenschaften 
noch  in  dem  Allgemeinen  des  universellen  Schematismus  widerlegen 
lassen  wird.  Man  mache  Ernst  mit  der  Bethätigung  aller  theore- 
tischen Kräfte,  mögen  sie  die  Form  des  abstracten  Begriffs  oder  der 
concreten  Empfindung  haben,  mögen  sie  im  Bereich  des  kalten  Er- 
wägens  oder  der  glühenden  Leidenschaft  entspringen,  —  und  man 
wird  in  der  Welt  nichts  antreffen,  was  sich  nicht  mit  den  Elementen 
unseres  Wesens  verwandt  und  durch  sie  erkennbar  zeigen  müsste. 

unser  Denken  wird,  wenn  es  zur  wissenschaftlichen  Universal- 
form fortschreitet,  ein  sich  in  logischer  Beziehung  genügendes  System. 
Es  hat  in  seinem  selbstgenugsamen  Zusammenhang  seine  Ausgangs- 
und Schlusspunkte  sowie  seine  vermittelnden  Zwischenstationen.  Von 
den  Axiomen  zu  den  inhaltreichen  Ergebnissen  führt  eine  Stufen- 
leiter, auf  der  man  sich  von  der  Festigkeit  jeder  Sprosse  Rechen- 
schaft zu  geben  vermag.  Die  mannichfaltigen  Wendungen  und 
Gesichtspunkte,  in  denen  sich  die  logischen  Verknüpfungsformen  des 
Verstandes  ergehen,  haben  sämmtlich  auch  eine  absolute  Bedeutung 
für  das  Wirkhche,  und  man  hat  hier  von  mehr  als  blossen  Gegen- 
bildern der  ideellen  Synthese  zu  reden.  Das  ideelle  System  ist  auch 
die  Schematik  aller  Realität,  und  es  könnte  überhaupt  im  Sein  kein 
Zusammenhang  gedacht  werden,  wenn  es  nicht  derjenige  der  ratio- 
nellen Nothwendigkeit  wäre.  Das  System  ist  in  subjectiver  Beziehung 
die  vollendetste  Form  des  Wissens,  in  objectiver  aber  die  einzig 
mögliche  Universalgestalt  des  mannichfaltig  verzweigten  Seins.  Im 
System  ist  jene  letzte  Einheit  gegeben,  ohne  welche,  die  Vielheit 
haltungslos  bleiben  würde;  im  System  herrscht  das  Allgemeine  der- 
artig, dass  sich  ihm  die  Individualitäten  nicht  entziehen.  Im  System 
ist  der  Zufall  selbst  eine  Art  der  Nothwendigkeit  und  die  Ausnahme 
von  der  Regel  durch  ein  besonderes,  ihr  eigenthümliches  Princip 
motivirt;   im  System  wird  die  Willkür  selbst  zu  einem  Element  im 


—     40     — 

Reiche  der  allbeherrschenden  Nothwendigkeit ;  —  im  System  allein 
wird  endlich  diejenige  Zusammenstimmung  aller  Theile  und  Um- 
stände sichtbar  und  wirklich,  nach  der  nicht  blos  die  Theorie  als 
nach  einem  Bilde,  sondern  auch  die  universelle  Praxis  des  Daseins 
als  nach  einer  realen  Ergänzung  ihrer  jeweiligen  Unzulänglichkeiten 
strebt.  Im  System  des  Erkennens  befriedigt  sich  das  Wissen;  im 
System  des  Seins  genügt  sich  das  Wollen  und  gleichen  sich  die 
peinlichen  Seiten  der  Leidenschaften  des  Lebens  aus.  Die  universelle 
Systematik  ist  mehr  als  die  blosse  Gesetzmässigkeit;  der  engere  Be- 
griff dieser  letztem  ist  nur  eine  einzehie,  wenn  auch  Alles  gestal- 
tende Form  in  ihrem  Reich.  Jene  durchgängige  Systematik  ist  der 
letzte  und  höchste  Gegenstand  aller  Vertiefung  in  das  Wesen  der 
Welt,  und  ihre  Pflege  der  einzige  Cultus,  der  im  Denken  und  Wollen 
nach  den  abgestreiften  Lrthümern  der  Völkerphantasien  übrig  bleibt. 
Die  Weltanschauung  im  Menschen  vollendet  sich,  indem  sie  die  Cha- 
raktere des  Systems  der  Wirklichkeit  erfasst;  die  Weltgestaltung 
vollzieht  sich,  indem  die  Natur  ihr  System  ausfuhrt;  die  Leben s- 
gestaltung  führt  sjch  durch,  indem  der  Mensch  die  Uebereinstimmuug 
mit  der  individuellen  und  collectiven  Systematik  sucht,  die  in  seinem 
Wesen  von  der  Natur  und  Geschichte  angelegt  ist.  Das  grosse 
Princip  aller  Action,  möge  sie  unmittelbar  aus  dem  Schooss  der 
Natur  oder  vom  menschlichen  Bewusstsein  stammen,  besteht  daher 
darin,  sich  mit  der  allgemeinen  Systematik  ins  Gleichgewicht  zu 
setzen.  Keine  einzige  Erscheinung,  möge  sie  eine  rohe  Massen- 
bewegung oder  die  subtilste  Gedankencombiuation  sein,  wird  wahr- 
haft begriffen,  wenn  sie  blos  ausserhalb  jener  universellen  Verzweigung 
zur  Anschauung  kommt.  Aber  auch  die  Rechtfertigung  aller  Thaten, 
durch  die  der  Mensch  einem  höheren  Ziele  zustrebt,  ist  nur  denkbar, 
insofern  wirklich  diese  Thaten  dem  Ganzen  und  seinem  systemati- 
schen Zuge  der  Entwicklung  entsprechen. 

Wäre  das  Wesen  der  Dinge  nicht  in  der  letzten  logischen  Ge- 
sammtform  alles  vollendeten  Wissens  ausdrückbar  und  trüge  es  nicht 
in  sich  selbst  eine  Systematik  und  Logik,  die  in  der  Verfassung  des 
Verstandes  gleichsam  einen  subjectiven  Ausläufer  hat,  so  würde  alles 
Erkennen  ein  nichtiger  Schein  bleiben  und  v/irklich  das  sein,  wozu 
es  die  zweifelnde,  kleinmüthige  und  für  eine  unnatürliche  Mystik 
arbeitende  Philosophie  der  neuem,  iudirect  noch  immer  von  der 
Religion 8 traditiou  beherrschten  Jahrhunderte  fast  ohne  Ausnahme 
hat  machen  wollen.    Die  redliche  Untersuchung  der  logischen  Eigen- 


—     41     — 

Schäften  des  Seins  kann  uns  von  diesem  Alp,  der  auch,  noch  auf 
dem  heutigen  Denken  in  gröberen  oder  feineren  Gestalten  fast  überall 
lastet,  vollständig  befreien  und  den  zweiflerischen  Kleinmuth  be- 
seitigen, der  die  grossen  Probleme  schon  nicht  mehr  direct  und  po- 
sitiv zu  behandeln  wagte. 


IDrittes  Oapitel- 
Verhältnisse   zum   Denken. 

Das  System  der  Dinge  auf  der  einen  und  das  Denken  auf  der 
andern  Seite  können  und  müssen  in  ihrer  relativen  Trennung  be- 
griffen und  untersucht  werden,  ohne  dass  aber  hieraus  eine  Ent- 
fremdung des  einen  Elements  vom  andern  hervorgehen  darf.  Es  ist 
das  seltsame  und  nur  aus  der  üeberlieferung  christlicher  Verstandes- 
unterdrückung erklärliche  Schicksal  der  neuem  Philosophie  gewesen, 
den  grössten  Theil  ihrer  Kunst  in  der  grundsätzhchen  Entfremdung 
jener  Art  entfalten  zu  müssen.  Sie  hat  die  Kluft  zwischen  dem 
Denken  und  der  letzten,  absoluten  Wirklichkeit  scheinbar  soweit 
aufgerissen,  dass  eine  üeberbrückung  für  diejenigen,  die  sich  ihren 
falschen  Voraussetzungen  unbefangen  hingeben,  gar  nicht  absehbar 
ist.  Für  ein  positives  und  ernsthaft  dogmatisches  System  würde  es 
aber  ein  wunderlicher  Ausweg  sein,  jene  Fehlgriffe,  die  man  theils 
psychologische  Methode,  theils  Vemunftkritik  genannt  hat,  erst  im 
Einzelnen  mitzumachen  und  sich  hinterher  mit  der  künstlichen  Aus- 
gleichung der  falschen  Conceptionen  weitläufig  abzumühen.  Eine 
solche  Auskunft  mag  denen  überlassen  bleiben,  die  ihren  Verstand 
iu  einzelnen  neuern  Systemen  festgelegt  haben  und  nun  unter  dem 
Einfluss  freierer  Regungen  ein  wenig  Trieb  verspüren,  die  Festigkeit 
der  Stäbe  und  die  Fügung  des  Gitterwerks  zu  studiren,  die  ihnen 
den  Zugang  in  die  offene  Natur  versperren.  Wir,  die  wir  nicht-  aus 
dem  Käfig  philosophiren,  können  den  kurzem  Weg  wählen  und  un- 
mittelbar in  der  freien  Natur  die  Beziehungen  aufsuchen,  deren  wir 
bedürfen.  Bis  jetzt  hat  die  neuere  und  neuste  Geschichte  der  Phi- 
losophie noch  keine  Welt-  und  Lebensanschauung  aufzuweisen  ge- 
habt, in  welcher  der  menschliche  Verstand  zu  seinem  vollen  Rechte 
gelangt  und  seine  Souverainetät  in  ihrer  ganzen  Wahrheit  anerkannt 


—     42     — 

wäre.  Wo  seine  Tragweite  nicht  grundsätzlich  in  psychologischer 
oder  sogenannter  kritischer  Weise  ungehörig  beschränkt  wurde,  da 
sind  wenigstens  thatsächlich,  wie  z.  B.  im  Comteschen  Positivismus, 
unleidlicjie  Verzichte  auf  eine  endgültige  und  das  ganze  Wesen  der 
Dinge  umfassende  Erkenntniss  zu  verzeichnen.  Auch  der  am  meisten 
dogmatische  unter  allen  neuern  Systemurhebern,  nämlich  Spinoza, 
war  nur  einzelnen  Seiten  des  Verstandes  gerecht  geworden  und  hatte 
den  Antheil,  den  die  Imagination  in  der  vollendeten  Weltauffassung 
zu  beanspruchen  hat,  völlig  verkannt. 

Die  einzige  Sondenmg,  die  wir  nöthig  haben,  ist  auch  zugleich 
diejenige,  durch  welche  das  Band  zwischen  der  Wirklichkeit  und 
dem  Denken  erst  recht  sichtbar  werden  muss.  Das  rein  ideelle  Ge- 
biet beschränkt  sich  auf  logische  Schemata  und  mathematische  Ge- 
bilde. Das  Merkmal  der  hier  möglichen  Begriffe  besteht  darin,  dass 
in  ihnen  Gegenstand  und  Vorstellung  derselbe  Stoff  sind  und  einander 
völlig  decken  können.  Das  ideelle  Gebilde  ist  hier  selbst  der  zu- 
reichende Gegenstand  der  Wissensbethätigung ,  und  hierin  liegt  der 
Grund,  dass  es  eine  von  der  Wirklichkeit  abgesonderte,  reine  Ma- 
thematik geben  kann.  U  eberschreitet  man  dieses  Gebiet  und  wendet 
man  sich  z.  B.  auch  nur  zur  rationellen  Mechanik,  so  kann  der  sub- 
jective  Begriff  nicht  mehr  das  vollständige  Object  selbst  sein,  son- 
dern das  letztere  wird  stets  mehr  enthalten,  als  sich  durch  Häufung 
subjectiver  Begriffe  jemals  gewinnen  lässt.  Der  Begriff  von  der  Ma- 
terie kann  nie  die  Materie  selbst  sein,  während  der  Begriff  einer 
Zahl  oder  einer  Figur  zwar  auch  nicht  das  Gezählte  und  Gestaltete 
der  Wirklichkeit,  wohl  aber  alles  das  sein  wird,  woran  selbstgenug- 
sam  die  mathematische  Denkthätigkeit  als  an  ihrem  zureichenden 
und  von  ihr  selbst  erzeugbaren  Object  zunächst  isolirt  hafken  mag. 
Jede  Einlassung  mit  der  Wirklichkeit  setzt  aber  eine  thatsächliche 
Zählung  oder  Messung  voraus,  und  an  der  Noth wendigkeit  dieser 
empirischen  Acte  zeigt  sich  der  fundamentale  Unterschied,  der  zwi- 
schen den  ideellen  Isolirungen  der  Begriffe  und  den  realen  Functionen 
dieser  Begriffe  statthat.  So  ist  denn  mit  der  Trennung  zugleich  die 
Verbindung  intimer  nachgewiesen,  als  es  ohnedies  hätte  geschehen 
können.  Das  Subjective  ist  als  solches  nie  das  Objective,  aber  es 
ist  eben  das  einzige  Mittel,  durch  welches  das  System  der  Dinge 
aus  sich  selbst  seinVorstellungs-  und  Empfinduugsbild  hervorzutreiben 
vermag.  Sein  und  Denken  können  und  sollen  nicht  dasselbe  sein; 
aber    wohl    können    und  sollen  sie  einander  verbürgen,    und  diese 


—     43     — 

Gegenseitigkeit  vollzieht  sich  dadurch,  dass  die  Denkformen  als  Pro- 
ducte  des  nichtdenkenden  Seins  das  Mittel  werden,  an  jeglichem 
Element  der  Wirklichkeit  eine  entsprechende  ideelle  Seite  d.  h.  einen 
subjectiven  Begriff  von  dieser  Wirklichkeit  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Das  Apriorische  im  Sinne  der  reinen  Mathematik  und  das  Empirische 
im  Sinne  der  rationellen  Erfahrungswissenschaften  bilden  nur  ein 
einziges  System,  dessen  Gleichartigkeit  durch  die  ideelle  Absonderung 
der  Selbstgenugsamen  Yorstellungsgebilde  nicht  beeinträchtigt  wird. 
Der  Verstand  ist  überall  derselbe;  nur  dass  er  in  dem  einen  Fall 
sich  zunächst  mit  seinen  eignen  freien  Schöpfungen  und  Imagina- 
tionen befassen  kann,  während  er  in  dem  andern  Fall  an  ein  ihm 
äusserliches  Medium  wie  an  einen  Stoff  gebunden  bleibt. 

Die  eben  erwähnte  Absonderung  bietet  auch  ein  Mittel  dar,  sich 
von  der  rein  ideellen  Selbstgenügsamkeit  der  sogenannten  formalen 
Logik  zu  überzeugen.  Die  letztere  braucht  nämlich  gar  nicht  auf 
einen  realen  Stoff  angewendet,  sondern  kann  bereits  vollständig  in 
allen  ihren  Schematen  im  Gebiet  der  reinen  Mathematik  bethätigt 
und,  wenn  man  es  so  nennen  will,  bewahrheitet  werden.  Dieser 
Nachweis  ihrer  von  der  besondern  Erfahrung  und  dem  realen  Welt- 
inhalt unabhängigen  Geltung  kann  freilich  noch  durch  eine  bessere 
Wendung  ersetzt  werden,  indem  man  von  vornherein  bei  den  Einzel- 
heiten sichtbar  macht,  wie  die  Schemata  der  Logik  völlig  autonom 
und  innerhalb  der  rein  ideellen  Sphäre  ihre  Selbstgewissheit  haben 
oder  ihre  Beweismittel  vorfinden.  Die  Einmischung  empirischer  Ele- 
mente sollte  fiir  die  Darlegung  dieser  allgemeinsten  Verfassung  des 
logischen  Gebiets  ebensowenig  gestattet  sein,  als  für  die  reine  Ma- 
thematik, und  in  dieser  Beziehung  ist  der  Gebrauch  realer  Beispiele 
in  beiden  Disciplinen  nur  mit  der  grössten  Vorsicht  ausführbar. 
Andernfalls  könnte  leicht  die  Ansicht  unterlaufen,  als  wenn  die 
Wahrheiten  der  Logik  nur  thatsächliche  Abstractionen  von  Er- 
fahrungsverhältnissen wären,  womit  dann  der  ärgsten  Verworrenheit 
und  Unsicherheit  des  Denkens  ein  bequemes  Mittel  zur  Selbstbeschö- 
nigung geliefert  wäre.  Die  absolute  Nothwendigkeit  der  reinen  Denk- 
ergebnisse würde  uns  auf  diese  Weise  entschwinden,  und  in  der  übrig- 
bleibenden Verwimmg  würden  die  Gelegenheiten  zur  Unterdrückung 
der  Erhebuugsversuche  der  Vernunft  im  Preise  sinken  müssen.  Grade 
aus  jenem  gesonderten  Innewerden  eines  autonomen  und  selbstgenug- 
samen  Verstandes  hat  der  Mensch  thatsächlich  die  ersten  Kräfte  ge- 
zogen,   um  sich   stolz  über  die  Zufälligkeiten   der  Gelegenheitsvor- 


—    u    — 

Stellungen  zji  erheben.  Auf  diesem  Wege  hat  er  gelernt,  eine  ab- 
solute Nothwendigkeit  auch  da  zu  suchen,  wo  sie  sich  ihm  nicht 
unmittelbar  kenntlich  macht,  sondern  erst  durch  Forschung  blos- 
gelegt  sein  will. 

2.  Die  Phantasie  ist  diejenige  Function  des  Denkens,  die  in 
ihrer  Bedeutung  für  die  Wissenschaft,  für  die  Weltauffassung  und 
für  die  Daseinsgestaltung  am  meisten  verkannt  wird.  Der  Grund 
hievon  muss  zum  Theil  in  den  frühem  Ergebnissen  ihrer  wüsten 
Thätigkeit  und  namentlich  in  jenen  rohen  Yölkerphantasien  gesucht 
werden,  die  auf  kindische  Weise  jeden  beliebigen  Traum  zur  Wirk- 
Hchkeit  machten  oder  wohl  gar,  wie  der  Indische  sogenannte  Idea- 
lismus, in  der  Wirklichkeit  nur  ein  Traumgebilde  sehen  wollten. 
Diese  haltungslosen  und  delirirenden  Verworrenheiten,  die  zum  Theil 
noch  in  jüngster  Zeit  als  metaphysische  Systeme  reproducirt  worden 
sind,  begreifen  sich  im  Stadium  der  kindischen  Unreife  oder  in  fieber- 
haften Anwandlimgen  oder  in  den  Rückbildungen  der  Greisenhaftig- 
keit; sie  mögen  unter  diesen  Voraussetzungen  ganze  Epochen  und 
Theile  der  Menschheit  oder  gelegentlich  einzelne  Elemente  oder  ver- 
kommene Schichten  der  Gesellschaft  heimsuchen;  aber  sie  gehören 
stets  in  die  Gebiete  des  Unreifen,  des  Pathologischen  oder  der  bereits 
von  der  Fäulniss  zersetzten  Ueberreife.  Wir  haben  hier  keine  Theorie 
des  collectiven  Wahnsinns  oder  gar  der  sich  aus  den  Stauungen  des 
Lebens  ergebenden  Abstumpfungen  imd  Blödsinnigkeitsculten  zu  ent- 
werfen ;  wir  haben  hier  nicht  den  Brutstätten  der  Superstitionen  und 
den  durch  die  Aera  der  Religionen  historisch  beurkundeten  Geistes- 
störungen in  ihre  Asyle  zu  folgen,  sondern  wir  haben  uns  einfach 
an  den  normalen  Beruf  einer  Function  zu  halten,  welche  durch  die 
Ausschweifungen,  denen  sie  unter  Umständen  ausgesetzt  sein  musste, 
auch  einen  Theil  derjenigen  Achtung  eiugebüsst  hat,  der  ihrer  bes- 
sern Bethätigung  nicht  streng  genug  vindicirt  werden  kann. 

Um  alle  jene  trüben  und  unheimlichen  Gebilde,  die  sich  an  den 
Namen  der  Phantasie  oder  Imagination  in  deren  wüstem  Treiben 
anknüpften,  von  vornherein  gründlich  zu  beseitigen  und  das  wahre 
Wesen  jener  hohen  Kraft  unmittelbar  vor  Augen  zu  stellen,  wollen 
wir  sofort  die  am  tiefsten  wurzelnde  und  zugleich  einfachste  Form 
ihres  abstracten  und  apriorischen  Daseins  untersuchen.  Anstatt  uns 
zur  Kunst  und  den  im  engern  Sinne  ästhetischen  Functionen  der 
Phantasie  zu  wenden,  die  sich  noch  vielfach  mit  ihrem  ungeheuer- 
lichen Missbrauch  und  den  Gebilden  der  Superstition  berühren,  wollen 


—      45      r- 

wir  ohne  Weiteres  den  entferntesten,  aber  die  meiste  Klarheit  ver- 
sprechenden Ausgangspunkt  wählen,  indem  wir  den  am  wenigsten 
gekannten  Grundtypus  aller  Imagination,  nämlich  die  mathematische 
Phantasie  an  erster  Stelle  in  Betrachtung  ziehen.  Die  schöpferische 
Kraft  dieses  Vorstellungsgebiets  in  der  freien  Hervorbringung  von 
Combinationen  und  Gebilden,  in  denen  Zahl,  Grösse,  Zeit,  Raum 
und  Bewegung  die  gleichsam  stofflichen  Mittel  zur  Bethätigung  rein 
begriffhcher  Satzungen  und  Regelmässigkeiten  abgeben,  —  diese 
schöpferische  Rolle  ist  zwar  allgemein  bekannt,  alter  in  ihrer  Be- 
deutung für  das  System  der  vollen  Wirklichkeit  kaum  in  Frage  ge- 
kommen, geschweige  hinreichend  ergründet.  Das  Verfahren  der  rein 
mathematischen  Phantasie  liefert  nicht  nur  Ergebnisse,  die  den  realen 
Natumothwendigkeiten  entsprechen,  sondern  ist  in  seiner  Vollständig- 
keit auch  ein  Erkenntnissbild  jener  Operationen,  welche  die  mathe- 
matische Gliederung  der  Naturwirklichkeit  real  vollziehen.  Indem 
die  mathematische  Phantasie  unter  der  Herrschaft  des  Verstandes  die 
einzelnen  Ordnungen  der  nach  dem  Grade  der  Einfachheit  aufeinander 
folgenden  Gebilde  entwirft,  entspricht  sie  den  aus  einfachen  Elemen- 
ten möglichen  Compositionen  der  Reihe  nach  und  muss  daher  auch 
das  erfassen,  was  die  Natur  in  ihrer  realen  Zusammensetzung  nach 
demselben  System  hervorbringt.  Die  Vereinigung  der  einfachsten 
Formen  der  Bewegungsantriebe  liefert  in  der  realen  Entstehung  der 
Weltkörperbahnen  das  berühmteste  Beispiel  dieser  Gattung.  Der  im 
mathematischen  Sinne  gedachte  zweite  Grad  hat  bei  den  hier  frag- 
lichen Gebilden  den  Sinn  einer  Doppelheit  der  Composition  aus  zwei 
Factoren,  und  die  Verbindung  dieser  Factoren  hat  nicht  blos  ein 
ideelles  sondern  auch  ein  reales  Dasein.  Das  Fortschreiten  in  der 
Stufenleiter  der  gedanklichen  und  der  wirklichen  Elementvereinigungen 
ist  ein  Act,  in  welchem  sich  Uebereinstimmungen  ergeben  müssen. 
Die  mathematische  Phantasie  ist  demnach  eine  Instanz,  bei  welcher 
man  auf  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Weltverfassung  zu  rechnen 
hat.  Sie  ist  als  Ganzes  eine  Art  Inbegriff  der  formalen  Möglich- 
keiten und  ergiebt  mit  Rücksicht  auf  die  rein  realen  Elemente 
schliesslich  auch  die  letzten  Noth wendigkeiten.  Sie  arbeitet  sogar 
in  einer  analogen  Weise  wie  die  Natur,  oder  es  wird  uns  vielmehr 
das  Verfahren  der  Wirklichkeit  zu  einem  grossen  Theil  nur  aus  den 
Gesetzen  verständlich,  welche  die  vom  Verstände  geleitete  Phantasie 
in  ihren  Operationen  beherrschen. 

3.   Geht  man  von  der  mathematischen  Phantasie  zu  derjenigen 


—     46     — 

Gestaltung  der  Imagination  über,  welche  mit  allen  realen,  sei  es 
subjectiven  oder  objectiven  Elementen  thätig  ist,  so  ist  die  erste 
Wahrheit,  deren  man  sich  in  diesem  Gebiet  versichern  muss,  die, 
dass  die  Phantasie  nicht  nur  keine  Schöpfung  aus  Nichts  vornehmen 
kann,  sondern  auch  dem  Stoffe  und  der  Art  nach  an  die  Erfahrungs- 
thatsachen  gebunden  bleibt.  Ihre  Freiheit  besteht  eben  nur  in  der 
Composition;  aber  diese  Composition  ist  den  Yerfahrungsarten  der 
Natur  in  einem  gevdssen  Sinne  ebenbürtig.  Bis  jetzt  hat  man  diese 
genetische  Kraft»  nur  für  die  ästhetische  Phantasie  und  auch  hier 
nur  vom  Standpunkt  des  poetischen  Idealismus  in  Anspruch  genom- 
men, während  die  wissenschaftliche  Phantasie  eine  bis  jetzt  wenig 
gekannte  oder  doch  nur  in  verdächtigen  Aeusserungen  berücksichtigte 
Rubrik  geblieben  ist.  Trotz  aller  Annäherungen  der  wissenschaft- 
lichen und  der  ästhetischen  Welt-  und  Lebensansichten  und  trotz 
der  hier  und  da  hervorgetretenen  Ueberzeugung,  dass  auch  die  wissen- 
schaftlichen Weltbilder  das  System  der  Dinge  nicht  ohne  die  ästhe- 
tische Harmonie  wahrhaft  widerspiegeln,  ist  man  dennoch  der  in 
dieser  Richtung  unentbehrlichen  Grundvoraussetzung  bisher  fern- 
geblieben. Wenn  die  Phantasie  nicht  eine  Macht  ist,  die  in  den 
Tiefen  der  Natur  ihr  reales  Gegenstück  hat;  —  wenn  also  der 
menschlichen  Phantasie  nicht  eine  principielle  Gestaltungskraft  inne- 
wohnt, die  den  Bildungen  der  Natur  und  Wirklichkeit  gleichsam  in 
paralleler  Haltung  zu  entsprechen  und  mit  der  gleichen  Ursprüng- 
lichkeit  zu  verfahren  vermag,  so  müssen  aUe  unsere  Erwartungen 
voii  einer  idealen  Erkenntniss  des  Seins  unerfüllt  bleiben.  Die  skla- 
vische Nachahmung  der  Thatsachen  genügt  auch  iu  der  Wissenschaft 
nicht,  und  ohne  die  Existenz  einer  wissenschaftliehen  Phantasie,  die 
den  logischen  Gesetzen  gemäss  die  nothwendigen  Gestaltungen  anti- 
cipirt,  —  ohne  diese  subjectiv  schaffende  und  dem  Walten  der  Natur 
ebenbürtige  Fähigkeit  würden  wir  mit  unserer  Weltanschauung  und 
Lebensgestaltung  für  immer  auf  dürftiges  und  träges  Stückwerk  an- 
gewiesen bleiben. 

Man  verwechsele  die  Halbproducte  der  isolirten  Imagination, 
also  etwa  die  natürlichen  Träume  oder  die  metaphorischen  Träume- 
reien nicht  mit  den  Leistungen  der  rationellen  Phantasie.  Die  letz- 
tere ist  sich  bewusst,  mit  allen  ihren  Vorstellungen  nur  auf  das 
Wirkliche  oder  im  Wirklichen  Mögliche  zu  zielen,  und  sie  kann 
daher  nie  den  widersinnigen  Anspruch  erheben,  mit  ihren  Gebilden 
ein  zweites,  transcendentes  Reich  zu  eröffnen.    Sie  betrachtet  die  in 


—     47     — 

ihrem  Rahmen  zu  verzeichnenden  Bilder  nur  als  Erkenn  fcnissmittel 
der  einheitlichen  und  einzigen,  allumfassenden  Wirklichkeit.  Sie  hat 
keinen  andern  Glauben,  als  den  an  die  Realität,  und  sie  begreift 
sogar  ihre  eignen  kindischen  oder  fieberhaften  Missgriffe  als  Störun- 
gen, die  von  der  Isolirung  ihrer  zusammengehörigen  Elemente  her- 
rühren. Sie  sieht  in  den  eigentlichen  und  in  den  trauscendenten 
Hallucinationen  nur  die  untergeordnete  Bethätigung  ihrer  vom  Ver- 
standeszusammenhang getrennten  Kräfte.  Sie  selbst  erkennt  den 
Grundirrthum  in  der  Auffassung  des  Imaginativen  als  vollständiger 
und  selbstgenugsamer  Wirklichkeit.  In  ihrer  völlig  rationellen  Hal- 
tung geht  sie  schon  von  vornherein  davon  aus,  dass  ihre  Composi- 
tionen  nur  Werth  haben,  insofern  sie  die  Anzeiger  einer  unmittel- 
baren oder  entfernteren  Wirklichkeit  zu  sein  vermögen.  In  dieser 
Rolle  beansprucht  sie  aber  auch  das  Höchste,  indem  sie  sich  nicht 
durch  die  ZufäUigkeiten  der  grade  thatsächlich  gegebenen  Formen 
binden  lässt,  sondern  den  schaffenden  Triebkräften  in  die  nicht  un- 
mittelbar zugänglichen  Gestaltungen  folgt.  Auf  diese  Weise  wird 
sie  ein  mächtiger  Factor  der  anticipirenden  Wissenschaft,  und  auch 
ilu'e  Bethätigung  in  der  Kunst  erweist  sich  hienach  nur  als  ein  höher 
gesteigerter  und  freierer  Gebrauch  der  Schöpfangsprincipien  der  Natur. 
Hegte  sie  die  letzteren  nicht  in  sich,  so  bliebe  sie  das  eitelste  aller 
Spielwerke  des  Geistes  und  hätte  eine  ausschliesslich  subjective  Be- 
deutung. So  aber,  als  Vertreterin  der  Elemente  des  Seins  isfc  sie  die 
Ergänzung,  ohne  welche  das  Denken  trotz  aller  abstracten  Verstandes- 
begriffe in  Ermangelung  eines  fruchtbaren  Organs  zeugungsunfähig 
bleiben  müsste. 

Die  wahre  Philosophie  muss  sich  heute  zunächst  durch  den 
Gegensatz  von  Phantasie  und  Wirklichkeit  definiren;  denn  sie  ist 
Wirklichkeitsphilosophie  im  Unterschiede  von  der  ünphilosophie  der 
trauscendenten  oder  auch  immanenten  Götter-,  Seelen  -  und  Willkür- 
phantastik.  Es  bleibt  ziemlich  gleichgültig,  ob  diese  ünphilosophie 
ihre  Visionen  göttlicher  und  seelischer  Art  nebst  der  zugehörigen 
aus  Nichts  entscheidenden  menschlichen  Willkür  über  die  Welt  hinaus 
in  ein  sogenanntes  intelligibles  Reich  verlegt  oder  bei  weiterem  Fort- 
schritt in  die  Welt  mitten  hinein  imaginirt.  Diese  Zerrbilder  und 
Ungeheuerlichkeiten  einer  gestörten,  vom  Verstände  verlassenen  Phan- 
tasie bilden  unter  allen  Umständen  das  Merkmal  der  wüstesten  Un- 
wahrheit. Hieraus  folgt  aber  nicht,  dass  die  Functionen  der  Phan- 
tasie an  sich  selbst   die  Fälschung  der  Welt-  und  Lebensansichten 


—    48    — 

verschuldeten,  sondern  es  ist  ihre  widersinnige  Missleitung  und  ver- 
kehrte Isolirung,  welche  die  visionäre  Entwicklungskrankheit  des 
Menschengeschlechts  mit  sich  gebracht  hat.  Allerdings  lag  diese 
Abirrung  in  den  Nothwendigkeiten  des  geistigen  Mechanismus;  aber 
ebenso  nothwendig  ist  auch  die  Krisis,  welche  mit  der  Aera  der 
Religionen  abschliesst.  Angesichts  der  neuen  Welt-  und  Lebens - 
betrachtung  können  wir  ohne  Besorgniss  vor  einem  Missverständniss 
gradezu  behaupten,  dass  die  Üebereinstimmuugen  der  Phantasie  und 
der  Wirklichkeit,  wenn  sie  im  rationellen  Sinne  gedacht  werden, 
nicht  minder  ein  auszeichnendes  Merkmal  der  neuen  Denkweise  wer- 
den müssen,  als  die  Fernhaltung  der  Ergebnisse  ihres  verkehrten 
und  feindlichen  Gegensatzes.  Weit  entfernt  also,  die  Phantasie  als 
Erkenntnissmittel  auszuschliessen,  weisen  wir  ihr  vielmehr  den  Platz 
an,  wo  sie  anstatt  in  Entfremdung,  vielmehr  in  der  völligsten  Zu- 
sammengehörigkeit mit  dem  Wirklichen  ihren  hohen  Beruf  der  idealen 
Auticipation  erfüllen  kann. 

4.  Die  Elemente  des  Denkens  und  die  Elemente  des  Seins  müssen 
einander  derartig  decken,  dass  keine  Seite  oder  Form  der  Wirklich- 
keit unbegriffen  bleibt.  Von  den  Grenzen  des  Denkens  reden,  heisst 
auch  zugleich  für  die  Wirklichkeit  Schranken  setzen.  Es  ist  eine 
der  grössten  Thorheiten,  der  Tragweite  des  menschlichen  Denkens 
andere  Umrisse  geben  zu  wollen,  als  der  Natur  selbst.  Wenn  das 
Sein  in  sich  Elemente  hegen  könnte,  die  weder  unmittelbar  noch 
mittelbar,  weder  im  Einzelnen  noch  im  Allgemeinen,  weder  indivi- 
duell noch  der  Art  nach  einem  Denken  zugänglich  werden  könnten, 
so  fehlte  der  Welt  die  Kraft,  sich  subjectiv  vollständig  zu  reprodu- 
ciren.  Wenn  aber  das  menschliche  Denken  in  dem  besondem  Falle 
wäre,  für  die  Erfassung  der  Elemente  des  Seins  unzureichend  zu 
bleiben,  so  hätte  sich  in  dieser  Richtung  die  din-chgängige  Syste- 
matik der  Natur  verleugnet.  Es  gebe  alsdann  ein  Denken  von  uni- 
verseller Tragweite,  in  welchem  dennoch  Lücken  beständen,  und 
welches  seinem  Gegenstand  nur  in  verzerrter  Weise  entspräche.  Für 
diese  Voraussetzung  spricht  nun  in  der  wirklichen  Bewährung  un- 
seres Denkens  gar  nichts;  im  Gegentheil  treffen  wir  nirgend  auf 
Theile  des  Seins,  wo  sich  die  Stetigkeit  unserer  Vorstellungen  ver- 
leugnete. Mit  dem  Fortschritt  des  Wissens  erkennen  wir  immer 
mehr  die  vollständige  Uebereinstimmung,  welche  zwischen  dem  System 
der  subjectiven  und  dem  der  objectiven  Elemente  statthat.  Die  Kraft 
und  der  Umfang  des  Denkens  mögen  sich  in  andern  Wesen  gesteigert 


—     49    — 

finden;  der  Arfc  nach  und  in  den  Grundeinsichten  muss  jede  Denk- 
verfassung dieselbe  bleiben.  Andernfalls  würde  sich  die  absolute 
Realität  selbst  verleugnen.  Das  Dasein  niederer  Subjecti  vi  täten  ist 
kein  Gegenbeweis  gegen  unsere  Voraussetzung;  denn  auch  in  dem 
Rahmen  ihrer  beschränkten  Wahmehmungsart  ist  volle  sinnliche 
und  objective  Wahrheit.  Der  Mensch  aber,  der  sich  des  universell 
Umfassenden  in  seinem  auf  die  Welt  gerichteten  Denken  bewusst 
ist,  würde  mit  dem  Wesen  dieses  Denkens  in  Widerspruch  gerathen, 
wenn  er  eine  höhere  Instanz  erdichten  wollte,  durch  die  es  wider- 
leort  oder  auch  nur  in  entscheidender  Weise  in  seinen  Functionen 
berichtigt  werden  könnte.  Der  Irrthum  im  Einzelnen  darf  nicht  mit 
einem  radicalen  Fehler  der  Constitution  oder  einem  Mangel  in  den 
Elementen  der  Composition  verwechselt  werden.  Aller  Irrthum  be- 
ruht auf  der  partiellen  Isolirung  des  Denkens  von  der  Wirklichkeit 
und  ist  ein  noth wendiges  Erzeugniss  der  subjectiven  Position  und 
relativ  getrenntea  Gesetzmässigkeit  dieser  Sphäre.  Wahrheit  und 
Irrthum  haben  genau  dieselbe  Quelle,  und  es  lässt  sich  in  der  An- 
ordnung eines  subjectiven  Organs  zu  der  ideellen  Reproduction  der 
Dinge  jene  Isolirung  und  relative  Selbständigkeit,  die  zum  Irrthum 
führt,  ohne  Widerspruch  gar  nicht  als  vermieden  vorstellen.  Hieraus 
folgt  aber  nicht,  dass  die  Natur  darauf  verzichten  musste,  zu  jedem 
Bestandtheil  des  Seins  ein  entsprechendes  Yorsteliungselement  her- 
vorzubringen. Die  Vollständigkeit  der  Mischung  konnte  allein  den 
normalen  Typus  eines  zureichenden  Denkens  ergeben,  und  so  werden 
wir  in  allen  Richtungen  genöthigt,  die  Nothwendigkeit  unserer  lei- 
tenden Grundidee  bestätigt  zu  finden.  Solange  man  nicht  den  Nach- 
weis führt,  dass  die  Denkthätigkeit  etwas  ihr  völlig  Ungleichartiges 
aufgefanden  habe,  was  aber  dennoch  Gegenstand  irgend  einer  Intel- 
ligenz sein  könnte,  —  solange  wird  man  uns  gestatten  müssen,  an 
unserer  Grundvoraussetzung  festzuhalten.  Unser  Denken  hat  min- 
destens ebensoviel  Recht,  sich  als  ein  kosmisches  und  für  die  sub- 
jectiven Verhältnisse  zureichendes  zu  betrachten,  als  die  neuste  Che- 
mie, die  sich  mit  ihren  Grundstoffen  und  Combinationen  von  dem 
bisherigen  engen  Schauplatz  der  Erde  zu  den  Bethätigungen  an  der 
Verfassung  und  Zusammensetzung  des  Universums  wendet.  In  der 
That  wäre  es  auch  ein  dürftiges  Denken  und  eine  armselige  Art  von 
Wissenschaft,  welche  vor  einem  Theil  des  Seins  Halt  machen  und 
ihre  Unzulänglichkeit  erklären  müssten. 

Wenn    die    Elemente    des    Seins    und    diejenigen    des  Denkens 

D  üb  ring,  Cursiis  der  Philosophie,  4 


—     50    — 

einander  entsprechen,  ohne  jemals  einerlei  zu  sein,  —  wenn  also  das 
8ein  niemals  als  ein  Theil  des  subjectiven  Denkens  in  einem  uni- 
versellen Traume  und  das  subjective  Denken  niemals  als  ein  maass- 
gebender  Bestandtheil  in  den  Verfahrungsarten  der  objectiven  Natur 
angesehen  werden  darf,  so  entsteht  die  Frage,  ob  nicht  in  einer 
andern  Art  die  auf  dem  gemeinsamen  Ursprung  beruhende  Verwandt- 
schaft einen  tiefer  in  das  Wesen  der  Dinge  und  des  Denkens  selbst 
eindringenden  Rückschluss  gestatte.  Hier  ist  ein  doppelter  Ausgangs- 
punkt möglich,  je  nachdem  man  mit  den  objectiven  Beschaffenheiten 
der  Welt  oder  mit  den  Grundformen  der  Subjectivität  beginnt.  Da 
schliesslich  das  Unmittelbarste  immer  die  subjectiven  Elemente  sein 
werden,  so  ist  die  für  die  Erweiterung  der  Erkenntniss  wichtigste 
Frage  die,  ob  nicht  in  den  subjectiven  Thätigkeiten  eine  Hindeutung 
auf  die  objectiven  Operationen  der  Natur  zu  finden  sei.  Unter 
üebergehung  der  ganz  gewöhnlichen  Erörterungen  müssen  wir  hier 
wiederum  das  Wesen  der  Phantasie  als  neues  Beispiel  einführen. 
Allerdings  liegt  eine  gewisse  Kühnheit  darin,  auch  nur  versuchsweise 
vorauszusetzen,  dass  die  Thätigkeiten  der  menschlichen  Imagination 
eine  Wiederholung  und  eine  Art  Gegenbild  des  Naturschaffens  sein 
könnten.  Es  versteht  sich  hiebei,  dass  an  ein  subjectives  Bewusst- 
sein,  an  Denkabsichten  und  an  alle  derartigen  Vorstellungsdetermi- 
nationen  im  Bereich  der  objectiven  Natur  nicht  gedacht  werden 
kann.  Aber  auch  die  menschliche  Phantasie  selbst  beruht  nicht  auf 
Vorstellungen,  sondern  hat  die  letzteren  zu  Ergebnissen.  Die  Phan- 
tasie wurzelt,  wie  überhaupt  alles  Denken,  in  Regungen,  die  dem 
fertigen  Bewusstsein  vorausgehen  und  selbst  gar  keine  Elemente  des 
subjectiv  Empfundenen  bilden.  Man  schliesst  auf  diese  Regungen 
weit  mehr,  als  man  sie  eigentlich  wahrnimmt.  Sie  liegen  diesseits 
der  Grenze  des  bewussten  Denkens  und  kündigen  ihre  Existenz  eben 
nur  durch  die  Wahrnehmung  dieser  Grenze  an.  Jeder  Gedanke  und 
jedes  Vorstellungsbild  ist  etwas  Erzeugtes.  Vor  seiner  Production 
wurzelte  aber  ein  jedes  derartiges  Gebilde  in  realen  und  gewisser- 
maassen  gedankenlosen  Vorbedingungen  seiner  Entstehung.  Nun 
kann  das,  was  den  bewussten  Gedanken  selbst  erst  möglich  macht, 
dem  Wesen  nach  nicht  tiefer  stehen,  als  das  fertige  ideelle  Product 
selbst.  Es  werden  also  die  unvorstellbaren  Erzeugungskräfte  der 
Phantasie  in  der  That  diesseits  der  ideellen  Sphäre  liegen,  und  dieses 
Verhältniss  erleichtert  uns  die  Aufgabe,  die  üebereinstiramung  zwi- 
schen der  subjectiven  Phantasie  und  den  objectiven  Naturoperationen 


—    51    — 

zu  erkennen.  In  beiden  Fällen  wird  die  Herrschaft  der  logischen 
Noth wendigkeit  vorausgesetzt;  aber  das  was  uns  in  den  Antrieben 
der  menschlichen  Phantasie  als  UnvoUkommenheit  gilt,  darf  apr  der 
objectiven  Natur  nicht  ohne  Weiteres  ausgeschlossen  werden.  Der 
Charakter  des  Yersuchsartigen  in  den  Gestaltungen  ist  der  Wirklich- 
keit nichts  weniger  als  fremd,  und  man  sieht  nicht  ein,  warum  man  aus 
Gefälligkeit  für  eine  oberflächliche  Philosophie  die  Parallele  der 
Natur  ausser  dem  Menschen  und  der  Natur  im  Menschen  nur  zur 
Hälfte  gelten  lassen  soll.  Es  ist  eine  ganz  willkürliche  Voraus- 
setzung, in  den  Noth  wendigkeiten  des  objectiven  Seins  überall  die 
vom  Menschen  gewünschte  Vollkommenheit,  in  derjenigen  Natur 
aber,  die  sich  im  menschlichen  Individuum  und  seinem  Vorstellen 
kundgiebt,  das  Gegentheil  jener  Unfehlbarkeit  selbstverständlich 
finden  zu  wollen.  Wenn  der  subjective  Irrthum  des  Denkens  und 
Imaginirens  aus  der  relativen  Getrenntheit  und  Selbständigkeit  dieser 
Sphäre  hervorgeht,  warum  soll  nicht  auch  ein  praktischer  Irrthum 
oder  Fehlgriff  der  objectiven  und  nichtdenkenden  Natur  die  Folge 
einer  verhält nissmässigen  Absonderung  und  gegenseitigen  Entjfrem- 
dung  ihrer  verschiedenen  Theile  und  Triebkräfte  sein  können?  Eine 
wahre  und  nicht  vor  den  gemeinen  Vorurtheilen  zurückschreckende 
Philosophie  wird  schliesslich  den  vollständigen  Parallelismus  und  die 
durchgängige  Einheit  der  Constitution  nach  beiden  Seiten  hin  aner- 
kennen. Für  sie  wird  die  Natur  nicht  erst  im  Menschen  anfangen, 
sogenannte  Verirrungen  zu  zeigen  und  sich  in  Abweichungen,  Stö- 
rungen und  Ausgleichungen  zu  ergehen;  sondern  alle  diese  Beein- 
trächtigungen der  Unfehlbarkeit  werden  ihr  in  allen  ihren  Actionen 
anhaften  und  bei  dem  Menschen  wie  bei  ihr  nur  als  innere  Noth- 
wendigkeiten  zur  allseitigen  Ausführung  des  universellen  Systems  zu 
betrachten  sein.  In  einem  gewissen  Sinne  hat  man  daher  von  den 
menschlichen  Analogien  der  Naturauffassung  für  die  exacte  Erkennt- 
niss  nichts  zu  besorgen,  sobald  man  nur  consequent  genug  ist,  die 
Halbphilosophie  hinter  sich  zu  lassen  und  nicht  blos  die  Natur  nach 
dem  Menschlichen,  sondern  auch  das  Menschliche  nach  der  Natur 
und  mithin  beide  als  eine  einzige  in  sich  wesentlich  gleichartige 
Einheit  aufzufassen. 

5.  Die  in  der  Philosophie  stets  praktisch  gewesene  Frage,  wie 
weit  die  menschlichen  Analogien  in  der  Auffassung  des  objectiven 
Seins  auszuschliessen  seien,  hat  in  den  neueren  Jahrhunderten  öfter 
Beantwortungen  erfahren,  deren  Zweischneidigkeit  heute  nicht  mehr 


—     52     — 

übersehen  werden  darf.  In  dem  berechtigten  Bestreben,  die  aus- 
sehliesslich  menschlichen  Gesichtspunkte  von  der  Auffassung  des 
Gannen  der  Dinge  fernzuhalten,  ist  man  schliesslich  zu  der  unbe- 
rechtigten Zumuthung  gelangt,  auch  die  allgemeinen  Kategorien, 
weil  sie  zugleich  für  menschliche  Verhältnisse  gelten,  als  zur  letzten 
Erkenntniss  unbrauchbar  ausser  dem  Spiele  zu  lassen.  Mit  diesem 
Aeussersten  hat  man  natürlich  jede  absolute  Idee  von  dem  Wesen 
der  Dinge  preisgegeben,  und  was  die  positive  Wissenschaft,  wenn 
sie  sich  nicht  selbst  aufgeben  wollte,  bleiben  lassen  musste,  hat  eine 
sogenannte  kritische  Metaphysik,  unter  bescheidener  Ergebung  in 
Unwissenheit,  wirklich  begangen.  Die  Hauptkategorie  aller  Wissen- 
schaft, nämlich  die  Causalität,  ist  zu  einer  secundären,  für  die  letzten 
Verhältnisse  der  Dinge  gar  nicht  gültigen  Kategorie  degradirt  wor- 
den. Allerdings  war  es  völlig  in  der  Ordnung  gewesen,  dass  Hume 
den  Begriff  der  Ursache  in  den  gewöhnhchen  plumpen  Fassungen 
nicht  gelten  liess;  aber  die  Kritik  seines  Inhalts  durch  den  genann- 
ten grossen  Philosophen  und  die  Unbrauchbarkeitserklärung  durch 
Kant  waren  zwei  Handlungen  von  sehr  verschiedenem  Werth.  Humes 
Verfahren  war  auf  Entfesselung,  das  Kantische  aber  auf  Beschrän- 
kung des  Verstandesgebrauchs  gerichtet;  Beide  stimmten  aber  darin 
überein,  eine  erhebliche  Unsicherheit  übrig  zu  lassen.  Weit  glück- 
licher als  in  der  Kritik  der  Causalität  ist  die  Wissenschaft  und 
Philosophie  seit  dem  17.  Jahrhundert  in  der  Beseitigung  einer  fal- 
schen Finalität  gewesen.  Aber  auch  hier  hat  man  mit  den  Absichten 
oder  Zwecken,  deren  Unterschiebung  in  der  Naturbetrachtung  mehr 
und  mehr  verpönt  wurde,  auch  die  unschuldige  Seite  der  entspre- 
chenden Kategorien  verdächtigt.  Die  Begriffe  Mittel  und  Zweck  sind 
in  ihrer  abstracten  Reinheit  und  ohne  den  Nebengedanken  einer  be- 
wussten  Absicht  in  einzelnen  Gebieten  gar  nicht  zu  entbehren  und 
verbergen  sich  oft  unter  gleichgültigen  Namen.  So  begleiten  sie 
sehr  häufig  die  Vorstellung  von  physiologischen  Functionen  und 
Einrichtungen  oder  verbergen  sich  hinter  dem  scheinbar  indifferenten 
Kunstausdruck  der  Anpassung  an  die  Lebensbedingungen.  Obwohl 
in  den  neusten  Vorstellungen  der  letztem  Art  die  FinaHtät  keine 
Rolle  mehr  spielen  soll,  drängt  sie  sich  dennoch  unvermerkt  oft 
genug  ein,  und  dieser  Uebelstand  rührt  daher,  dass  man  sich  bis 
jetzt  keine  genügende  Rechenschaft  von  dem  Grunde  ihrer  Aus- 
schliessung aus  der  strengen  Wissenschaft  gegeben  hat.  Die  causale 
Nothwendigkeit  vollzieht  sich  stets  und  liefert  daher  wahrhaft  all- 


-^    53    — 

gemeine  Gesetze;  eine  Cansalität,  die  nicht  wirksam  würde,  wäre  ein 
Widerspruch.  Dagegen  sind  die  verfehlten  Zwecke  etwas  ganz  Ge- 
wöhnliches ;  aus  dem  Zweck  kann  man  nicht  auf  dessen  Vollziehung 
schliessen,  und  so  bleibt  der  Zweck  selbst  da,  wo  er  objectiv  anzu- 
erkennen ist,  völlig  ungeeignet,  die  Kette  streng  wissenschaftlicher 
Beziehungen  zu  vermitteln  und  die  letzte,  lückenlose  Einsicht  in  den 
Zusammenhang  der  Vorgänge  zu  ergeben.  Hieraus  folgt,  dass  man 
ihn  auch  da,  wo  über  seine  Objectivität,  wie  im  Bewusstsein  des 
Menschen,  gar  kein  Streit  möglich  ist,  nur  insofern  in  wissenschaft- 
lichen Anschlag  bringen  darf,  als  er  sich  in  der  Gestalt  einer  Unterart 
der  allgemeinen  Causalität  verwerthen  lässt.  Jeder  Trieb  hat  das 
Zweckförmige  in  sich  und  wird  als  bewusster  Trieb  sogar  zur  eigent- 
lichen Absicht.  Seine  Rolle  für  die  Hervorbringung  des  realen  Zu- 
sammenhangs beruht  aber  nur  darauf,  dass  er  im  eigentlichen  Sinne 
des  Worts  als  Motiv,  d.  h.  als  Bewegungsantrieb  wirkt.  Ob  die  Be- 
wegung oder  Handlung,  die  aus  ihm  mit  causaler  Nothwendigkeit 
folgt,  ihren  Zweck  erreiche  oder  nicht,  ist  eine  völlig  abzusondernde 
Frage,  die  niemals  blos  nach  der  Zwecksetzung  entschieden  werden 
kaim,  sondern  von  dem  Spiel  der  sich  combinirenden  Ursachen  er- 
ledigt wird.  Obwohl  wir  daher  in  der  Natur  Triebkräfte  mit  be- 
stimmten Richtungen,  also  in  einem  gewissen  Sinne  sogar  Tendenzen 
mehrfach  annehmen  müssen,  so  ist  doch  niemals  der  Schluss  von 
einem  Ziel  auf  dessen  Erreichung  zulässig,  und  dieser  Umstand 
macht  alle  herkömmliche  Finalität  der  Naturerklärung  zu  einem 
täuschenden  Schein.  In  dieser  Hinsicht,  aber  eben  auch  nur  in  dieser 
Hinsicht  können  wir  in  Spinozas  Ausspruch  einstimmen,  dass  der 
Zweck  eine  menschliche  Erdichtung  sei.  Will  man  dagegen  unkritisch 
die  Beziehung  von  Mittel  und  Zweck  als  eine  ausserhalb  des  be- 
wussten  menschlichen  Strebens  unzulässige  Kategorie  ächten,  so  wird 
man  den  Verstand  selbst  lähmen  und  ihn  in  der  natürlichen  Voll- 
ständigkeit seiner  Gesichtspunkte  beeinträchtigen.  Ausserdem  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  dass  die  Untersuchung,  ob  die  Thatsachen 
bestimmten,  von  uns  versuchsweise  als  Zwecken  angesehenen  Ergeb- 
nissen der  Welteinrichtung  wohl  oder  übel  entsprechen,  auch  dann 
gerechtfertigt  sein  würde,  wenn  objective  Tendenzen  gar  nicht  vor- 
handen wären.  Auf  die  Vulgärteleologie,  die  wesentlich  ein  Gewebe 
von  albernen  und  kindischen  Erdichtungen  ist,  haben  wir  hier  na- 
türlich nicht  einzugehen.  Eine  haltbare  Zweckmässigkeitslehre  wird 
in  den  Gebieten,   wo  sie  überhaupt  angebracht  sein  dürfte,   niemals 


—    54    — 

ohne  die  Begleitung  eiaer  Einsicht  in  die  Unzweckmässigkeiten  auf- 
treten. Ein  ähnlicher  Gegensatz  ist  im  Gebiet  der  Causalitäten  nicht 
vorhanden;  denn  die  ünzweckmässigkeit  ist  nicht  eine  Abwesenheit 
der  Zweckbeziehung,  sondern  eine  Missgestaltung  derselben. 

Die  bisher  angedeuteten,  auch  historisch  berühmt  gewordenen 
Seiten  unserer  allgemeinen  Frage  nach  der  Bedeutung  der  mensch- 
lichen Analogien  genügen  keineswegs,  um  die  Tragweite  des  Gegen- 
standes ermessen  zu  lassen.  Wir  müssen  einfurallemal  die  positive 
Wichtigkeit  der  Analogien  unseres  Wesens  für  das  Weltverständniss 
begreifen,  wenn  wir  nicht  immer  wieder  von  !Neuem  Gefahr  laufen 
wollen,  gute  kritische  Absichten  zu  Schlingen  unserer  Intelligenz 
werden  zu  sehen  und  anstatt  zu  einer  Reinigung  zu  einer  Vernich- 
tung des  Verstandes  zu  gelangen.  Das  Princip,  welches  hier  maass- 
gebend  werden  muss,  ist  sehr  einfach  zu  formuliren,  wenn  auch 
keineswegs  ebenso  leicht  zur  speciellen  Anwendung  zu  bringen.  Das 
specifisch  Menschliche  darf  nicht  auf  die  Welt  übertragen  werden, 
und  nur  das  Uebereinstimmende,  dessen  Gleichartigkeit  im  besondem 
Falle  ausgemacht  werden  kann,  darf  eine  Brücke  zum  Verständniss 
der  Dinge  bilden.  Nun  vereinigt  der  Mensch  in  sich  ein  Stufen- 
system von  Arten  des  Seins,  welches  mit  der  niedrigsten  Gattung 
beginnt  und  bis  zur  höchsten  aufsteigt.  In  dieser  Schichtung  müssen 
sich  die  Anknüpfungspunkte  für  die  Wissenschaft  finden,  und  inner- 
halb dieses  weit  ausgespannten  Rahmens  müssen  sich  alle  Typen  zur 
Kennzeichnung  des  Systems  der  Dinge  aufsuchen  lassen. 

Um  den  Gegensatz  unseres  Gedankens  zu  der  gewöhnlichen  Un- 
sicherheit der  Naturauffassung  sichtbar  zu  machen,  erinnern  wir  nur 
beispielsweise  an  einen  Hauptfall,  in  welchem  das  menschhche  Ver- 
fahren mit  demjenigen  des  Systems  der  Dinge  verghchen  werden 
darf.  Das  Rechnen  mit  dem  Allgemeinen,  mit  der  Wahrscheinlich- 
keit und  mit  dem  Zufall  ist  für  die  menschliche  Wirkungsweise  un- 
mngänghch;  die  menschlichen  Institutionen  sind  in  vielen  Richtungen 
so  geartet,  dass  eine  Menge  von  Antrieben  von  ihnen  ausgeht,  die 
niemals  ihren  Gegenstand  finden.  Die  Verluste  an  Kraft  sind  hiebei 
unvermeidlich,  und  Vielen  erscheint  es  als  eine  specifisch  mensch- 
liche Unvollkommenheit,  dass  in  Richtungen  gehandelt  werden  muss, 
in  denen  die  Mehrzahl  der  Fälle  unergiebig  bleibt.  Diese  Noth- 
wendigkeit  ist  aber  in  der  That  keine  auf  den  Menschen  beschränkte 
Unvollkommenheit,  sondern  findet  sich  in  weit  höherem  Maasse  in 
der  aussermenschlichen  Natur  selbst.    Im  System  der  Dinge  werden 


—     55     — 

die  Möglichkeiten  und  Keime  in  allen  Richtungen  verschwenderisch 
ausgestreut,  und  die  wirklich  fruchtbaren  Entwicklungen  bilden  nur 
eine  kleine  Zahl  im  Verhältniss  zu  der  Fülle  der  im  einzelnen  Fall 
vergeblichen  und  verfehlten  Vorkehrungen.  Dennoch  ist  diese  Artung 
der  Veranstaltungen  eben  nichts  weiter  als  eine  aus  der  systemati- 
schen Action  entspringende  Nothwendigkeit ,  zu  deren  Verständniss 
die  Analogie  der  menschhchen  Verhältnisse  vollkommen  ausreicht. 
Anstatt  also  von  einem  Mangel  zu  reden,  müssen  wir  sowohl  im 
Fall  des  Menschen  als  der  sonstigen  Natur  eine  und  dieselbe  Nöthi- 
gung  anerkennen,  und  ausserdem  zugestehen,  dass  es  die  innere 
Logik  des  universellen  Systems  selber  ist,  welche  die  nach  Wahr- 
scheinlichkeitsgrundsätzen angelegten  Beziehungen  mit  sich  bringt. 
Der  specifische  Unterschied  zwischen  dem  Menschen  und  der  Natur 
besteht  in  dieser  Richtung  nur  daria,  dass  jener  den  Zufall  vorfindet, 
und  dass  diese  ihn  selbst  geschaffen  und  zugleich  mit  den  Veran- 
staltungen zu  seiner  Beherrschung  möglich  gemacht  hat.  Die  frag- 
liche Kluft  zwischen  dem  Allgemeinen  und  dem  Einzelnen  ist  hie- 
nach  ein  wesentlicher  Bestandtheil  im  System  der  Dinge,  und  wir 
haben  kein  Recht,  die  grosse  Arbeiterin,  welche  man  Natur  nennt, 
anders  anzusehen,  wenn  sie  ausser  uns  ohne  Vorstellung,  als  wenn 
sie  in  uns  durch  Vermittlung  unseres  Bewusstseins  thätig  ist. 


TT 


fyi.-,  "P^h!" 


Zweiter  Abschnitt. 

Principien  des  laturwissens. 


t        Erstes  Oapitel- 
Ausgangspunkte. 

W  as  wir  hier  Principien  des  Naturwissens  nennen,  vertritt  in  einer 
Gestalt,  die  der  gegenwärtigen  exacten  Denkweise  entspricht,  die 
frühere  Naturphilosophie.  Die  letztere  wurde  in  den  neueren  Jahr- 
hunderten wesentlich  als  rationelle  Physik  verstanden,  welche  hier 
und  da  mit  einigen  rein  logischen  oder  metaphysischen  Elementen 
ausgestattet  war,  bisweilen  aber  auch  so  tief  sank,  dass  sie  zur 
wüsten,  auf  Unwissenheit  beruhenden  Afterpoesie  wurde  und  ein 
Spiel  für  grosse  Kinder  und  Ignoranten  bildete.  Nachdem  sie  na- 
meutHch  auf  Deutschem  Boden  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  am 
meisten  entwürdigt  und  der  prostituirten  Philosoph  asterei  eines  Schel- 
ling  und  ähnlicher,  im  Priesterthum  des  Absoluten  kramender  und 
das  Publikum  mystificirender  Gesellen  anheimgefallen  war,  hat 
schliesslich  die  Ermüdung  im  Unsinn,  unter  gleichzeitiger  Einwirkung 
der  ausländischen,  von  der  Deutschen  Mystik  nur  wenig  berührten 
fachwissenschaftlichen  und  positiven  Auifassungsweise,  dahin  gefuhrt, 
dass  man,  abgesehen  von  den  eigentlichen  Philosophirem  der  Schul- 
stätten, in  der  Verachtung  jener  Missgestalten  zu  einer  sonst  seltenen 
Uebereinstimmung  gelangt  ist.  Mit  dieser  Lossagung  der  besten 
Vertreter  der  Specialitäten  von  den  ungeheuerlichen  Zerrbildern  un- 
wissender Naturphilosophastrik  ist  aber  die  Lücke  niu:  um  so  fühl- 
barer geworden;  denn  mit  dem  Ekel  vor  dem  Ungeniessbaren  hat 
sich  keineswegs  sofort  das  Geniessbare  wieder  eingefunden.  Im 
Gegen theil  ist  die  Haltlosigkeit  Einzelner  unter  den  Naturforschem 
in    allerjüngster  Zeit    erst   recht    sichtbar  geworden,    und  was  das 


breitere  Publicum  anbetrifft,  so  ist  für  dasselbe  bekanntlich  der  Ab- 
tritt eines  grössern  Charlatans  oft  nur  die  Gelegenheit  für  einen 
kleinem,  aber  geschäftserfahrenen  Nachfolger,  die  Productionen  jenes 
unter  einem  neuen  Aushängeschild  zu  wiederholen. 

Die  ernstere  Gefahr  droht  jedoch  nicht  von  solchem  wüsten 
Gelegenheitsskandal,  dem  hier  und  da  auch  wohl  ein  Specialist  in 
seiner  philosophischen  Unschuld  oder,  wenn  man  will.  Rohheit  zum 
Opfer  fällt,  sondern  von  den  zerfahrenen  Voreiligkeiten,  deren  sich 
manche  Pfleger  der  Fachwissenschaften  in  ihrer  Betheihgung  an  der 
eigentlichen  Philosophie  schuldig  machen.  Die  Annäherung  des 
letzten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts  wird  nämlich  in  der  allgemeinen 
Wissenschaftsgeschichte  einst  auch  dadurch  markirt  werden  können, 
dass  man  auf  den  in  diesem  Zeitpunkt  besonders  sichtbaren  philo- 
sophischen Dilettantismus  der  Specialisten  hinweist.  In  der  That  ist 
jetzt  aller  Orten  bei  den  verschiedenartigsten  Repräsentanten  der 
Naturwissenschaft  eine  Art  Wetteifer  eingetreten,  ihre  Speculationen 
über  philosophische  Grundfragen  öffentlich  zum  Besten  zu  geben. 
Auf  diese  Weise  ist  Naturphilosophie  ein  wenig  zur  Nebenbeschäfti- 
gung von  Jedermann  geworden,  der  auf  eine  Führerschaft  in  irgend 
welchen  Specialitäten  Anspruch  macht  und  aus  seiner  besondern  Be- 
hausung zu  einem  Ausflug  in  das  Reich  der  weltumspannenden  Ideen 
Lust  verspürt.  Dieser  Gang  der  Sache  wäre  nun  an  sich  höchst  er- 
freulich, wenn  sich  nur  zugleich  die  Grundbedingmng  erfüllt  fände, 
ohne  welche  eine  eingreifende  Betheiligung  an  der  specifischen  Phi- 
losophie unmöglich  und  der  Anspruch  des  Maassgebenden  bis  zur 
Lächerlichkeit  hinfällig  wird.  Diese  Bedingung  ist  eine  hinreichende 
Kenntniss  und  Uebung  der  philosophischen  Denkweise  und  nament- 
lich ihrer  Art,  mit  den  feinsten  Begriffen  der  Weltauffassung  zu 
verfahren.  Die  ünbeholfenheiten  und  Verstösse,  die  in  dieser  Hin- 
sicht bei  einer  Anzahl  Specialisten  offenbar  geworden  sind,  haben 
die  Welt  mit  keiner  echten  Naturphilosophie,  wohl  aber  mit  der 
Blosse  der  rein  specialistischen  Naturwissenschaft  oder  vielmehr  mit 
der  unzulänglichen  philosophischen  Bildung  eines  Theils  ihrer  Ver- 
treter bekannt  gemacht.  Diejenigen,  welche  mit  derartigen  eitlen 
Kundgebungen  am  vorschnellsten  gewesen  sind,  tragen  die  Schuld, 
wenn  nun  auch  die  Achtung,  die  man  früher  der  Denkweise  der 
positiven  Gebiete  bisweilen  ohne  Rückhalt  zollen  konnte,  mit  dem 
Verdacht  eines  ungehörigen  und  in  einem  gewissen  Sinne  ignoranten 
Philosophirens  vermischt  werden  muss. 


—    58    — 

Die  Erwartung,  auf  dem  Boden  der  Naturwissenschaft  selbst 
eine  gediegene  Naturphilosophie  emporwachsen  zu  sehen,  lag  im 
letzten  Menschenalter  ziemlich  nahe,  ist  aber  in  den  Hauptrichtungen 
getäuscht  worden.  Selbst  bei  den  paar  Entdeckern  und  Forschem 
ersten  Ranges,  welche  die  civiHsirte  Welt  als  wirkHch  im  grossen 
Stile  epochemachend  aufzuweisen  hat,  sind  die  eigentlich  philosophi- 
schen Gesichtspunkte  äusserst  dürftig  gerathen.  Sogar  in  Fällen,  in 
denen  die  philosophische  Speculation  an  der  Ermöglichung  der  neuen 
Aufschlüsse  einen  grossen  Antheil  hatte,  sind  mit  den  zutreffenden 
Ideen  so  rückständige  Auffassungsarten  vermischt  worden,  dass  man 
auch  hier  von  einem  etwa  vorhandenen  günstigen  Yorurtheil  für  den 
philosophischen  Beruf  der  Positivisten  zurückkommen  musste.  Nun 
bleibt  allerdings  trotzdem  der  philosophische  und  methodische  Ge- 
halt der  rationellen  Naturwissenschaft,  der  sich  mit  ihren  einzelnen 
Lehren  und  Verfahrungsarten  verbunden  findet,  von  den  eignen  Aus- 
schweifungen oder  Unzulänglichkeiten  der  speciaHstischen  Fachver- 
treter im  Wesentlichen  unberührt  bestehen,  und  seit  Galilei  sind 
nach  dieser  Seite  hin  manche  Fundstätten  zu  bezeichnen.  Allein 
diese  Art  von  latenter  Naturphilosophie  ist  nicht  ohne  Weiteres  zu- 
gänglich und  will  gleich  dem  edlen  Metall  erst  aus  dem  unreinen 
Zustande  ausgeschieden  sein,  ehe  sie  ihre  selbständigen  Dienste  leisten 
und  in  voller  Rationalität  fungiren  kann.  Allermindestens  wird  sie 
ohne  diese  Vorarbeit  kein  Gegenstand  des  allgemeinen  wissenschaft- 
lichen Verkehrs  und  kein  Organ  des  Denkens  werden,  welches  für 
eine  grössere  Zahl  irgend  welche  Förderung  bieten  könnte.  In  höchst 
vereinzelten  Fällen,  deren  die  Geschichte  der  neuern  Jahrhunderte 
nur  wenige  kennt,  wird  eine  Art  von  Ebenbürtigkeit  des  Genius 
auch  die  speculativen  Antriebe  der  unzulänglich  formulirten  Gedanken- 
ansätze älterer  Forscher  fruchtbar  werden  lassen;  aber  der  Regel 
nach  werden  die  Tiefen  ohne  Untersuchung  bleiben,  ja  nicht  einmal 
bemerkt  werden.  Die  grosse  Mehrzahl  der  Wissenschaftspfleger,  ein- 
schliesslich der  gewöhnlichen,  im  Vordergrunde  befindlichen  Distin- 
guirtheiten  und  Renommirtheiten  des  Augenblicks,  wird  nicht  ein- 
mal von  der  Existenz  jener  Schätze  eine  Ahnung  haben,  und  so  wird 
das  gemeine  Getriebe  sich  abspielen,  ohne  dass  die  philosophischen 
Bestandtheile  der  positiven  Wissenschaft  in  sichtbarer  Absonderung 
zu  Tage  gefördert  oder  wirksam  würden. 

Das  unvorbereitete,  im  schlimmen  Sinne  des  Worts  dilettanten- 
hafte  Philosophiren  der  Specialisten  bedeutet  nichts  Anderes  als  den 


—    59    — 

anarchischen  Zustand  und  die  Auflösung  der  bisherigen  unzuläng- 
lichen Philosophien.  Die  allgemeine  Gedankenströmung  muss  erst 
wieder  bei  dem  Punkte  anlangen,  wo  sie  sich  ihrer  selbst  in  einem 
geregelten  System  bewusst  wird,  um  die  Miseren  des  unzurechnungs- 
fähigen üebergangszustandes  abzustreifen.  Eines  wird  sich  jedoch 
wohl  ohne  Weiteres  in  der  hier  gebotenen  Kürze  nachweisen  lassen, 
dass  nämlich  eine  exacte  Naturphilosophie  kein  blosser  Positivismus 
sei,  möge  man  denselben  in  seiner  specialistischen  Naturwüchsigkeit 
oder  als  umfassendes  System  einer  vermeintlich  zulänglichen  Philo- 
sophie verstehen.  Die  Positivität  der  Erkenntniss  ist  in  der  Natur- 
wissenschaft ein  ebenso  verdächtiger  Begriff  wie  in  der  Rechtswissen- 
schaft. Diese  falsche  Selbstgenügsamkeit  der  positivistischen  Auffassung 
der  Thatsachen  beruht  nur  auf  der  Beschränktheit,  in  welcher  eine 
niedere  Erkenntnissstufe  beharren  kann,  solange  die  in  ihr  waltende 
Trägheit  die  höhere  Staffel  nicht  zu  sehen  erlaubt.  Die  Hinweg- 
setzung über  die  Nothwendigkeit  letzter  principieller  Ausgangspunkte 
ist  der  Charakter  aller  einseitigen  Positivität,  möge  sie  in  der  Theorie 
oder  in  den  Gestaltungen  des  Lebens  eine  Rolle  spielen.  Im  Natur- 
wissen ist  aber  das  Haltmachen  vor  falschen  oder,  besser  gesagt,  er- 
logenen Grenzen  des  Erkennens  die  schlimmste  Art  der  Gefährdung 
der  SouveraJuetät  des  Verstandes,  weil  grade  hier  die  massivsten 
Grundpfeiler  der  menschlichen  Selbstgenügsamkeit  aufgeführt  worden 
sind.  Wenn  sich  daher  eine  Art  von  allerdings  stark  verschleiertem 
Mysticismus  auch  auf  diesem  Gebiet  einfindet,  so  haben  wir  in  der 
Aufnahme  oder  Duldung  dieses  Feindes  aller  natürlichen  Logik  den 
vollendeten  Hochverrath  an  der  Wissenschaft  vor  uns,  und  das  Ver- 
brechen gegen  die  Majestät  des  souverainen  Denkens  ist  in  dieser 
Gestalt  das  grösstmögUche.  Die  Handhabung  der  mystischen  In- 
fection  verhält  sich  zu  den  plumperen  Mitteln  des  Obscurantismus, 
wie  Giftmord  zur  offenen  Gewalt.  Die  gewöhnliche  Geistespohzei 
mit  allen  ihren,  die  Vernunft  verhöhnenden  Chicanen  ist  noch  bei 
Weitem  nicht  so  niederträchtig,  als  derVerrath,  der  von  denen,  die 
als  Handwerker  der  Wissenschaft  bezahlt  werden,  dadurch  geübt 
wird,  dass  sie,  halb  verworren  und  halb  verlogen,  ihre  wankenden 
Gehimchen  dazu  hergeben,  in  Form  mystischer  Anzweiflungen  oder 
Einschränkungen  die  absoluten  Grundlagen  des  mathematischen  und 
des  Naturwissens  zu  verleugnen.  Indem  sie  diese  auflösenden  und 
verstandzersetzenden  Mittel  colportiren,  mögen  sie  von  dem  Obscu- 
rantismus zwar  einige  Gunst  einernten,  und  da  von  ihm  die  Aemter 


—    60    — 

und  das  Geld  meist  noch  in  überwiegendem  Grade  abhängig  sind, 
auch  ihre  Taschen  leichter  füllen;  aber  die  Plünderung  der  Wissen- 
schaft, die  sie  mit  der  Preisgebung  der  absoluten  Geltung  derselben 
verüben,  wird  sich  nicht  blos  an  ihnen,  sondern  auch  an  dem  rächen, 
was  sie  als  Brut  in  scientifischer  Beziehung  hinterlassen.  Die  Schwach- 
köpfigkeit  der  gewöhnlichen  Art,  welche  ohne  eigne  Schuld  in  die 
Netze  des  Mysticismus  geräth,  ist  hier  natürlich  nicht  gemeint,  son- 
dern es  sind  nur  die  in  den  Spitzen  der  wissenschaftlichen  Hierarchie 
von  legalem  Stempel  sichtbar  gewordenen  Abfallserscheinungen  ge- 
meint. Auch  ist  die  ganze  civilisirte  Welt  und  nicht  etwa  blos  das 
Terrain  diesseits  des  atlantischen  Oceans  in  der  einen  oder  andern 
Gestalt  von  den  Missgebilden  der  bezeichneten  Art  heimgesucht 
worden,  und  man  kann  mit  Zuversicht  voraussagen,  dass  diese 
Schande  den  Gang  der  Wissenschaft  noch  einige  Zeit  begleiten 
werde.  Um  so  entscheidender  wird  nun  aber  die  Darlegung  der 
Punkte  sein,  die  für  den  redlichen  Forscher  jederzeit  ausreichen  wer- 
den, um  die  Hauptrichtung  seines  Weges  trotz  aller  Ablenkungs- 
versuche unwissenschaftlicher  Art  nicht  zu  verfehlen. 

2.  Vor  Allem  muss  im  Begriff  der  Natur  selbst  ein  gefahr lieber 
Abweg  signalisirt  werden.  Es  ist  nicht  blos  die  falsche  spiritua- 
listische  Tradition,  sondern  auch  ein  lange  eingewöhnter  Mangel  an 
Wirklichkeitssinn,  der  es  verschuldet,  dass  man  in  der  Natur  nicht 
immer  das  selbstgenugsame  Ganze  erblickt,  welches  ausser  sich  keine 
Voraussetzungen  hat  und  keines  andern  Seins  zur  vermeintlichen 
I^gänzüng  bedarf.  Die  Naturwissenschaft  richtet  sich  auf  dieses 
autonome  Sein,  und  die  von  ihr  fesi^estellten  Gesetze  und  Eigen- 
schaften dieses  auf  sich  selbst  beruhenden  Seins  sind  absolute  Wahr- 
heiten letzter  Instanz.  Wenn  man  nun  aber  dennoch  in  einem  en- 
geren Sinne  von  Naturwissenschaft  reden  kann,  so  rühi-t  dies  tlieils 
von  ihrer  herkömmlichen  positivistischen  Beschränkung,  um  nicht 
zu  sagen  Beschränktheit,  theils  aber  auch  von  dem  Umstände  her, 
dass  nicht  blos  die  Innerlichkeit  bewusster  Wesen,  sondern  auch  die 
gesellschaftlichen  Gebilde  und  mithin  die  Geschichte  des  Menschen- 
reichs von  dem  Naturwissen  als  eine  selbständige  Sphäre  der  Unter- 
suchung abgesondert  werden.  Die  Betrachtung  der  unmittelbaren 
Innerlichkeit  bewusster  Wesen  ergiebt  die  sogenannte  Psychologie, 
die  aber  nichtsdestoweniger  ein  Naturgebiet,  wenn  auch  ein  eigen- 
thümlich  ausgestattetes  und  daher  abgesondert  für  sich  zu  behan- 
delndes bleibt.    Ueberall  sonst  fällt  das  sogenannte  Innere  der  Dinge 


—     61     — 

mit  dem  Aeusseren  derselben  zusammen,  und  wenn  wir  übrigens  in 
der  Materie  von  inneren  Bestimmungen  reden,  so  meinen  wir  in  der 
That  nichts  als  diejenigen  Eigenschaften  der  Körper,  vermöge  deren 
die  äusseren  Erscheinungen  nicht  blos  in  der  Gestalt  von  Rück- 
wirkungen auftreten.  Nun  hört  die  Natur  da,  wo  sie^sich  zur  Inner- 
lichkeit des  Bewusstseins  steigert,  nicht  auf,  das  zu  sein,  was  sie 
übrigens  ist,  und^  so  wird  auch  diese  vermeintliche  Schranke  eben 
nur  zu  einem  einfachen  Eintheilungsprincip.  Kennten  wir  das  Schick- 
sal der  dem  Menschen  analogen  Wesen  auf  irgend  einem  andern 
Weltkörper,  so  würden  wir  auch  dort  sowohl  die  innere  Beschaffen- 
heit des  Bewusstseins  als  speciellen  Gegenstand  der  Untersuchung 
abzusondern  und  ausserdem  neben  der  Natur  im  allgemeinen  Sinne 
ein  Reich  der  gesellschaftlichen  Organisation  und  Geschichte  für 
diesen  Schauplatz  anzuerkennen  haben.  Wäre  uns  aber  eine  genü- 
gende Anzahl  solcher  Welten  näher  bekannt,  so  würden  wir  die  ge- 
sellschaftlichen und  geschichtlichen  Systeme  der  verschiedenen  kos- 
mischen Schauplätze  in  eine  einheitliche  Wissenschaft  zusammenfassen 
und  über  die  Abhängigkeit  der  Entwicklungsformen  bewusster  Wesen 
von  der  umgebenden  Natur  etwas  ausgiebiger  urtheilen,  als  es  uns 
bis  jetzt  die  Wirkungen  unserer  klimatischen  Unterschiede  ermöglicht 
haben.  Grade  aber  mit  dem  Gedanken  der  kosmischen  Ausdehnung 
der  sogenannten  Psychologie  und  der  socialen  Erkenntniss  schwinden 
alle  Beschränktheiten,  die  man  noch  etwa  dem  Herkommen  gemäss 
für  die  eigenthümliche  Stellung  der  Menschengeschichte  conserviren 
möchte.  Wenn  daher  auch  wir  der  Natur  im  engern  Sinne  die  so- 
ciale Welt  gegenüberstellen  und  im  Bereich  der  letzteren  alle  Wissen- 
schaftsverzweigungen unterbringen,  die  nicht  der  physikalischen, 
chemischen  oder  physiologischen  Aeusserlichkeit  der  Dinge  gelten, 
so  verzichten  wir  hiemit  nicht  etwa  auf  die  Einheit  und  Gleichartig- 
keit der  Principien,  sondern  treffen  eben  nur  eine  dem  specifischen 
Unterschied  der  Wirkungen  entsprechende  Eintheilung.  Die  Bewusst- 
seinsphänomene  sind  uns  ebensosehr  Natur  wie  alles  UebrigCj,  und 
wir  sind  soweit  als  möglich  davon  entfernt,  dieselben  ohne  ihre  ma- 
teriellen Voraussetzungen  mit  den  Spiritualisten  gleichsam  in  der 
Luft  schweben  oder,  besser  gesagt,  auf  Nichts  beruhen  und  aus  dem 
Nichts  heraus  selbstgenugsam  existiren  zu  lassen.  Die  ganze  äussere 
Natur  mit  ihrer  ungezählten  Menge  von  Sonnen  und  andern  Welt- 
körpem  würde  vielmehr  als  die  thörichtste  Zurüstung  erscheinen, 
wenn  nicht  in  ihr  selbst  die  Hervorbringung  ^dermannichfe.ltißsten 


—    62    — 

Bewiisstseinsformen  angelegt  wäre.  Umgekehrt  wäre  aber  die  that- 
sächliche  Wirklichkeit  der  Naturbühne  eine  widersinnige  Ueberflüssig- 
!^itj^wenn  sich  die  Phänomene  des  Empfindens  und  Lebens  durch 
I  das  voraussetzungslose  Träumen  eines  körperlosen  sogenannten  Geister- 
I  reichs  produciren  Hessen.  Diese  letztere,  völlig  kindische  Yorstellung, 
mit  der  man  das  gute  Wort  Idealismus  in  anspruchsvollen  Systemen 
geschändet  hat,  mag  jedoch  der  Theorie  des  speculativen  Wahnsinns 
überlassen  bleiben ;  denn  mit  jener  Vorstellung  beginnt  die  Unfähig- 
keit, das  Subjective  vom  Objectiven  zu  unterscheiden  und  die  Hal- 
lucinationen  als  das  zu  nehmen,  was  sie  sind. 

Nach  dem  von  uns  dargelegten  Begriff  ist  die  Natur  der  un- 
verkürzte Inhalt  der  gesammten  Wirkhchkeit  und  der  Träger  aller 
Möglichkeiten.  Sie  ist  dies  auch  in  ihrer  sogenannten  Aeusserlich- 
keitV^ö  dass  man  sagen  kann,  das  materielle  und  mechanische  System 
der  Naturtotalität  sei  auch  die  Grundlage  für  alle  besondem  Arten 
der  Phänomene.  Wo  sich  diese  Grundlage  nicht  findet,  da  ist  auch 
sonst  keine  Existenz  anzutreffen.  Das  Sein  überhaupt  fallt  mit  dem 
materiellen  und  mechanischen  Sein  zusammen,  und  die  Bewusstseins- 
phänomene,  die  als  solche  zwar  weder  Stoffe  noch  mechanische  Kräfte 
sind,  haben  dennoch  ihr  Dasein  nur  durch  Vermittlung  materieller 
und  mechanischer  Vorgänge.  Ja  man  kann  sagen,  dass  sie,  abge- 
sehen von  dem  unmittelbaren  Begriff  des  subjectiven  Vorstellens  und 
Empfindens  selbst,  in  nichts  weiter  als  einer  bestimmten  Form  me- 
chanischer Stoffbewegung  bestehen.  Für  die  Wirklichkeitsphilosophie 
ist  es  von  entscheidender  Wichtigkeit,  dass  in  jedem  gegenwärtigen 
Dinge  auch  die  ausächliessliche  Befassung  aller  an  dasselbe  geknüpf- 
ten Möglichkeiten  völlig  materiell  gedacht  werde.  Ohne  den  Leit- 
faden der  Materialität  kann  man  in  der  Voraus-  und  Rückbestimmung 
der  Vorgänge  nur  zu  unwahren  Träumereien  und  haltungslosen 
Fictionen  gelangen.  Die  Materiahtät  der  Verknüpfungen  ist  das  ein- 
zige sichere  Merkmal  des  realen  Zusammenhanges.  Wo  sie  fehlt,  da 
stellt  sich  das  absurde  Wunder  mit  seiner  willkürlichen  Phantastik 
ein.  Hienach  ist  die  Natur  als  der  universelle  Zusammenhang  des 
Materiellen  zu  betrachten!  Die  in  ihm  anzutreffende  Identität  und 
Causalität  umfasst  alle  Gattungen  der  Existenz,  und  sogar  auf  die 
Anwesenheit  oder  Betheiligung  des  Bewusstseins  bei  einem  Vorgange 
lässt  sich  nur  nach  Maassgabe  der  materiellen  Erkennungsmittel  und 
Umstände  schliessen.  Die  Zeit  hat  nur  für  die  Entwicklung  der 
verschiedenen  Zustände  eine  Bedeutung;  übrigens  ist  aber  das  Etwas, 


—     63     — 


^^y\fiii*^^i(4lf^^ 


welches  in  seiner  materiellen  Wirklichkeit  Gegenstand  unserer  Er- 
kenntniss  wird,  auch  zugleich  der  volle  Inbegriff  von  dem,  was  es 
in  irgend  einer  Zeit  sein  oder  gewesen  sein  könnte.  "Vermöge  dieser 
Vollständigkeit  der  Dinge  und  ihres  Systems,  die  sich  nicht  nur  in 
jeden  Augenblick  zusammendrängt,  sondern  sogar  ausserhalb  des 
Augenblicks  für  die  blosse  Grenze  zweier  Zeittheile  existirt,  ver- 
schwinden alle  Aussichten  auf  die  Einschwärzung  imaginärer  Ele- 
mente in  das  selbstgenugsame  Reich  der  Nafcur.  Jedes  denkende 
Wesen  hat,  wo,  wann  und  wie  es  auch  seine  Gegenstände  erhalten 
möge,  stets  absolute  Wirklichkeiten  vor  sich  und  wird  in  Beziehung 
auf  seine  Objecte  nie  ein  fremdes  Doppelsein  oder  eine  sonstige  Ab- 
schliessung  von  dem  universellen  Zusammenhang  des  Daseins  voraus- 
zusetzen haben.  Auch  ist  in  der  That  nur  in  dieser  Weise  eine 
einzige  Natur  und  eine  dieser  Einzigkeit  entsprechende,  ebenfalls 
eiQzige,  wenn  auch  mannichfaltig  abgestufte  Erkenntniss  derselben 
möglich. 

3.  Wir  haben  ausser  jdenjdlgemeinen  Gesichtspunkten  d^  J(>- 
gischen  Zusammenhangs  zwei  Gruppen  von  Grundbegriffen  der  Natur- 
auffassung  zu  unterscheiden.  Die  erste  Gruppe  wird  durch  die  rein 
mathematischen ,  die  zweite  durch  die  mechanischen  Kategorien  ge- 
bildet. In  der  erstem  Hinsicht  kommen  Zahl,  Grösse,  Zeit,  Raum 
und  geometrische  Bewegung,  in  der  zweiten  Beziehung  aber  Materie 
und  mechanische  Kraft  als  leitende  Schemata  in  Frage.  Wir  könn- 
ten in  einem  gewissen  Sinn  die  genannten  mathematischen  Katego- 
rien als  rein  apriorisch  ansehen  und  ihnen  die  mechanischen  als  die 
empirischen  gegenüberstellen;  indessen  hat  diese  werthvolle  kritische 
Unterscheidung  doch  leicht  em  Missverständniss  zur  Folge,  welches 
mehr  schaden  kann,  als  sie  selber  zu  nutzen  vermag.  Es  wird  näm- 
lich leicht  übersehen,  dass  jene  mathematischen  Elemente  nur  ihrer 
Form  nach  ideeU  sind,  und  dass  man  sofort  der  erfahrungsmässigen 
Feststellung  derselben  bedarf,  sobald  eine  thatsächliche  Grösse  oder 
Gestalt  als  wirklicher  Bestaridtheil  der  Natur  in  Frage  kommt.  Die 
absoluten  Grössen  sind  daher  etwas  durchaus  Empirisches,  gleich- 
viel, welcher  Gattung  sie  angehören.  Es  lässt  sich  daher  in  der 
Naturbetrachtung  die  Grösse  nicht  von  dem  realen  Träger  derselben 
trennen,  und  in  dieser  Hinsicht  haben  wir  uns  auch  in  dem  mathe- 
matischen Gebiet,  soweit  dasselbe  eine  reale  Bedeutung  haben  soll, 
vor  einem  falschen  Apriorismus  zu  hüten.  Trotzdem  bleibt  aber  der 
fundamentale  Unterschied  bestehen,  dass  die  mechanischen  Schemata 


—     64     — 

nicht  wie  die  mathematischen  einer  von  der  Erfahrung  abgesonder- 
ten und  dennoch  zureichenden  Charakteristik  fähig  sind. 

Die  Axiome  der  Mathematik  sind  auch  ohne  Weiteres  Axiome 
der  Natur,  weil  in  ihnen  keine  absolute  Grösse  vorkommt.  Auch 
was  von  der  Zahl  und  Grösse  im  Allgemeinen  gilt,  hat  absolute  Be- 
deutung. Es  sind  daher  Zahl  und  Grösse  stets  nur  in  endlicher  Be- 
stimmtheit zu  setzen.  Nicht  nur  die  vorhandene  Zahl  der  Welt- 
körper muss  in  jedem  Zeitpunkte  eine  an  sich  bestimmte  sein,  sondern 
auch  bei  der  in  das  Kleine  gehenden  Gliederung  muss  die  Zahl  der 
wirklich  vorhandenen  Selbständigkeiten  oder  thatsächlich  getrennten 
Theile  eine  bemessene  bleiben.  Letztere  Noth wendigkeit  ist  der 
wahre  Grund,  warum  keine  Zusammensetzung  ohne  Atome  gedacht 
werden  kann.  Die  blosse  Möglichkeit  der  ideellen  Theilsetzungen, 
die  in  uns  selbst  liegt  und  für  jede  stetige  Grösse  gilt,  ist  freilich  unbe- 
schränkt; insbesondere  sind  Zeit  und  Raum  in  dieser  Weise  ins 
Unendliche  theilbar;  aber  aus  der  blos  ideellen  Möglichkeit  der 
Theilung  folgt  noch  nicht  das  Dasein  wirklicher  Getheiltheit.  Die 
letztere  hat  stets  eine  endliche  Bestimmtheit  und  muss  sie  haben, 
wenn  nicht  der  Widerspruch  der  abgezählten  Unzahl  oder  vollen- 
deten Unendlichkeit  eintreten  soll.  Die  abstracte  Ausdehnung  oder 
Grösse  als  solche  bietet  gar  keine  Getheiltheit  dar;  die  Häufung  des 
Identischen  irgend  einer  realen  Gattung  von  Selbständigkeiten  ist 
aber  nur  als  Bildung  einer  bestimmten  Zahl  denkbar.  Dies  gilt  auch 
für  die  getrennten  Realitäten,  welche  in  der  Zeit  als  unterscheidbare 
Acte  aufeinanderfolgen.  Auch  hier  ist  die  Bestimmtheit  der  Zahl 
das  durch  blosse  logische  Einsicht  gesicherte  Naturgesetz.  Wüsste 
man  z.  B.  auch  nichts  von  der  Entstehung  des  Sonnensystems,  so 
würde  man  dennoch  nach  jenem  Naturgesetz  getrost  behaupten 
dürfen,  dass  die  bisherige  Anzahl  der  Umläufe  der  Erde  um  die 
Sonne  eine  bestimmte,  wenn  auch  nicht  angebbare,  sein  müsse.  Man 
könnte  dieses  Gesetz  kurzweg  das  der  bestimmten  Anzahl  nennen, 
und  man  sieht  leicht  ein,  dass  vermöge  seiner  logischen  Tragweite 
nicht  etwa  nur  eine  rationelle  Atomenlehre,  sondern,  was  wichtiger 
ist,  eine  ganze  Naturvorstellung  in  weit  schärferer  Fassung,  als  sie 
seither  zugänghch  war,  verbürgt  werden  könne.  Mindestens  wird 
man  es  nicht  als  eine  geringfügige  Wahrheit  ansehen,  wenn  aus 
dem  Gesetz  der  bestimmten  Anzahl  mit  unausweichlicher  Nothwendig- 
keit  folgt,  dass  alle  periodischen  Natiu-processe  irgend  einen  Anfang 
gehabt  haben   müssen,   und  dass  überhaupt  alle  Diflferenzenbildung, 


—     65     — 

vermöge  deren  sich  eine  Abfolge  verscliiedener  Realitäten  vollzieht, 
in  jeder  Gattung  auf  ein  erstes  Glied  zurückweise.  Alle  Mannich- 
faltigkeiten  der  Natur,  die  einander  folgen,  müssen  hienach  als  in 
einem  sich  selbst  gleichen  Zustande  wurzelnd  angesehen  werden; 
denn  nur  die  völlige  Sichselbstgleichheit  kann  ohne  Widerspruch 
gegen  jenes  Gesetz  der  bestimmten  Anzahl  als  von  Ewigkeit  her 
bestehend  gedacht  werden.  Aber  auch  diese  letztere  Yorstellung 
würde  ausgeschlossen  sein,  wenn  die  Zeit  an  sich  selbst  aus  realen 
Theilen  bestände  und  nicht  vielmehr  blos  durch  die  ideelle  Setzung 
der  Möglichkeiten  von  unserm  Verstände  nach  Belieben  eingetheilt 
würde.  Mit  dem  realen  und  in  sich  unterschiedenen  Zeitmhalt  hat 
es  eine  andere  Bewandtniss;  diese  wirkliche  Erfüllung  der  Zeit  mit 
unterscheidbar  gearteten  Thatsachen  schafft  das  differente  Spiel  und 
schhesslich  das  eigentliche  Leben,  und  die  Existenzformen  dieses 
Bereichs  gehören,  eben  ihrer  Unters chiedenheit  wegen,  dem  Zähl- 
baren an.  Um  kein  Missverständniss  zu  erzeugen,  sei  jedoch  auch 
bei  dieser  Gelegenheit  wieder  bemerkt,  dass  von  diesen  Nothwendig- 
keiten  die  Unentstandenheit  des  Seins  und  sogar  die  Ewigkeit  einer 
noch  nicht  in  Differenzen  spielenden  Natur  nicht  im  Mindesten 
beeinträchtigt  wird.  Im  Gegentheil  ist  das,  was  wir  aus  jenem 
Gesetz  für  die  universelle  Naturvorstellung  gewinnen,  nur  die  Be- 
seitigung eines  Widerspruchs  und  einer  thörichten  Schranke  unserer 
sonstigen  Vorstellungen  von  der  Existenz.  Wer  nicht  im  Stande  ist, 
jede  eigenthümliche  Form,  die  sich  in  Wiederholungen  bethätigt,  als 
blosses  Glied  in  einer  bestimmt  anhebenden  Reihe  zu  betrachten, 
wird  es  auch  nicht  über  sich  gewinnen  können,  das  Schicksal  dieser 
Form  irgend  einmal  vollendet  zu  denken.  Kann  er  aber  Letzteres 
nicht,  so  wird  sich  für  ihn  die  Welt  in  die  Schaalheit  eines  ewigen 
Wiederholungsspiels  verkehren,  und  er  wird  weder  das  Neue  in  den 
Wandlungen  begreifen,  noch  die  Möglichkeit  absehen,  dass  die  Ver- 
nichtung der  Differenzen  der  Ausgangspunkt  für  eine  radical  verän- 
derte Entwicklung  werde.  Vermöge  derselben  Nothwendigkeit ,  die 
den  uns  bekannten  Reihen  von  Realitäten  ihren  Ursprung  vermittelt 
hat,  sind  auch  andere  Reihen  zu  gewärtigen,  und  die  Vorstellung 
von  der  Natur  verliert  durch  diesen  unabweisbaren  Charakterzug  ihre 
herkömmliche  Beschränktheit. 

Wir  würden  jedoch  die  Naturansicht,  welche  uns  das  Gesetz 
der  bestimmten  Anzahl  gelten  zu  lassen  gebietet,  nur  sehr  roh  ge- 
stalten,  wenn  wir  uns  nicht  zugleich   der  nothwendigen  Stetigkeit 

Dühring,  Ciirsus  der  Philosophie.  5 


—    66    — 

erinnerten,  ohne  welche  eine  Erkenntniss  des  zeitlichen  und  räum- 
lichen Universums  unmöglich  bleiben  würde.  Von  jedem  Begriff, 
der  in  der  Gegenwart  einer  bestimmten  Zeit  und  eines  bestimmten 
Ortes  seinen  Anhaltspunkt  hat,  muss  sich  die  Brücke  zu  den  ent- 
legensten Zuständen  schlagen  lassen.  Andernfalls  wären  weder  die 
Erkenntniss  noch  die  Natur  ein  zusammenhängendes  System.  Der 
Leitfaden  der  allgemeinen  Verwandtschaft  der  Gattungen  und  Arten 
des  Existirendeu  darf  uns  in  keiner  Richtung  entfallen,  und  selbst 
die  nichtdifferenten  Zustände  der  Sichselbstgleichheit  müssen  uns  in 
irgend  einer  Form  verständlich  werden.  Die  allgemeine  Materie  ist 
hier  nun  wiederum  das  Medium,  in  welchem  wir  sowohl  mit  unsem 
Begriffen  als  mit  den  Thatsachen  Ruhe  finden.  Sie  hat  das  zeit- 
liche Differenzenspiel  nicht  zur  Voraussetzung  und  kann  insofern  von 
keinem  Entstehen  und  Vergehen  berührt  werden.  Sie  ist  für  die 
Vergangenheit  wie  für  die  Zukunft  das  Element,  an  welchem  alle 
thörichten  Schöpfungs-  und  Vernichtungsideen  zu  Schanden  werden 
müssen.  Ehe  wir  jedoch  auf  ihr  Wesen  näher  eingehen,  müssen  wir 
unserm  leitenden  Ausgangspunkt,  der  das  Gesetz  der  bestimmten 
Anzahl  war,  noch  erst  die  weitere  Erörterung  der  mathematischen 
Kategorien  folgen  lassen. 

4.  Die  ideelle  Unbeschränktheit  der  Raumvorstellung  kann  im 
Realen  nicht  die  widersinnige  Bedeutung  einer  an  sich  seienden 
Unendhchkeit  haben,  sondern  verbürgt  nichts  weiter,  als  dass  die 
wirkliche  Ausdehnbarkeit  der  Dinge  ohne  solche  Hindemisse  besteht, 
die  nicht  in  ihnen  selbst  zu  suchen  wären.  Der  leere  Raum,  von 
welchem  das  kosmische  Universum  umgeben  gedacht  wird,  ist  eine 
nichtige  Vorstellung,  und  kein  reales  Naturdenken  wird  dieselbe  in 
besondern  Fragen  anders  als  negativ  zu  benutzen  vermögen.  Die 
ausgedehnte  Reahtät  ist  etwas  Anderes  als  die  blosse  Raumvorstel- 
lung und  hat  stets  Grenzen.  In  der  Naturerkenntuiss  kommt  es 
auf  die  Wirkung  dieser  ausgedehnten  Realität  in  der  gegenseitigen 
Beziehung  ihrer  materiellen  Theile,  nicht  aber  auf  jene  blosse  Vor- 
stellung vom  Räume  an,  die  auch  in  den  Träumen  in  gleicher  Weise 
vorhanden  ist.  Das  räumliche  Weltbild  wird  daher,  obwohl  wir 
seine  Umrisse  empirisch  noch  nicht  zu  verzeichnen  vermögen,  doch 
im  Allgemeinen  ein  sehr  bestimmtes.  Die  reale  Ausgedehntheit  des 
Materiellen  oder,  mit  andern  Worten,  die  Erfüllung  des  Raumes  hat 
ihre  Grenzen  und  mithin  auch  an  sich  selbst  irgend  eine  Gestalt. 
Es  braucht  wohl  kaum  besonders  bemerkt  zu  werden,   dass  uns  in 


—     67     — 

nnsenu  Denken  nicht  nur  nichts  nöthigt,  mit  der  Raumvorstelluug 
auch  eine  reale  Erfüllung  derselben  ins  Unendliche  fortzusetzen,  son- 
dern dass  im  Gegentheil  in  einer  solchen  Fortsetzung  ein  Wider- 
spruch gegen  das  vorher  erörterte  Gesetz  der  bestimmten  Anzahl 
liegen  würde.  Reale  Theile,  die  als  gesonderte  Existenzen  als  an 
sich  vorhanden  gedacht  werden  müssen,  können  eben  nicht  in  un- 
beschränkter Menge  gegeben  sein.  Hiemit  verschliesst  sich  jene  wüste 
Idee  der  räumlich  unendhchen  Wirklichkeit,  wie  sie  z.  B.  in  so  zu 
sagen  poetischer  Unbefangenheit  von  Spinoza  gehegt  wurde. 

Der  durch  seine  drei  Dimensionen  und  indirect  auch  durch  die 
geometrischen  Axiome  gekennzeichnete  Raum  ist  der  einzige,  von 
dem  wir  einen  Begriff  haben  können.  Er  ist  derjenige,  welcher  die 
an  sich  seiende,  durch  reale  Kräfte  vermittelte  Ausdehnung  der  Dinge 
in  einem  anschaulichen  Bilde  sichtbar  werden  lässt,  und  der  daher 
nichts  ausdrücken  kann,  was  nicht  an  sich  vorhanden  wäre.  Nur 
das  subjective  Bewusstsein,  welches  die  Vorstellung  als  solche  stets 
begleitet,  ist  natürlich  in  den  Dingen  selbst  nicht  zu  suchen  und 
daher  auch  nicht  jene  Production  der  blossen  Vorstellungsform,  auf 
deren  Missverständniss  die  falsche  Unendhchkeitsidee  beruht.  Die 
Gesetze  der  realen  Ausdehnung  ergeben  sich,  wenn  man  zu  der 
Raumvorstellung  noch  begriffliche  Verzeichnungen  nach  bestimmten 
Regeln  hinzufügt.  Die  Geometrie  kann  mit  der  allgemeinen  Vor- 
stellung des  Raumes  nichts  ausrichten,  wenn  sie  nicht  die  begriff- 
lichen Regeln  des  Entwurfs  bestimmter  Gebilde  noch  als  weitere 
Voraussetzungen  hinzunimmt.  Die  geometrische  Nothwendigkeit  hat 
also  auch  einen  rein  logischen  Bestandtheil.  Schon  aus  diesem 
Grunde  sollte  sich  der  mathematische  Mysticismus  hüten,  die  ver- 
schiedenen Räume,  die  er  mit  beliebigen  Dimensionen  zur  Verfugung 
stellt,  der  Kritik  dadurch  in  der  ganzen  Blosse  der  Widersinnigkeit 
zu  zeigen,  dass  er  nicht  nur  die  Sätze  der  bisher  gültigen  Geometrie 
leugnet,  sondern  es  auch  unternimmt,  neue  Wahrheiten  seines 
Schlages  zum  Besten  zu  geben.  Wenn  z.  B.  Gauss  behauptete,  dass 
die  Summe  der  drei  Winkel  eines  gradlinigen  Dreiecks  beliebig 
kleiner  als  zwei  Rechte  gemacht  werden  könne,  sobald  man  nur  die 
Seiten  gross  genug  nehme,  so  war  dies  nicht  etwa  blos  ein  schlechter 
Spass  oder  der  Anschein  eines  Widersinns,  der  vermittelst  des  be- 
kannten Jargons  des  Unendlichen  entstanden  wäre  und  sich  in  eine 
nüchterne  Wahrheit  auflösen  liesse,  —  sondern  es  war  ganz  einfach 
eine  mystische  Bizarrerie,  deren  geschraubte  Consequenzen  unter  den 

5* 


—    68    — 

Händen  kleinerer  Mathematiker  uns  schliesslich  mit  einer  ganzen  _ 
antieuklidischen  Geometrie  beglückt  haben.  Nicht  genug,  dass  die  I 
Parallelen  im  Unendlichen  einen  Winkel  bilden  und  man  daher  aus 
drei  Parallelen  eine  ebene  Raumeinschliessung,  nämlich  ein  Dreieck 
formiren  kann;  nicht  genug,  dass  dies  buchstäblich  und  nicht  etwa 
im  Sinne  des  Unendlichkeitsjargons  alter  Tradition  verstanden  wer- 
den soll ;  nicht  genug,  dass  ein  Raum  mit  sieben  oder  zehn  Dimen- 
sionen sich  nach  den  neuen  Aufschlüssen  über  die  Geheimnisse  der 
Natur  schon  so  sehr  von  selbst  versteht,  dass  derartige  Conceptionen 
bereits  wirklich  und  wahrhaft  zum  Kinderspiel  geworden  sind;  — 
unter  allen  Ungeheuerlichkeiten  dieser  mystischen  Brutstätte  findet 
sich  auch  die  köstliche  Idee,  dass  grade  Linien  vermittelst  des  Un- 
endlichen in  sich  selbst  zurückkehren.  Hier  wird  offenbar  die  grade 
Linie  zu  einer  mystischen  Schlange,  deren  Kopf  und  Schwanz  einander 
begrüssen,  und  alle  solche  Wunder  verdankt  man  den  neueii  Räumen, 
die  selbst  wieder  aus  der  Zauberkraft  des  Unendlichen  gezeugt  sind. 
Der  schümmste  Humor  bei  der  Sache  ist  der,  dass  mau  vor  dieser 
neuen  Mathematik  nicht  einmal  grade  ausspucken  kann,  ohne  Ge- 
fahr zu  laufen,  dass  einem  durch  Vermittlung  der  Unendlichkeit 
das  Projectil  von  hinten  wieder  anfliege.  Wer  mir  etwa  unter  dem 
Eindruck  des  Prestige,  welches  der  Name  Gauss  auch  in  der  falschen 
Richtung  ausübt,  nicht  glauben  will,  findet  eine  kurze  literarische 
Belegung  der  Thatsachen  im  letzten  Capitel  meiner  Geschichte  der 
Principien  der  Mechanik.  Hier  sei  nur  noch  bemerkt,  dass  Gauss, 
der  mit  seiner  grossen  Autorität  das  Deliriren  der  kleinen  ermöglicht 
und  den  ganzen,  heut  aufgeführten  Wissenschaftsskandal  durch  seine 
gelegentliche  Bizarrerie  eingeleitet  hat,  philosophisch  nicht  minder 
roh,  als  in  einigen  speciellen  Richtungen  der  reinen  und  angewandten 
Mathematik  virtuos  gewesen  ist.  Ein  leicht  erkennbares  äusserliches 
Zeichen  war  die  religiöse  Beschränktheit  und  die  gesellschaftliehe 
Anschauungsart,  welche  dieser  Sohn  des  Maurers  mit  Behaglichkeit 
bis  in  das  höchste  Alter  gepflegt  und  stets  als  etwas  angesehen  hat^ 
was  über  die  moderne  Denkweise  und  Gestaltungsart  der  Dinge  er- 
haben wäre.  So  erklären  sich  aus  der  logischen  Crudität  seiner 
Welt-  und  Lebensansichten  auch  die  fraglichen  Verwicklungen  mit 
dem  mathematischen  Mysticismus.  Lassen  wir  jedoch  dieses  Neben- 
gebiet, zu  dessen  Beschreitung  uns  nur  die  ephemere  Thorheit  der 
Mode  einer  Generation  veranlassen  konnte. 

Der  wichtigste  eigentlich  metaphysische  Versuch,  neben  unsenn 


—    69     — 

bekannten  Räume  noch  allerlei  andere  offenzuhalten,  nämlich  die 
Kantische  Subjectivitäts-  oder  Idealitätslehre  ist  grade  in  dieser  Hin- 
sicht das  Widerspiel  aller  Wirklichkeitsphilosophie.  Das  einzige  Be- 
deutende, was  sie  zu  mehr  als  einer  spiritualistischen  Thorheit  nach 
Swedenborgischem  Muster  machte,  blieb  für  sie  selbst  eine  Neben- 
sache, nämlich  die  Beseitigung  des  Undings  von  unendlichem  Raum, 
welches  die  Mathematiker  als  eine  an  sich  seiende  Wirklichkeit  gel- 
tend zu  machen  belieben.  Die  Form  der  Träume  mit  ihrem  leeren 
Ausdehnungsrahmen  ist  keine  an  sich  selbst  vorhandene  Realität,  — 
dies  und  weder  Mehr  noch  Weniger  ist  das  haltbare  aber  vom  Ur- 
heber selbst  vernachlässigte,  ja  bisweilen  durch  Zweideutigkeiten  ins 
Gegentheil  verkehrte  Element  der  Kantischen,  übrigens  in  verhüllter 
Weise  mystischen  und  für  mystisch  spiritualistische  Zwecke  gebrauch- 
ten Idealitätstheorie.  In  der  That  war  ihr  nicht  nur  das  Berkeleysche 
Geisterreich,  sondern  auch  dasjenige  Swedenborgs  nicht  fremd  ge- 
blieben, und  die  völlige  Verzerrung,  welche  die  natürhche  Gedanken- 
haltung in  der  besondern  Gestaltung  der  Kantischen  Kategorien- 
scholastik erfuhr,  ist  zu  einem  gTossen  Theil  dem  fortwährenden 
Schielen  nach  der  sogenannten  praktischen  Begründung  von  mysti- 
schen Moral-  und  Religionsideen  zuzuschreiben. 

Um  gar  keinen  Zweifel  übrig  zu  lassen,  so  sei  noch  ausdrücklich 
gesagt,  dass  die  Wirklichkeitsphilosophie  zwar  nicht  in  der  leeren 
Raumvorstellung,  aber  wohl  in  den  räumlichen  Beziehungen  der 
Dinge  etwas  Absolutes  sieht,  was  sich  in  jeder  Auffassungsart  den- 
kender Wesen  auf  gleiche  Weise  ausgedrückt  finden  muss.  Die  Ma- 
thematik der  Bewohner  anderer  Weltkörper  kann  auf  keinen  andern 
Axiomen  beruhen  als  die  unsrige,  und  überhaupt  müssen  die  Ele- 
mente, aus  denen  sich  das  Denken  und  Vorstellen  zusammensetzt, 
ebensowohl  überall  dieselben  sein,  wie  es  die  chemischen  Bestand- 
theile  der  Körper  sind. 

5.  Im  Begriff  der  Zeit  ist  die  Form  des  unveränderten  Bestehens 
sorgfältig  von  derjenigen  der  Veränderung,  also  von  dem  Wechsel 
der  Elemente  zu  unterscheiden.  Das  sogenannte  Fliessen  der  Zeit 
lässt  sich  nur  als  Grundgestalt  von  realen  Unterschiedssetzungen  in 
der  Beschaffenheit  der  Vorgänge  denken.  Soweit  wir  ein  Vor  und 
Nach  vorstellen,  befinden  wir  uns  in  der  Reihe  des  Abflusses  realer 
Veränderungen.  Die  Abfolge  in  der  Zeit  oder,  geuauer  bezeichnet, 
die  Zeitordnung,  vermöge  deren  die  Zeit  eine  bestimmte  Entwick- 
lungsrichtung   und    nicht    die   entgegengesetzte  nach  der  Seite  dei* 


—     70     - 

Vergangenlieit  hin  hat,  gehört  offenbar  zur  Innern  logischen  Noth- 
wendigkeit  alles  Veränderungsspieles.  Denken  wir  uns  nun  aber 
einen  Zustand,  der  ohne  Veränderungen  ist  und  in  seiner  Sichselbst- 
gleichheit gar  keine  Unterschiede  der  Folge  darbietet,  so  verwandelt 
sich  auch  der  speciellere  Zeitbegriff  in  die  allgemeinere  Idee  des 
Seins.  Was  die  Häufung  einer  leeren  Dauer  bedeuten  solle,  ist  gar 
nicht  erfindlich;  denn  sie  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  ihr  eine 
von  Veränderungen  erfüllte  Dauer  als  Maass  gegenübersteht.  Ueber- 
haupt  ist  alle  Dauer  eine  Häufung  von  Elementen,  und  woher  soll 
in  dem  Ununterschiedenen  eine  solche  Häufung  kommen?  Allerdings 
ist  die  Zeit  auch  die  Form  des  Beharrens ;  aber  sie  ist  dies  nur  ver- 
möge des  Gegensatzes,  in  welchem  das  Bleibende  nur  unter  Beglei- 
tung von  Veränderungen  als  solches  wahrnehmbar  wird.  Mit  diesem 
Gegensatz  fällt  auch  der  specifische  Charakter  des  zeitlichen  Wechsel- 
spiels fort,  und  wenn  wir  trotzdem  eine  leere  Zeit  unter  allen  Um- 
ständen denken  müssen,  so  hat  doch  diese  leere  Zeit  keineswegs 
entsprechende  Eigenschaften,  wie  der  leere  Raum;  denn  in  ihr  ist 
keine  Abfolge,  sondern  nur  das  gedacht,  was  an  sich  selbst  eben- 
sowohl mit  einem  Sein  als  einem  Nichts,  also  mit  einer  beharrlichen 
Realität  oder  der  völligen  Negation  verträglich  sein  müsste.  Es  ist 
also  nicht  der  Gedanke  der  Zeit  selbst,  sondern  derjenige  der  Ma- 
terie, welcher  uns  nöthigt,  alle  Punkte  unserer  Zeitvorstellung  zu 
erfüllen.  Dies  ist  ein  wichtiger  Unterschied  von  der  Raumvorstel- 
lung; denn  bei  der  letzteren  sind  wir  nicht  genöthigt,  die  materielle  1 
Erfüllung  hinzuzufügen,  sondern  gelangen  im  Gegentheil  stets  zur  1 
Begrenztheit  des  Materiellen.  Wenn  wir  nun  aber  auch  das  Sein 
als  Materie  in  keiner  Vergangenheit  und  in  keiner  Zukanft  auszu- 
schliessen  vermögen,  so  liegt  doch  in  dem  Begriff  der  absoluten 
Materie  keineswegs  der  Schematismus  der  Veränderungen.  Hienach 
kann  uns  auch  die  Zeitvorstellung  weder  vorwärts  noch  rückwärts 
die  Ewigkeit  dieses  Schematismus  verbürgen.  In  den  Rückbeziehuugen 
ist  er  von  uns  bereits  positiv  als  unmöglich  gekennzeichnet;  in  der 
Richtung  auf  die  Zukunft  bleibt  er  der  Form  nach  stets  ohne  Wider- 
spruch denkbar;  aber  sein  wirkliches  Eintreten  muss  durch  reale  _ 
Beglaubigungen  verbürgt  werden.  Unsere  Kritik  des  Zeitbegriffs  1 
liefert  also  eine  Naturvorstellung,  in  welcher  nur  eine  sich  selbst 
gleiche  Materie  für  alle  Ewigkeit  zugelassen  werden  muss,  aber 
keineswegs  alle  Zukunft  mit  dem  Schematismus  der  Veränderung 
erfüllt  zu  sein  brauchte.   Die  reale  Welt  im  Räume  kann  nie  anders 


—     71     — 

als  von  allen  Seiten  mit  der  Nichtigkeit  des  völlig  Leeren  umgeben 
vorgestellt  werden;  die  reale  Welt  in  der  Zeit  hat  nur  insofern,  als 
sie  ein  Spiel  von  Veränderungen  ist,  eine  noth wendige  Anfangs- 
grenze und  eine  denkbare,  aber  nicht  als  nothwendig  erwiesene  End- 
grenze. Anstatt  jedoch  sich  im  völlig  Leeren  zu  befinden,  beginnt 
vielmehr  in  beiden  Grenzpunkten  eine  absolute  Wirklichkeit,  näm- 
lich diejenige  eines  veränderungslosen  Zustandes  der  Materie.  Die 
Frage,  ob  das  Spiel  der  Veränderungen  irgend  einmal  ablaufen  und 
wieder  zu  dem  sich  selbst  gleichen  Zustand  der  Materie  zurückführen 
müsse,  ist  eine  durchaus  reale  und  insofern  aus  dem  Begriff  der  Zeit 
nicht  zu  entscheidende.  Wenn  irgend  etwas  die  Thorheit  der  rein 
formellen,  einer  materiellen  und  mechanischen  Begründung  erman- 
gelnden Schlüsse  blosstellen  kann,  so  ist  es  die  Ohnmacht  derjenigen 
Ueberlegungen,  welche  die  realen  Eigenschaften  der  Natursystematik 
zulänglich  aus  den  Zeit-  und  Raumconceptionen  herausklauben  wollen. 
Nicht  einmal  der  Gegensatz  von  Etwas  und  Nichts  wird  hiedurch 
berührt;  denn  das  Nichts  entspräche  einer  leeren  Zeit  ebensogut,  als 
die  volle  Wirklichkeit  der  Materie. 

Aehnliche  mystische  Kühnheiten,  wie  wir  sie  bezüglich  des 
Raumes  angetroffen  haben,  sind  der  heutigen  Mathematik  auch  be- 
züglich der  Zeit  nicht  ganz  fremd  geblieben.  Indessen  sind  diese 
Regungen  noch  zu  untergeordnet,  um  eine  nähere  Befassung  mit 
den  entsprechenden  Curiositäten  zu  erfordern.  Nur  sei  bemerkt,  dass 
die  mathematisch  physikalische  Faselei  sich  gelegentlich  dahin  ver- 
stiegen hat,  die  alte  gute  Ordnung  in  der  Zeitfolge  durch  die  An- 
nahme einer  andern  Beziehung  der  Zeitpunkte  ersetzen  zu  wollen, 
wobei  z.  B.  ein  mittlerer  Zeitpunkt  in  der  realen  Beziehung  erst 
übersprungen  und  dann  wieder  auf  ihn  zurückgegriffen  würde.  Hiemit 
wäre  die  Reise  von  der  Zukunft  in  die  Vergangenheit  möglich  ge- 
macht und  das  Monstrum  der  rückwärts  fliessenden  Zeit  glücklich 
zur  Welt  gebracht.  Man  sieht  hieraus,  dass  die  kindische  Phan- 
tastik,  die  nicht  einmal  mit  Begriffen,  sondern  nur  mit  Wörtern  ge- 
dankenlos spielt,  doch  wenigstens  dazu  gut  ist,  durch  den  Contrast 
den  Unterschied  zwischen  Unsinn  und  Sinn  lebendig  zu  veranschau- 
lichen. 

Die  geometrische  Bewegung  oder,  besser  gesagt,  die  blosse  An- 
schauung der  Bewegimg  setzt  die  Begriffe  des  Räumlichen  und  Zeit- 
lichen voraus,  ohne  diejenigen  der  Materie  und  mechanischen  Kraft 
auch  nur  zu  berühren.    Jedoch  muss  man,  wenn  man  diese  blossen 


—     72     — 

Spuren  der  Bewegung  wissenschaftlich  selbständig  behandeln  will, 
immer  irgend  welche  Regeln  und  Gesetze  entwerfen,  nach  denen  sie 
sich  bezüglich  der  Geschwindigkeit  und  deren  Aenderung  richten 
sollen.  Die  ideell  gesetzte  Vorschrift  vertritt  alsdann  das,  was  in 
der  materiell  mechanischen  Wirklichkeit  durch  die  Entwicklung  und 
Combination  gegeben  wird.  Nun  ist  schon  die  rein  geometrische 
Ortsveränderung,  ohne  Rücksicht  auf  Geschwindigkeit,  ein  uralter 
Gegenstand  von  Widersprüchen,  wie  dies  eingehend  bei  der  Be- 
I  sprechung  der  Eleaten  in  meiner  Geschichte  der  Philosophie  gezeigt 
wurde.  Hier  sei  nur  daran  erinnert,  dass  diese  Widersprüche  nicht 
aus  der  Natur  der  Bewegung  selbst  und  auch  nicht  aus  dem  Wesen 
des  Raumes  und  der  Zeit,  sondern  aus  der  Zulassung  einer  falschen 
Unendlichkeit  stammen,  und  dass  sie  verschwinden,  sobald  in  dieser 
Beziehung  die  richtigen  Ideen  Platz  greifen.  Das  Wachsen  aller 
stetigen  Grössen  fuhrt  zu  denselben  Widersprüchen,  wenn  man  die 
in  falschen  Stetigkeitsideen  verhüllte  Unendlichkeit  nicht  zu  behan- 
deln weiss.  Gegenwärtig  müssen  aber  alle  derartigen  Schwierigkeiten 
als  ausschliesslich  historische  Thatsachen  betrachtet  werden;  denn 
vom  Standpunkt  der  Wirklichkeitsphilosophie  und  der  Logik  des 
Unendhchen  können  sie  sich  nicht  mehr  einfinden. 

6.  Die  mathematischen  Kategorien,  wie  wir  sie  bisher  im  Hin- 
blick auf  die  Naturvorstellung  besprochen  haben,  werden  erst  wahr- 
haft bedeutend,  wenn  sie  nicht  mehr  blos  in  gedanklicher  Abtren- 
nung von  der  Wirklichkeit,  sondern  als  Ausdruck  der  materiell 
mechanischen  Beziehungen  Geltung  haben  sollen.  Die  mechanischen 
und  materiellen  Realitäten,  welche  einer  bestimmten  Ausdehnungs- 
grösse  der  Dinge  und  ihrer  Theile  entsprechen,  können  als  die 
eigentlichen  Vertreter  des  real  Räumlichen  angesehen  werden.  Der 
räumliche  Abstand  materieller  Körper  ist  etwas  durchaus  Reales; 
denn  seine  Bedeutung  ist  für  das  Dasein  der  Kräfte  nicht  gering- 
fügiger, als  dasjenige  der  Materie  an  sich  selbst.  Mit  jedem  Abstand 
ist  zugleich  die  Kraftdisposition  zur  Annäherung  in  einer  bestimm- 
ten Form  gegeben,  Der  räumliche  Abstand  ist  daher  selbst  der 
Ausdruck  eines  mechanischen  Verhältnisses,  und  sobald  die  reale 
Grundeigenschaft  der  Ausdehnungsgrössen  in  Betracht  konmit,  tritt 
das  rein  Ideelle  der  blossen  Vorstellungsformen  so  entschieden  in 
den  Hintergrund,  dass  ein  Zweifel  über  die  absolute  Existenz  der 
räumlichen  Beziehungen  nicht  mehr  möglich  ist.  Die  mechanischen 
Kategorien  führen  uns  über  das  blosse  Bild  der  Natur  hinaus  und 


—     73     — 

zeigen  uns,  dass  diese  Natur  einen  Knochenbau  hat,  der  mit  dem 
Schattenspiel  eines  blossen  Geisterspuks  gar  sehr  contrastirt. 

Materie  und  mechanische  Kraft  sind  die  beiden  Fundamental- 
begriffe, mit  denen  wir  die  bildhafte  Aeusserlichkeit  der  Dinge  über- 
schreiten und  in  das  Reich  der  constituirenden  Eigenschaften  ein- 
dringen. Auf  diesem  Gebiet  sind  alle  Axiome  etwas  aus  der  all- 
gemeinen Erfahrung  Entnommenes,  aber  nichtsdestoweniger  von 
absoluter  Nothwendigkeit,  da  wir  durch  die  empiri^he  Zergliederung 
die  letzten  Bestandtheile  der  Naturconstitution  gewinnen.  So  ist 
das  Galileische  Beharrungs-  oder  Trägheitsaxiom  zwar  nur  durch 
Schlüsse  aufzufinden,  aber  eben  nur  durch  solche  Schlüsse,  die  sich 
an  den  erfahrungsmässigen  Thatsachen  der  Natur  bethätigen  und  in 
diesem  Stoff  die  letzte  einfache  Verfahrungsart  sichtbar  machen,  in 
welcher  das  betreffende  Grundgesetz  besteht.  Die  einfachen  Opera- 
tionen und  Elemente  der  Natur  werden  durch  den  sondernden  Ver- 
stand sichtbar  gemacht,  und  hiemit  ergeben  sich  die  objectiven 
Grundwahrheiten.  Was  wir  von  der  Materie  und  der  mechanischen 
Kraft  wissen,  haben  wir  daher  aus  der  Naturerfahrung  und  nicht 
blos  aus  den  Eigenschaften  unseres  Denkens  gewonnen. 

Was  ist  die  Materie?  Wir  antworten,  sie  sei  der  Träger  alles 
Wirklichen.  Hienach  giebt  es  auch  keine  mechanische  Kraft,  die 
ausserhalb  der  Materie  und  der  Beziehung  materieller  Theile  gesucht 
werden  könnte.  Die  Materie  ist  nicht  blos  das  Widerstehende  im 
Räume ;  sie  ist  weit  mehr,  indem  sie  den  sich  selbst  gleichen  Träger 
aller  Veränderungen  vorstellt.  Die  Unterschiede  der  verschiedenen 
Stoffe  beeinträchtigen  den  allgemeinen  Begriff  des  Materiellen  keines- 
wegs ;  denn  durch  alle  diese  Differenzen  hindurch  behauptet  sich  jenes 
Etwas,  das  den  letzten  Halt  alles  Seins  bildet.  Die  mechanische 
Kraft  ist  ein  Zustjmd  der  Materie.  Aendern  sich  die  Verhältnisse 
in  den  Theilen  der  Materie,  so  ändern  sich  auch  die  Verhältnisse  in 
den  Theilen  der  mechanischen  Kraft;  aber  die  letztere  bleibt  nicht 
minder  sich  selbst  gleich,  als  die  Materie.  Eine  mechanische  Kraft 
im  engern  Sinne  verstehen  wir  als  die  Ursache  einer  Veränderung, 
und  nur,  wo  wir  Veränderungen  wahrnehmen,  haben  wir  ein  Recht, 
die  einheitlichen  Voraussetzungen  derselben  als  Kräfte  zu  bezeichnen. 
Im  Gleichgewicht  ist  ein  besonderer  Zustand  des  materiell  Mecha- 
nischen gegeben;  aber  nur  indem  wir  die  constituirenden  Elemente 
dieses  Zustandes  gesondert  und  als  möglicherweise  frei  wirksam  ver- 
anschlagen,   begreifen   wir  sie  als  eigentliche  Kräfte.     Die  letztem 


—     74     - 

beziehen  sich  nämlich  stets  auf  eine  räumhche  Bewegung  materieller 
Theile.  Die  Menge  der  materiellen  Theile  oder,  mit  andern  Worten, 
das  Quantum  der  Materie  ist  das,  was  wir  technisch  die  Masse  nen- 
nen. Die  Natur  muss  hienach  eine  bestimmte  Masse  repräsentiren, 
und  der  räumliche  Vertheilungszustand  der  letztern  muss  einer  be- 
stimmten, als  Ganzes  unveränderlichen  Kraffcgrösse  entsprechen.  Wo 
also  eine  Zusammenziehung  eintritt,  können  wir  sicher  sein,  dass 
ihr  in  einer  andern  Hinsicht  entweder  eine  positive  Ausdehnung 
oder  die  Ansammlung  der  Kraft  zu  einer  solchen  entsprechen  werde. 
Wenigstens  folgen  diese  Gegenseitigkeitsbeziehungen  aus  der  Zu- 
sammengehörigkeit des  Kraftzustandes  mit  seinem  an  sich  unverän- 
derlichen Träger,  der  sich  selbst  gleichen  und  stets  in  gleichem 
Quantum  vorhandenen  Materie.  Die  Zustände  der  Kraft  folgen  den 
Zuständen  der  Materie,  weil  beide  nur  zwei  Seiten  einer  und  der- 
selben Wirklichkeit  sind.  Wir  denken  uns  die  Materie  stets  in 
irgend  welchen  räumlichen  Verhältnissen  ihrer  Theile,  und  die  Be- 
stimmungen dieser  räumlichen  Verhältnisse  siud  die  mechanischen 
Kräfte  im  weiteren  Sinne  des  Worts,  also  einschliesslich  der  Gründe 
des  rein  statischen  Verhaltens.  Wenn  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch 
das  Wort  Kraft  in  einem  äusserst  weiten  Sinne,  nämlich  als  Ursache 
jeder  Art  von  Fähigkeit  gelten  lässt,  so  müssen  wir  uns  in  der 
Naturphilosophie  hüten,  den  bestimmten  Begriff  der  mechanischen 
Kraft  auch  nur  mit  den  mannichfaltigen  Specialkräften  zu  verwechseln, 
wie  man  sie  jeder  Gattung  von  Erscheinungen  unterlegen  kann. 
Schliesslich  bleibt  die  mechanische  Kraft  das  Fundament  aller  an- 
dern Bethätiguugsformen ;  aber  sie  ist  deswegen  mit  diesen  Formen 
nicht  identisch. 

Die  logische  Forderung  einer  Definition  voller  Reahtäten  ist  in 
dem  gewöhnlichen  Sinne  gar  nicht  ausfdhrbai*,  indem  sie  selbst  auf 
einem  Missverständniss  der  Tragweite  rein  ideeller  Begriffsbestim- 
mungen beruht.  Dagegen  lässt  sich  jede  gesonderte  Realität,  wenn 
auch  nicht  auf  dem  Wege  der  Zusammensetzung,  so  doch  auf  dem- 
jenigen der  Trennung  definiren,  —  ein  Verfahren,  welches  ft'eilich 
der  bisherigen  Logik  nicht  bekannt  war.  Anstatt  einen  Gegenstand 
als  eine  Summe  von  Bestandtheilen  darzustellen,  kann  man  um  da, 
wo  er  einfach  ist,  als  den  Rest  einer  Differenz  sichtbar  machen. 
Der  engere  Begriff  der  Materie,  der  nicht  die  volle  Wirklichkeit  des 
Seienden,  sondern  nur  diejenige  Seite  dieser  Wirklichkeit,  die  in  der 
rationellen  Mechanik  als  Augriffsobject  der  Kräfte  gilt,  vertreten  soll, 


—    75    — 

—  dieser  engere  Begriff  der  Materie  lässt  sich  definitorisch  gewinnen, 
indem  man  die  Fülle  des  Realen  zerlegt  und  die  Kraftaffectionen  in 
Gedanken  absondert.  Diese  reale  Abstraction,  die  in  der  Beschaffen- 
heit der  Dinge  selbst  ihre  Berechtigung  hat,  darf  uns  nun  aber  nicht 
darüber  täuschen,  dass  derjenige  Begriff  der  Materie,  in  welchem  sie 
als  volle  Wirklichkeit  einschhesslich  ihrer  Kraftzustände  gefasst  wird, 
der  philosophisch  maassgebende  bleibt.  Schon  der  Chemiker,  ja  sogar 
bereits  der  Physiker  sieht  in  der  Materie  Mehr,  als  der  blosse  Me- 
chaniker. Wie  sollte  die  Philosophie  nicht  einen  noch  volleren  Be- 
griff von  dem  Träger  aller  körperlichen  und  geistigen  Affectionen 
haben?  Jene  todten  Reste  einer  fehlgreifenden  Abstraction  aber, 
yrie  wir  sie  in  den  Vorstellungen  von  einer  absolut  passiven  und 
affectionslosen  Materie  antreffen,  sind  für  das  gereiftere  Denken  un- 
brauchbar und  in  das  Reich  der  voreiligen  Begriffserdichtungen  zu 
verweisen.  Entblösst  man  die  Materie  aller  Eigenschaften,  so  macht 
man  sie  in  der  That  für  die  Erkenntniss  zu  einem  Nichts.  Nur  in- 
dem man  sie  philosophisch  als  den  Träger  aller  Wirklichkeit  be- 
trachtet oder,  mit  andern  Worten,  der  vollen,  beharrenden  Realität 
gleichsetzt,  kann  man  in  ihr  zugleich  das  absolute  Sein  und  in 
diesem  alles  üebrige  erkennen.  Die  sich  selbst  gleiche  Grösse  des 
mechanischen  Kraftvorraths  wird  alsdann  zu  einer  sehr  natürlichen 
Folge  des  allgemein  Beharrlichen,  welches  sich  nicht  nur  in  der 
Materie  an  sich  selbst,  sondern  auch  in  ihren  Zuständen  und  Ver- 
hältnissen bewahrheiten  muss.  Spiritualistische  oder  wenigstens  ideo- 
logische Abwege  sind  es  dagegen,  wenn  man  sich  andererseits  ein- 
gebildet hat,  die  Materie  als  ein  Compositum  sogenannter  Kräfte, 
also  etwa  mit  Kaut  als  eine  Vereinigung  von  Abstossung  und  An- 
ziehung construiren  und  so  die  Fülle  der  Wirklichkeit  durch  scho- 
lastische Entitäten  ersetzen  zu  können.  Auch  realistische  Denker, 
wie  August  Comte,  haben  die  Neigung,  die  Materie  in  blosse  Kräfte 
aufzulösen,  nicht  bemeistern  können.  Unsere  Auffassung  hat  mit 
keinem  der  bezeichneten  beiden  Abwege  etwas  gemein ;  sie  verbleibt 
innerhalb  der  vollen  Wirkhchkeit  und  lässt  daher  die  Kräfte  oder 
verschiedenen  Kraftäusserungen  nur  als  Zustände  der  universellen 
Materie  erscheinen. 


I 


—     76     — 

Zx^eites  Oapitel- 
Grundgesetze  des  Universums. 

Die  nähere  Bestimmung,  was  ein  Naturgesetz  sei,  ist  in  meh- 
reren Richtungen  keineswegs  selbstverständlich.  Sogar  im  strengeren 
Denken  pflegt  man  bei  dem  Ausdruck  Gesetz  zu  einseitig  blos  die 
ursächliche  Verbindung  zu  meinen  und  über  der  Causalität  die  Iden- 
tität zu  vergessen.  Wer  das  Gesetz  als  die  ursächHche  Verknüpfung 
zweier  Elemente  definirte,  würde  zwar  eine  grosse  aber  doch  nicht 
<^e  volle  Tragweite  des  Begriffs  wiedergeben.  Die  Gesetzmässigkeit 
beschränkt  sich  nicht  auf  die  Verbindung  von  Thatsachen,  sondern 
die  Thatsachen  oder  Elemente  in  ihrer  Einfachheit  und  Einerleiheit 
stellen  schon  an  sich  selbst  Grundgesetze  vor.  Die  sich  selbst^leiche 
BehaiTung  derselben  Elemente,  ohne  die  Einmischung  irgend  einer 
Veränderung,  zählt  als  etwas  Fundamentales  zu  der  gesetzlichen 
Constitution  der  Dinge.  Die  Nothwendigkeit  bekundet  sich  nicht 
blos  in  den  Folgen  von  bestimmten  Voraussetzungen^  sondern  auch 
in  den  absoluten  und  in  ihrer  einfachen  Sichselbstgleichheit  unver- 
rückbaren Thatsachen,  Es  ist  daher  bereits  ein  engerer  Sinn  des 
Naturgesetzes,  wenn  man  den  Begriff  desselben  nur  auf  Verände- 
rungen bezieht.  Am  besten  thun  wir,  indem  wir  sofort  die  schon 
früher  angedeutete  Eintheilung  in  zwei  Classen,  nämlich  in  Behar- 
rungsgesetze und  in  Entwicklungsgesetze,  zm*  Anwendung  bringen. 
Eüebei  ist  aber  daran  zu  erinnern,  dass  beide  Gattungen  von  Natur- 
gesetzen praktisch  nur  in  ihrem  Gegensatz  und  mithin  stets  auch 
zugleich  in  Verbindung  zur  Sprache  kommen  können.  Die  grössere 
oder  geringere  Sichtbarkeit  der  einen  Gattung  in  einem  besondem 
Bereich  der  Natur  ist  noch  keine  Ausschliesslichkeit,  sondern  beide 
Schemata  finden  sich  stets  an  einunddeinselben  Gegenstande  beisam- 
men. Der  Kosmos  oder  das  Universum,  d.  h.  gegenwärtig  die  Ge- 
sammtheit  der  Weltkörper  zeigen,  sobald  man  von  der  organischen 
Welt  auf  ihnen  absieht  und  sie  als  ein  Ganzes  von  mechanischer 
und  chemischer  Masse  betrachtet,  vorzugsweise  beharrliche  Elemente 
und  erst  in  zweiter  Linie  die  Spuren  der  Entwickluugsantriebe.  Im 
Gegensatz  bietet  das  organische  Dasein  und  noch  mehr  das  bewusste 
Leben  ein  schnelles  Wechselspiel  von  Veränderungen  dar,  in  welchem 
ausser  dem  Rhythmus  der  Wiederholungen  auch  neue  Gestalten  her- 


—     77     — 

vortreten.  Aber  auch,  auf  diesem  Gebiet  dürfen  über  den  Entwick- 
lungsgesetzen und  der  Entwicklungsgeschichte,  die  hier  ihre  aus- 
drucksvollste Vertretung  finden,  die  Beharrungsgesetze  und  das  Ste- 
tige, was  sich  durch  alle  Wandlungen  hinzieht,  nicht  übersehen 
werden.  Es  würde  auch  eine  wunderbare  üngleichartigkeit  sein, 
wenn  das  kosmische  Universum  und  die  in  seinen  einzelnen  Welten 
vertretenen  Organisationen  nicht  an  demselben  einheitlichen  und 
vollständigen  Typus  der  Gesetzmässigkeit  Antheil  hätten.  Die  Ge- 
schichte der  Natur  als  eines  mechanischen  Ganzen  hat  nur  als  Unter- 
lage für  die  Geschichte  empfindender  Wesen  einen  Sinn.  Ebenso 
haben  die  beharrhchen  Elemente  der  Naturverfassung  nur  eine  Be- 
deutung, wenn  sie  zugleich  in  der  Constitution  bewusster  Wesen  ein 
Analogon  finden.  Die  äusserliche  Natur  und  das  innerliche  Empfin- 
dungsleben sind  so  zu  sagen  aus  einem  Guss,  so  dass  Beharrliches 
und  Veränderliches  in  beiden  Bereichen  einander  entsprechen  müssen. 
Das  allgemeine  Schema  besteht  aber  in  einer  Steigerung  der  Ver- 
änderlichkeit und  des  Wechselspiels ;  die  universelle  Bühne  des  Lebens 
muss  langsameren  Veränderungen  unterliegen,  als  das  Leben  selbst, 
und  die  höchsten  Stufen  des  letzteren  müssen  die  grösste  Mannich- 
faltigkeit  in  das  augenblickliche  Bewusstsein  zusammendrängen. 

Die  Entwicklungsgesetze  reihen  Verschiedenes  in  der  Zeit  an- 
einander, und  es  ist  durchaus  nicht  nothwendig,  dass  sich  ein  Vor- 
gang wiederhole,  um  gesetzmässig  zu  sein.  Das  Gesetz  bezieht  sich 
nicht  blos  auf  das  Allgemeine,  sondern  auch  auf  das  Einzelne.  Das 
Auftreten  des  Menschen  auf  der  Erdoberfläche  ist  ein  einmaliger, 
wenn  auch  stetig  und  langsam  vollzogener  Act,  der  sich,  um  als 
naturgesetzlich  zu  gelten,  nicht  etwa  zu  erneuem  braucht.  Auch 
wäre  er  um  nichts  weniger  die  Folge  einer  gesetzHchen  Nothwendig- 
keit,  wenn  er  auch  auf  andern  Weltkörpern  keine  Analoga  hätte. 
Obwohl  es  nun  selbstverständlich  ist,  dass  die  Entwicklung  denken- 
der Wesen  ein  Zubehör  bestimmter  Zustände  der  Materie  sei  und 
daher  im  Kosmos  in  einer  grossen  Anzahl  von  Wiederholungen  vor- 
gekommen sein  muss,  vorkommt  und  vorkommen  wird,  so  können 
wir  doch  das  Nothwendigkeitsband  und  das  Gesetzliche  dieser  Art 
von  Vorgang  nicht  von  der  Vielfachheit  der  Anwendung  desselben 
Schema  in  verschiedenem  Stoffe  abhängig  machen,  sondern  auch  ein 
einziger  Act,  wenn  auch  neben  ihm  Seinesgleichen  ewig  fehlte,  würde 
trotzdem  als  eine  unausweichliche  Natursatzung  und  als  ein  Glied 
in   der  Kette  des  Zusammenhangs  anzuerkennen  sein.     Alle  neuen 


—     78     — 

Formen,  die  der  Fortschritt  der  Natur  auf  den  Schauplatz  führt, 
haben  die  Eigenschaft,  keine  völlig  identischen  Vorgänger  aufweisen 
zu  können,  und  in  der  That  würde  alles  Sein  ein  blosser  Kreislauf 
bleiben,  wenn  nicht  neue  Ansätze  in  der  Entwicklung  zu  verzeichnen 
wären.  Ja  selbst  der  Kreis  schliesst  in  sich  selbst  und  abgesehen 
von  seiner  Wiederholung  die  Entwicklung  des  Verschiedenen  derartig 
ein,  dass  man  auch  mit  ihm  dem  Auftreten  neuer  Elemente  nicht 
entgeht.  Ein  Raisonnement  der  reinen  Identität  könnte  uns  nur  den 
Fortbestand  eines  regungslosen,  ewig  ungestörten  Gleichgewichts 
begreiflich  machen.  Aber  schon  die  geometrische  Bewegung  in  ihrer 
rein  ideellen  Natur  zeigt  uns  in  unserm  eignen  Denken  eine  Macht, 
welche  nicht  bei  den  starren  Identitäten  beharrt,  sondern  neue  For- 
men entwickelt  und  eigentliche  Wandlungen  vollzieht. 

Es  ist  ein  hochwichtiger  Schritt,  das  Naturgesetz  auch  in  dem 
Hervortreten  dessen  zu  begreifen,  was  in  seiner  Erscheinungsform 
Seiten  aufweist,  die  früher  sich  noch  niemals  dargeboten  haben. 
Hierin  liegt  das,  was  man  in  rationeller  Weise  als  schöpferisches 
Verfahren  der  Natur  anerkennen  darf.  Wie  diese  schaffenden  Kräfte 
speciell  zu  denken  seien,  ist  die  Frage,  in  der  sich  die  höchste  aller 
Betrachtungen  zuspitzt.  Bei  allen  Beharrungs-  und  Wiederholungs- 
gesetzen lässt  sich  angeben,  wie  in  ihrer  Anwendung  mit  den  Vor- 
bedingungen auch  die  zugehörigen  Folgen  eintreten  müssen.  Wir 
berufen  uns  nämlich  ganz  einfach  auf  die  blosgelegten  Schemata  der 
Erfahrung  und  wir  setzen  die  Elemente  des  Daseins  so  zusammen, 
wie  es  uns  die  Systematik  unseres  Denkens  und  der  uns  in  diesem 
Falle  offenliegenden  Natur  selbst  vorschreibt.  Wo  dagegen,  wie  in 
den  einmaligen  und  entlegenen  Gesammtvorgängen ,  mit  denen  eine 
vereinzelte  Wendung  oder  Epoche  eintritt,  die  Natur  in  irgend  einem 
Stücke  die  Grenzen  ihrer  bisherigen  Verfahrungsart  überschritten  zu 
haben  scheint,  bleibt  uns  einzig  und  allein  der  Leitfaden  der  Stetig- 
keit als  Mittel  übrig,  um  einen  verstandesmässigen  und  gesetzlichen 
Zusammenhang  aufzufinden.  Wir  wehren  uns  gleichsam  gegen  das 
Neue  in  der  Natur,  weil  hier  das  engere  Gebiet  der  Gesetze  wieder- 
holter Entwicklungen  versagt.  Dennoch  müssen  wir  uns  eben  in 
dieser  Richtung  vollkommen  schlüssig  machen,  wenn  nicht  das  Uni- 
versum in  der  Zeitausdehnung  eine  mehr  als  blos  räthselhafte,  näm- 
lich eine  verworrene  und  namentlich  an  ihren  Endpunkten  wüst 
geartete  Vorstellung  bleiben  soll. 

2.    Der  Ürsprungszustand  des  Universums  oder,  deutlicher  be- 


—    79    — 

zeichnet,  eines  veränderungslosen,  keine  zeitliche  Häufung  von  Ver- 
schiedenheiten einschliessenden  Seins  der  Materie,  ist  eine  Frage,  die 
nur  derjenige  Verstand  abweisen  kann,  der  in  der  Selbstverstümme- 
lung seiner  Zeugungskraft  den  Gipfel  der  Weisheit  sieht.  Wenn 
man  aber  diesen  verzweifelten  Ausweg,  für  den  Kant  eine  neue  Form 
der  Beschönigung  unter  dem  Namen  der  Vernunftkritik  erfanden 
hat,  nicht  wählen  und  das  Denken  nicht  castriren  will,  so  eröffnet 
sich  eine  Arbeit  von  grossem  Gewicht.  Was  wir  vorher  als  Zu- 
spitzung der  Frage  nach  dem  Üebergang  zum  Verschiedenen  erkann- 
ten, meldet  sich  hier  in  der  am  meisten  gesteigerten  Form  an.  Das 
Heraustreten  des  rhythmischen  Wechselspiels  der  Vorgänge  aus  einem 
sich  selbst  gleichen  Zustande  ist  nach  unsern  früheren  Erörterungen 
ein  unausweichlicher  Gedanke.  Die  zeitliche  Ausdehnung  realer  Vor- 
gänge lässt  sich  stets  unter  dem  Bilde  einer  endlichen  graden  Linie 
von  bestimmter  Grösse  veranschaulichen.  Das  Wechseln  der  Ver- 
schiedenheiten muss  auf  dieser  Linie  durch  discrete  Punkte  ange- 
deutet werden.  Ausserdem  muss  man  noch  eine  Richtung  des  Durch- 
laufens der  Linie  feststellen,  und  hiedurch  wird  sich  der  Anfangspunkt 
wesentlich  unterscheiden.  Verlängert  man  die  Linie  über  den  An- 
fangspunkt zurück,  so  kann  die  feinere  Markinmg  und  die  Weglassung 
der  discreten  Punkte  jenen  stetigen  Urzustand  wenigstens  annähernd 
symbohsiren.  Jedoch  mischt  sich  in  diese  Art  von  Symbol  leicht 
die  Vorstellung  einer  leeren  Dauer,  die  in  der  That  nicht  am  Platze 
ist.  Wie  früher  auseinandergesetzt,  fehlt  es  nicht  an  der  Erfüllung 
mit  der  Materie,  aber  wohl  an  dem  zeitlichen  Wechselspiel  von  Ent- 
stehung und  Vernichtung  und  mithin  auch  an  der  Grundform  des 
engern  Zeitbegriffs,  vermöge  dessen  die  Häufung  des  Gleichartigen 
und  mithin  die  eigentliche  Zeitgrösse  oder  Dauer  in  Betrachtung 
kommen  könnte.  Wollten  wir  nun  mit  blossen  Beharrungsgesetzen 
aus  jenem  ursprünglichen  Zustande  in  das  bestimmte  zeitliche  Spiel 
der  Veränderungen  eintreten,  so  wäre  dies  offenbar  ein  in  sich  wider- 
sprechendes Unternehmen.  Die  absolute  Identität  jenes  anfänglichen 
Grenzzustandes  liefert  an  sich  selbst  kein  Uebergangsprincip.  Erin- 
nern wir  uns  jedoch,  dass  es  mit  jedem  kleinsten  neuen  Gliede  in 
der  uns  wohlbekannten  Daseinskette  im  Grunde  eine  gleiche  Be- 
wandtniss  hat.  Wer  also  in  dem  vorliegenden  Hauptfall  Schwierig- 
keiten erheben  will,  mag  zusehen,  dass  er  sie  sich  nicht  bei  weniger 
scheinbaren  Gelegenheiten  erlasse.  Ueberdies  steht  die  Einschaltungs- 
möglichkeit von  allmälig  graduirten  Zwischenzuständen  und  mithin 


—     80    — 

die  Brücke  der  Stetigkeit  offen,  um  rückwärts  bis  zu  dem  Erlöschen 
des  Wechselspiels  zu  gelangen.  Rein  begrifflich  hilft  freilich  diese 
Stetigkeit  nicht  über  den  Hauptgedanken  hinweg,  aber  sie  ist  uns  - 
die  Grundform  aller  Gesetzmässigkeit  und  jedes  sonst  bekannten 
üebergangs,  so  dass  wir  ein  Recht  haben,  sie  auch  als  Vermittlung 
zwischen  jenem  ersten  Gleichgewicht  und  dessen  Störung  zu  ge- 
brauchen. Dächten  wir  uns  nun  aber  das  so  zu  sagen  regungslose 
Gleichgewicht  nach  Maassgabe  der  Begriffe,  die  in  unserer  heutigen 
Mechanik  ohne  sonderliche  Anstandnahme  zugelassen  werden,  so 
Hesse  sich  gar  nicht  angeben,  wie  die  Materie  zu  dem  Veränderungs- 
spiel  gelangt  sein  könnte.  Jedes  strenge  Gleichgewichtssystem,  wie 
wir  es  mathematisch  genau  vorstellen,  trägt  in  sich  selbst  keinen 
Grund  dynamischer  Vorgänge.  Das  Dynamische  in  den  Zuständen 
der  Materie  konnte  daher  in  ihrem  statischen  Verhalten  nicht  an- 
gelegt sein,  —  vorausgesetzt,  dass  unsere  Begriffe  von  der  Statik  in 
ihrer  jetzigen  mathematischen  Fassung  nicht  eine  reale  Modification 
zulassen. 

Umgekehrt  können  wir  von  der  heutigen  Dynamik  mit  den 
verfügbaren  Principien  nie  auf  eine  ürsprungsstatik  zurückschliessen, 
sondern  es  wird  im  Gegentheil  das  Gesetz  der  Unveränderlichkeit 
des  mechanischen  Kraffcvorraths  entgegenzustehen  scheinen.  Bis  jetzt 
giebt  es  in  der  rationellen  Mechanik  keine  Brücke  zwischen  dem 
streng  Statischen  und  dem  Dynamischen.  Wollte  man  diesen  Mangel 
als  eine  positive  Wahrheit  nehmen  und  Speculationen  darauf  grün- 
den, so  könnte  man  getrost  behaupten,  das  im  Gleichgewicht  Be- 
findliche vermehre  und  vermindere  sich  nicht,  und  der  dynamische 
Bewegungszustand  bleibe  ewig,  was  er  sei,  ohne  jemals  in  das  streng 
statische  Verhalten  überzugehen.  Die  Vertheilung  der  Materie  und 
hiemit  ihrer  Kräftezustände  ist  nun  aber  das  grosse,  bis  jetzt  wenig 
erforschte  Mittel,  um  in  Rücksicht  auf  Bewegung  und  Ruhe  die  be- 
deutendsten Formverschiedenheiten  hervorzubringen.  Die  Verwand- 
lung von  Massenbewegung  in  Theilchenbeweguug  ist  die  leitende 
Idee,  durch  welche  man  sich  die  Vertheilung  der  in  ihrer  Grösse 
sich  gleichbleibenden  mechanischen  Kraftmenge  gegenwärtig  hin- 
reichend exact  vorzustellen  glaubt.  Mit  jeder  Bewegungsveränderung 
in  den  Theilchen  der  Materie  wird  nun  aber  auch  eine  andere  sta- 
tische Affection  derselben  miterzeugt.  Es  giebt  nämlich  kein  dyna- 
misches Verhältniss,  mit  welchem  nicht  zugleich  im  Antagonismus 
der  Kräfte  eine  partielle  Aufhebung  und  mithin  eine  Art  von  rela- 


—     81     — 

tivem  Gleichgewicht  gegeben  wäre.  Vielleicht  wäre  es  daher  zu- 
treffender, wenn  man  im  Allgemeinen  sagte,  dass  die  gleichartige 
Gesammtaffection  grosser  Massen  in  die  Affection  kleiner  Theilchen 
mit  selbständiger  Verschiedenheit  und  sogar  mit  einem  Antagonismus 
des  gegenseitigen  Verhaltens  aufgelöst  werde.  Wie  diese  Formver- 
änderungen d.  h.  Vertheilungen  der  mechanischen  Affectionen  der 
Materie  erfolgen,  dafür  haben  wir  bis  jetzt  kein  allgemeines  Princip 
zur  Verfügung,  und  wir  dürfen  uns  daher  nicht  wundern,  wenn  diese 
Vorgänge  ein  wenig  in  das  Dunkle  auslaufen.  Die  nähere  Bezeich- 
nung dieser  Dunkelheit  dürfte  aber  vielleicht  zur  schliesslichen  Auf- 
hellung beitragen. 

Der  Antagonismus  der  mechanischen  Kräfte  ist  ein  Grundschema 
des  Universums.  Wir  können  uns  weder  statisch  noch  dynamisch 
zwei  materielle  Theile  in  einem  gegenseitigen  Kraftverhältniss  und 
mithin  keine  einzige  reale  Wirkung  denken,  bei  welcher  nicht  im 
Gegensatz  der  Richtungen  ein  Widerstreit  ins  Spiel  käme.  Nur  die 
Trägheitsbeharrung  könnte  den  Schein  einer  Ausnahme  liefern ;  aber 
in  diesem  Fall  fehlt  es  auch  an  jeder  realen  Wirkung  und  an  jeder 
Kraftbethätigung.  Abgesehen  von  der  in  dieser  Hinsicht  unzweifel- 
haften Entwicklung  der  Kräfte  an  Widerständen,  die  nach  und  nach 
überwunden  werden,  ist  auch  diejenige  Bethätigung,  die  in  der  blossen 
Dauer  des  statischen  Verhaltens  besteht,  unter  die  allgemeine  Form 
des  Antagonismus  aufzunehmen.  Der  rein  mathematische  Gedanke 
des  strengen  Gleichgewichts  bleibt  unberührt,  wenn  man  in  der 
realen  Gegenseitigkeit  gleich  grosser  Hinderungen  und  Bestrebungen 
der  Bewegung  solche  Affectionen  voraussetzt,  in  denen  mehr  als  die 
blosse  Trägheit  vertreten  ist,  wie  sie  sich  in  dem  vom  Antagonismus 
freien  Zustande  äussert. 

Es  giebt  nun  eine  allgemeine  Erfahrung,  nach  welcher  jeder 
Mechanismus,  sei  er  eine  künsthche  oder  natürliche  Einrichtung, 
finde  er  sich  im  unorganischen  oder  organischen  Gebiet,  habe  er 
kosmische  Dimensionen  oder  die  des  kleinsten  lebenden  Wesens,  — 
die  thätigen  Kräfte  verbraucht,  abnutzt  und  also  in  irgend  einer 
Form  an  das  allgemeine  Medium  der  Materie  überträgt.  Wissen- 
schaftlich würde  man  sich  noch  genauer  ausdrücken,  wenn  man  An- 
gesichts des  Gesetzes  der  Gleichheit  der  Kraftmenge  in  der  Action 
und  Reaction  blos  von  einer  Vertheilung  oder  Diffusion  der  Kraft- 
elemente redete.  Diese  Vertheilung  oder  Diffusion  genügt  aber  auch, 
um  jede  specielle  Anordnung  der  Triebkräfte    rückgängig  zu  machen, 

Dii  bring,  Cuisus  der  Philosophie.  C 


—     8-2     - 

und  diese  Art  von  mechanischer  Rückbildung  kann  uns  indirect  eine 
Bürgschaft  für  die  Denkbarkeit  des  ursprünghch  umgekehrten  Vor- 
gangs werden.  In  demselben  Sinne,  in  welchem  wir  eine  Vernich- 
tung zulassen,  müssen  wir  auch  eine  schaffende  Formgebung,  also 
einen  Uebergang  aus  einem  Vertheilungszustand  der  Materie  in  einen 
andern  auf  dem  positiven  Wege  anerkennen.  Wer  nach  den  Ge- 
setzen der  Anordnung  fragen  sollte,  dem  antworten  wir,  dass  man 
bis  jetzt  nur  die  Unzerstörlichkeit  der  Materie  und  der  mechanischen 
Kraft  als  Gesammtgrössen  und  in  ihren  Elementen,  aber  so  gut  wie 
noch  nichts  über  die  Gruppirungsprincipien  festgestellt  hat.  Die 
Formverwandlungen  berühren  den  quantitativen  Vorrath  des  Mediums 
nicht  im  Mindesten,  und  wir  können  daher  auch  die  Idee  zulassen, 
dass  die  örtliche  Vermehrung  oder  Verminderung  der  Kraftelemente 
selbst  derjenige  mechanische  Vorgang  ist,  vermöge  dessen  durch  eine 
allmälige  Vertheilung  ebensogut  das  vollständige  Gleichgewicht  wie 
die  Störung  desselben  und  der  Uebergang  zwischen  beiden  verständ- 
lich werden  könne.  Die  örtliche  Anhäufung  oder  Vertheüung  ist 
nun  zwar  selbst  ein  mechanischer  Act,  bezieht  sich  aber,  was  nicht 
zu  übersehen  ist,  nicht  auf  den  Vorrath,  sondern  auf  dessen  specielle 
Vertheilungsform  und  fällt  insofern  nicht  unter  das  Gesetz  der  ab- 
soluten ünveränderlichkeit.  Irgend  eine  Form  ist  im  Gegensatz  zur 
undenkbaren  Formlosigkeit  allerdings  stets  vorauszusetzen;  aber  es 
ist  nicht  nothwendig,  dass  diese  Form  das  dynamische  Wechselspiel 
einschliesse  und  mithin  den  Widersinn  einer  Unzahl  von  abgelaufe- 
nen Acten  producirt  habe. 

3.  Das  Bild  des  Universums,  wie  wir  es  uns  bisher  hingezeichnet 
haben,  hat  seine  Beglaubigung  theils  in  Nothwendigkeiten  der  rein 
ideellcD  Logik,  theils  in  den  gegebenen  Thatsachen  und  Analogien 
der  Gegenwart.  Alle  wahre  Wissenschaft  hat  ihren  Ausgangspunkt 
in  gegenwärtigen  Thatsachen,  und  wenn  wir  den  Begriff  der  sich 
selbst  gleichen  Beharrung  nicht  unmittelbar  aus  dem  Verhalten  der 
Materie  und  der  mechanischen  Kräfte  mit  einem  realen  Inhalt  hätten 
ausstatten  können,  so  würde  unsere  Urspruugsvorstellung  in  der  Un- 
bestimmtheit rein  logischer  Formen  verblieben  sein.  Was  uns  aber 
überhaupt  genöthigt  hat,  die  Unendlichkeitsdimensioneu  des  Univer- 
sums in  zwei  Beziehungen,  nämlich  im  Räume  und  rückwärts  in  der 
Zeit,  gleichsam  abzuschneiden  und  eine  wahre  Unendlichkeit  nur  in 
der  Richtung  auf  das  Zukuuftsspiel  der  Vorgänge  offenzulassen,  ist 
eine  apriorische  Wahrheit  gewesen,   zu  der  sich  für  die  Ursprungs- 


—    83    — 

Vorstellung  nur  noch  die  reale  Thatsächlichkeit  der  veränderungs- 
losen Materie  gesellte.  Unser  Weltbild  hätte  sich  erheblich  anders 
gestalten  können,  wenn  jene  logische  Nothwendigkeit  mit  ihrer  Aus- 
schliessung der  falschen  Unendlichkeiten  nicht  wäre.  Um  des  Con- 
trastes  willen  wollen  wir  aber  auch  das  falsche  Bild  vom  Universum 
kurz  kennzeichnen.  Die  gedankenlose  Imagination  projicirt  hier  rück- 
wärts ins  Unendliche  ein  ewiges  Wechselspiel,  welches  sich  mehr 
oder  minder  nach  Art  der  heutigen  Vorgänge  in  einer  unendlichen 
Anzahl  von  Acten  und  mithin  von  jeher  vollzogen  haben  soll.  Was 
die  räumliche  Ausdehnung  anbetrifft,  so  werden  im  eigentlichen  Sinne 
des  Worts  zahllose  Weltkörper  oder,  mit  andern  Worten,  unendliche 
Häufungen  der  Materie  angenommen.  Der  realen  Unendlichkeit  des 
Raumes  soll  auch  eine  Erfüllung  von  gleich  wüster  Unendlichkeit 
entsprechen;  jedoch  ist  diese  Vorstellung  nicht  so  fest  ausgeprägt, 
wie  diejenige  von  der  Vergangenheit.  Bezüglich  der  Zukunft  trifft 
die  wüste  Idee  vom  Universum  anscheinend  mit  unsem  rationellen 
Anschauungen  zusammen;  aber  dennoch  ergiebt  sich  auch  hier  bei 
näherer  Betrachtung  ein  nicht  unerheblicher  Unterschied.  Wir  be- 
haupten nämlich  nichts  weiter,  als  dass  der  Unendlichkeit  ideell  in 
dieser  Richtung  nichts  entgegensteht,  und  wir  verlangen  überdies 
eiuen  in  der  gegenwärtigen  Realität  und  mithin  in  der  objectiveu 
Mechanik  selbst  belegenen  Grund,  um  die  ewige  Fortsetzung  der 
Formwandlungen  und  der  Häufung  unterschiedener  Acte  als  noth- 
wendig  zu  erkennen.  Haben  wir  einmal  in  der  Vergangenheit  den 
allmäligen  Uebergang  aus  einem  sich  selbst  gleichen  Zustande  der 
Materie  zu  differenten  Gestaltungen  als  Anfangspunkt  setzen  müssen, 
so  dürfte  es  auch  wohl  keine  unerhörte  Conception  sein,  zu  dem 
Anfangspunkt  auch  einen  Endpunkt  als  rein  ideelle  Möglichkeit 
offenzulassen.  Ein  sich  selbst  gleicher  Zustand  der  Materie  könnte 
ebensowohl  am  Horizont  der  Zukunft  den  Untergang,  als  am  Hori- 
zont der  Vergangenheit  den  Aufgang  des  dazwischenliegenden 
Wechselspiels  von  Entstehung  und  Vernichtung  verbrämen.  Es  wird 
sogar  eine  Art  des  Denkens  geben,  für  welche  diese  Uebereinstimmung 
von  Ursprung  und  Ausgang  grossen  Reiz  haben  möchte;  aber  den- 
noch sind  derartige  Zukunftsperspectiven  solange  abzuweisen,  als  in 
der  Realität  nicht  die  sichern  Spuren  einer  absoluten  Rückbildung 
nachgewiesen  und  mechanische  Schlüsse  auf  eine  allgemeine  Diffusion 
der  materiellen  Theile  und  der  Kraftelemente  in  bestimmter  Weise 
gezogen  werden  können.    Was  würde  aber  auch  schliesslich  in  einer 


—     84     — 

solchen  Vernichtung  der  zählbaren  Acte  des  Wechselspiels  und  Be- 
seitigung des  rastlosen  Rhythmus   der  Oscillationen  Anderes  erzielt 
werden,  als  ein  Zustand,  dem  die  innere  Anlage  zu  neuen  Wand- 
lungen möglicherweise  ebenso  inwohnen  könnte,  wie  dem  ursprüng- 
lich sich  selbst  gleichen  Verhalten  der  Materie?   Die  logische  Noth- 
wendigkeit  steht  auch  in  ihrer  realen  Gestaltung,  ebenso  wie  in  der 
ideellen  Form,   über  aller  Zeit.     Sowenig  man  bei  einer  mathema- 
tischen Wahrheit  fragen  kann,  wie  lange  sie  wahr  sei  oder  wahr 
sein  werde,  ebensowenig  kann  man  die  absoluten  Nothwendigkeiten 
des  Realen  von  einer  Dauer,    sondern  muss  umgekehrt  die  Dauer 
und    deren  jedesmalige  Grösse   von  jenen  selbst   abhängig  machen. 
Ich   will  mich  nicht  darauf  berufen,   dass  die  colossale  Ausdehnung 
der  Zeiträume  eine  absolute  Zukunftsvorstellung,  wenn  nicht  für  die 
Wissenschaft  so  doch  für  unser  Gemüth  und   unsere  ideelle  Theil-l:i 
nehme  am  universellen  Leben  praktisch  gleichgültig  machte.    Letz 
teres  ist  eben  nicht  der  Fall,   sobald  man  es  mit  den  Wirkungen 
der  Weltanschauung  streng  nimmt  und  sich  nicht  bei  Annäherungen 
beruhigt.   Für  das  praktische  Eingreifen  und  das  sich  anschliessende 
Bewusstsein  ist  es  freilich  unerheblich,   ob  wir  mit  einzelnen  Jahr- 
tausenden oder  mit  millionenfachen  Abschnitten  solcher  Dauer  rech-*| 
neu.   Für  die  ideale  Haltung  unseres  universellen  LebensbewusstseinsJ 
ist   aber   der   volle  Libegriff   aller  Realität    erst  der  entscheidende  1 
Grund  der  abschliessenden  Gestaltung.     Wie  im  räumlichen  Univer 
sum  die  Gravitation   aller  materiellen  Theile,  so   entfernt  sie  auch 
sein  mögen,   auf  die  Haltung  eines   einzelnen*  Theilchens  einwirkt^ 4 
so  muss  auch  in  den  ideellen  und  realen  Beziehungen  der  zeitlichen 
Ausdehnung  das  Entlegenste  in  Betracht  kommen,   und  man  wird 
das  zeitliche  Universum  in  keine  wüste  Unbestimmtheit  verwandeln 
dürfen,   wenn  man   sich  nicht  selbst  in  seiner  Gedanken-  und  Ge-.  j 
müthshaltung  einen  wüsten  Zustand  gefallen  lassen  will.  f ' 

Nun  versteht  es  sich  von  selbst,  dass  die  Principien  des  Lebens- 
reizes mit  ewiger  Wiederholung  derselben  Formen  nicht  verträglich 
sind.  Der  tiefere  logische  Grund  alles  bewussten  Lebens  fordert  da- 
her im  strengsten  Sinne  des  Worts  eine  Unerschöpflichkeit  der  Ge- 
bilde. Ist  diese  Unendlichkeit,  vermöge  deren  immer  neue  Formen 
hervorgetrieben  werden,  an  sich  möglich?  Die  blosse  Zahl  der  ma- 
teriellen Theile  und  Kraftelemente  würde  an  sich  die  unendliche!  | 
Häufting  der  CJombinationen  ausschliessen ,  wenn  nicht  das  stetige 
Medium  des  Raumes  und  der  Zeit  eine  Unbeschränktheit  der  Varia- 


—     85     - 

tionen  verbürgte.  Aus  dem,  was  zählbar  ist,  Tiann  auch  nur  eine 
erschöpfbare  Anzahl  von  Combinationen  folgen.  Aus  dem  aber,  was 
seinem  Wesen  nach  ohne  Widerspruch  gar  nicht  als  etwas  Zählbares 
concipirt  werden  darf,  muss  auch  die  unbeschränkte  Mannichfaltig- 
keit  der  Lagen  und  Beziehungen  hervorgehen  können.  Diese  Un- 
beschränktheit,  die  wir  für  das  Schicksal  der  Gestaltungen  des  Uni- 
versums in  Anspruch  nehmen,  ist  nun  mit  jeder  Wandlung  und  selbst 
mit  dem  Eintreten  eines  Intervalls  der  annähernden  Beharrung  oder 
der  vollständigen  Sichselbstgleichheit,  aber  nicht  mit  dem  Aufhören 
alles  Wandels  verträglich.  Wer  die  Vorstellung  von  einem  Sein 
cultiviren  möchte,  welches  dem  Ursprungszustande  entspricht,  sei 
daran  erinnert,  dass  die  zeitliche  Entwicklung  nur  eine  einzige  reale 
Richtung  hat,  und  dass  die  Causalität  ebenfalls  dieser  Richtung  ge- 
mäss ist.  Es  ist  leichter,  die  Unterschiede  zu  verwischen,  als  sie 
festzuhalten,  und  es  kostet  daher  wenig  Mühe,  mit  Hinwegsetzung 
über  die  Kluft  das  Ende  nach  Analogie  des  Anfangs  zu  imaginiren. 
Hüten  wir  uns  jedoch  vor  solchen  oberflächlichen  Voreiligkeiten; 
denn  die  einmal  gegebene  Existenz  des  Universums  ist  keine  gleich- 
gültige Episode  zwischen  zwei  Zuständen  der  Nacht,  sondern  der 
einzige  feste  und  lichte  Grund,  von  dem  aus  wir  unsere  Rückschlüsse 
und  Vorwegnahmen  bewerkstelligen. 

4.  Ein  universeller  Zerstreuungszustand  der  Materie,  der  sich 
mit  demjenigen  der  Gase  vergleichen  lässt,  ist  das  Bild,  zu  dem 
eigentlich  schon  die  Ionischen  Naturdenker  für  die  von  ihnen  ge- 
suchte Urbeschaffenheit  des  Weltalls  gelangt  sind.  Wenden  wir  uns 
aber  von  Anaximenes  über  mehr  als  zwei  Jahrtausende  hinweg  zu 
den  neusten  Vorstellungen,  so  hat  besonders  seit  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  die  Annahme  eines  Umebels  eine  neue  Rolle  ge- 
spielt, indem  die  Gravitationsidee  und  daneben  auch  die  Wärme- 
ausstrahlung den  Leitfaden  bildeten,  um  aus  der  ursprünglich  gas- 
förmigen Masse  die  festen  Gebilde  entstehen  zu  lassen.  Die  zweite 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  ist  aber  in  dieser  Richtung  mit  einem 
neuen  Hülfsmittel  ausgestattet,  indem  die  Erkenn tniss  der  Wärme 
als  einer  molecularen  Form  der  mechanischen  Kraft  und  überhaupt 
die  Einsicht  in  die  Unveränderlichkeit  des  mechanischen  Kraftvor- 
raths  gestattet,  die  Rückschlüsse  auf  die  früheren  Zustände  des  Uni- 
versums weit  bestimmter  zu  gestalten.  Die  Brücke,  welche  man 
zwischen  Gravitation  und  Wärme  geschlagen  hat,  und  die  Aussicht, 
in  der  exactesten  Weise   alle  Formen  der  Naturkräfte  auf  ihre  me- 


-     86     - 

chanische  Grundform  zurückzufuhren,  zeigt  uns  das  Universum  als 
ein  mechanisches  System,  in  dessen  Greschichte  im  letzten  Funda- 
ment nur  die  verschiedenen  mechanischen  Zustände  der  Materie  in 
Frage  kommen. 

Um  hier  die  blos  historischen  oder  kritischen  Weitläufigkeiten 
zu  vermeiden,  verweise  ich  bezüglich  der  Ionischen  Naturdenker  auf 
meine  Geschichte  der  Philosophie  und  ausserdem  rücksichtlich  der 
unbefriedigenden  und  unexacten  Form  der  Kantischen  Nebeldeduc- 
tionen  sowie  der  Enge  des  Laplaceschen  Schema  über  die  Consoli- 
dation  des  Sonnensystems  auf  meine  Geschichte  der  Principien  der 
Mechanik.  Hier  sei  nur  hervorgehoben,  dass  auch  heute  noch,  troi 
der  Vorstellung  von  der  mechanischen  Kraftidentität  aller  Natur- 
processe,  der  gasformige  Zerstreuungszustand  nur  dann  ein  Ausgangs- 
punkt für  ernsthafte  Ableitungen  sein  kann,  wenn  man  das  in  ihm 
gegebene  mechanische  System  zuvor  bestimmter  zu  kennzeichnen 
vermag.  Andernfalls  bleibt  nicht  nur  die  Idee  in  der  That  äusserst 
nebelhaft,  sondern  der  ursprüngliche  Nebel  wird  auch  wirklich  im 
Fortschritt  der  Ableitungen  immer  dichter  und  undurchdringlicher. 
In  der  Anordnung  eines  mechanischen  Systems  müssen  alle  Ver- 
änderungen angelegt  sein.  Als  strenger  Gleichgewichtszustand  im 
Sinne  der  völligen  Ruhe  und  mithin  der  gegenseitigen  Aufhebung 
aller  Bewegungskräfte  lässt  sich  jene  universelle  Diffusion  der  Ma- 
terie und  der  mechanischen  Kraft  nicht  denken;  denn  ein  rein  sta- 
tisches System  kann  aus  sich  selbst  keinen  Antrieb  zur  Bewegung 
haben  und  müsste  daher  in  alle  Ewigkeit  in  dem  einmal  gegebenen 
Zustande  verharren.  Hiezu  kommt  aber  noch,  dass  an  sich  selbst 
die  gasförmige  Zerstreuung  allen  Versuchen  widerstrebt,  sie  anders 
als  in  einem  dynamischen  Process  begriffen  vorzustellen.  Man  würde 
diso  irgend  ein  dynamisches  Stadium  des  Zerstreuungszustandes  fixi- 
ren  und  von  bestimmten  Voraussetzungen  der  Entfernung  der  selb- 
ständigen Thcilchen,  der  räumlichen  Anordnung  und  mathematischen 
Gonfiguration  des  Ganzen  und  der  Theile,  sowie  von  bestimmten 
Kräfteverhältnissen  und  überhaupt  in  jeder  Beziehung  von  absoluten 
Grössen  auszugehen  haben.  Die  bestimmten  Formen  und  Verhält- 
nisse, die  man  hiebei  anzunehmen  hätte,  müssteu  aber  solange  reine 
Willkürlichkeiten  bleiben,  als  man  zu  ihnen  nicht  durch  strenge 
Rückschlüsse  vom  gegenwärtigen  Zustande  des  Universums  in  der 
zwingendsten  Weise  geführt  wäre.  Nun  verbleibt  aber  vorläufig 
noch  Alles  im  Vagen  und  Formlosen  einer  nicht  naher  bestimm- 


—     87    — 

baren  Diffusiousidee.  Die  Spuren  der  gegenwärtig  gegebenen  Bil- 
dungen nöthigen  allerdings  zu  der  Annahme  eines  früheren  flüssigen 
und  noch  früheren  gasförmigen  Zustande»  des  Universums.  Um  alle 
vorhandenen  Gebilde,  wie  die  Abplattung  der  Weltkörper,  die  Exi- 
stenz ihrer  Gasumhüllungen  und  überhaupt  die  Schichtung  der  ver- 
schiedenen Dichtigkeitszustände  vom  Lichtäther  bis  zu  den  Massen-' 
ballungen  hin  zu  begreifen,  müssen  wir  annehmen,  dass  die  Geschichte 
der  Materie  auf  dem  Durchlaufen  einer  Reihe  von  Zuständen  und 
Epochen  verschiedener  Aggregation  beruhe,  und  dass  man  ein  Stück 
dieser  Geschichte  vor  sich  habe,  wenn  man  die  Zwischenvorgänge 
ins  Auge  fasst,  deren  Endpunkt  die  gegenwärtige  Gliederung  und 
deren  Ausgangspunkt  das  Universum  der  Gase  gewesen  ist. 

Mit  diesem  Gasuniversum  haben  wir  aber  nur  eine  höchst  luftige 
Conception,  die  weit  davon  entfernt  ist,  sich  mit  einem  völlig  iden- 
tischen Zustande  des  Weltmediums  oder,  anders  ausgedrückt,  mit 
dem  sich  selbst  gleichen  Zustande  der  Materie  zu  decken.  Erstens 
ist  es  wenigstens  denkbar,  weim  auch  real  nicht  anzunehmen,  dass 
der  Zerstreuungszustand  erst  durch  diffundirende  Vorgänge  aus  einer 
andern  Anordnung  hervorgegangen  sei.  Von  unmittelbaren  Rück- 
schlüssen ist  hier  freilich  keine  Rede,  und  ausserdem  würde  jede  vor- 
gängige festere  Gestaltung  schon  ihrem  Begriff  nach  auf  eine  noch 
entferntere  Zerstreuungsform  zurückdeuten;  aber  jene  Idee  ist  inso- 
fern nicht  ganz  müssig,  als  sie  uns  bei  der  Annahme  eines  Wechsels 
von  Diffusion  und  Contraction  zeigt,  wie  wir  von  dem  Standpunkt 
der  gegenwärtigen  Weltform  doch  immer  auf  irgend  einen  Zer- 
streuungszustand der  Materie  als  den  mechanisch  entlegensten  zurück- 
gewiesen werden.  Zweitens  sind  die  Eigenschaften  des  Zerstreuungs- 
zustandes mechanisch  so  geartet,  dass  sie  nur  für  einen  bestimmten 
ausdehnungslosen  Augenbück  ein  veränderungsloses  System  bezeich- 
nen, übrigens  aber  auch  in  den  kleinsten  Zeitth eilchen  bereits  eine 
Wandlung  einschliessen.  Der  allgemeinen  Gattung  nach  unterscheidet 
sich  also  das  Diffasionsstadium  nicht  von  dem  mechanischen  Ver- 
änderungsspiel der  gegenwärtigen  Weltform.  Es  repräsentirt  selbst 
eine  Welt  voller  Veränderungen  und  erfordert  daher  eine  rückwärts 
hegende  Begrenzung.  Es  muss  aus  einem  Zustande  des  Weltmediums 
entsprungen  sein,  der  sich  weder  als  rein  statisch  im  heutigen  Sinne 
dieser  Vorstellung,  noch  als  dynamisch  begreifen  lässt.  Die  Einheit 
von  Materie  und  mechanischer  Kraft,  die  wir  als  Weltmedium  be- 
zeichnen,  ist  eine  so   zu   sagen   logisch   reale  Formel,   um  den  sich 


—     88     - 

selbst  gleichen  Zustand  der  Materie  als  die  ürvoranssetzung  aller 
zählbaren  Entwicklungsstadien  anzuzeigen.  Es  ist  aber  von  grosser 
Wichtigkeit,  die  Nothwendigkeit  dieser  ürsprungsidee,  mit  welcher 
nicht  die  Zeit  überhaupt,  aber  wohl  das  zeitliche  Wechselspiel  von 
Veränderungen  eingeleitet  wird,  nicht  mit  der  physikalischen  Nebel- 
vorstellung zu  verwechseln.  Allerdings  haben  wir  in  dem  Gasuni- 
versum insofern  eine  Annäherung  an  den  zeitlich  unentwickelten 
Zustand,  als  die  Mannichfaltigkeit  der  Formen  in  ihm  noch  nicht 
sonderlich  weit  ausgeprägt  und  hervorgetreten  ist;  aber  diese  appro- 
ximative Vereinfachung  bleibt  eben  nur  ein  Bild,  welches  unsem 
entlegeneren  Conceptionen  die  Richtung  anweist. 

5.  Wäre  das,  was  man  bereits  mit  dem  stolzen  Namen  einer 
Mechanik  der  Wärme  bezeichnet,  mehr  als  ein  epochemachender  An- 
fang zu  einer  solchen  Wissenschaft,  so  könnte  die  kosmische  Physik 
etwas  tiefer  in  die  Geschichte  der  Materie  und  namentlich  in  die 
ürsprungszustände  der  Gebilde  eindringen.  Die  Entdeckung  Robert 
Mayers  ist  aber  innerhalb  des  Menschenalters  seit  ihrer  ersten  un- 
beachteten Veröffentlichung  in  keiner  Richtung  sonderlich  weiter 
gefördert  worden,  als  er  sie  nach  und  nach  selbst  gebracht  hat. 
Grade  die  wichtigsten  kosmischen  Anwendungen  sind  sein  Werk,  und 
vorzüglich  ist  es  seine  Mefceortheorie  der  Sonnenwärme,  die  auch 
überhaupt  für  das  Universum  und  für  die  Urgeschichte  der  Materie 
einige  Anknüpfungspunkte  darbietet.  Wer  sich  davon  überzeugen 
will,  wie  illusorisch  das  ist,  was  ausser  den  Mayerschen  Fundamenten 
in  der  mechanischen  Wärmefcheorie  und  deren  Anwendungen  in  neuen 
Richtungen  prätendirt  worden  ist,  achte  in  dem  betreffenden  Ab- 
schnitt meiner  Geschichte  der  mechanischen  Principien  nicht  blos 
auf  das,  was  ausdrücklich  gesagt  und  positiv  angedeutet,  sondern 
auch  auf  das,  was  mit  einer  für  den  literarisch  Orientirten  leicht 
bemerkbaren  Absichtlichkeit  weggelassen  wurde.  In  diesem  Gebiet 
hat  grade  die  Verworrenheit  und  Ohnmacht,  die  keines  einzigen 
eignen  Gedankens  fähig  war,  ihre  Blosse  hinter  dem  modernen 
Gegenstück  der  mittelalterlichen  Scholastik,  nämlich  hinter  einem 
kindisch  eitlen  und  dabei  noch  an  sich  geschmacklosen  Aufputz  von 
analytischen  Formeln  zu  verstecken  gesucht  und  das  Publicum  zu 
einem  grossen  Theil  auch  wirklich  mystificirt.  Ueberdies  ist  durch 
die  neue  Entdeckung  auch  in  den  Reihen  der  Physiker  mancher 
wirre  Kopf  zu  einer  neuen  Art  von  Phantastik  aufgeschüttelt  und 
hiedurch  unter  den  Fachleuten  oft  mehr  Thorheit  producirt  worden. 


—    89     — 

als  bei  den  sogenannten  Naturphilosoplien  des  halbpoetischen  Schlages 
heimisch  zu  sein  pflegt. 

Bis  jetzt  ist  die  mechanische  Wärmetheorie  in  ihrer  unmittel- 
baren Gestalt  und  in  ihrem  eigensten  Gebiet  auf  die  Mayersche 
Aequivalentzahl ,  also  auf  die  Gleichung  zwischen  Calorie  und  me- 
chanischer Arbeit  beschränkt,  d.  h.  eine  gewisse  thermometrische 
Erhöhung  des  Wärmezustandes  einer  Masse  ist  einer  gewissen  Er- 
hebung desselben  Gewichts  Wasser  gegen  die  Schwere  gleichzusetzen. 
In  der  immer  genaueren  Bestimmung  der  Anzahl  von  Kilogram- 
metem,  die  der  Erwärmung  eints  Kilogramms  Wasser  um  einen  Grad 
entsprechen,  fasst  sich  so  ziemlich  Alles  zusammen,  was  durch  die 
der  Entdeckung  nachfolgende  Experimentirkunst  gewonnen  wurde. 
Nun  ist  der  Mayersche  Aequivalentsatz  eine  äussere  Erfahrung,  der 
eine  innere  Theorie  zu  Grunde  lag.  Sobald  man  diese  innere  Theorie, 
d.  h.  die  Yorstellungen  von  den  Causalitäts-  und  Identitätsverhält- 
nissen untersucht,  die  zwischen  Wärmeveränderung  und  mechanischer 
Arbeit  in  Frage  kommen,  so  hört  die  Einigkeit  in  der  Auslegung 
der  Thatsache  sofort  auf.  Die  Thatsache  selbst  besteht  in  einer 
quantitativen  Zusammengehörigkeit.  Man  kann  einen  Wärmezustand 
von  bestimmter  Grösse  zur  Erzeugung  einer  bestimmten  Menge  me- 
chanischer Arbeit,  also  der  Fortschaffung  einer  Masse  gegen  eine 
widerstehende  Kraft,  verwenden,  und  man  kann  ebenso  die  umge- 
kehrte Verwandlung  vornehmen.  Dies  wäre  also  zunächst  ein  dop- 
peltes Causalverhältniss ,  und  eine  solche  Doppelheit  sowie  die  ein- 
heithche  Messbarkeit  kann  nur  gedacht  werden,  wenn  man  in  den 
beiderlei  Wirkungen  etwas  streng  Identisches  voraussetzt.  Was  ist 
nun  dies  Sichselbstgleiche,  was  zwar  in  der  Zusammensetzung  seiner 
Elemente  die  Form  erheblich  ändern,  aber  in  seinem  Bestände  nicht 
vermehrt  und  vermindert  werden  kann?  Es  ist  offenbar  die  mecha- 
nische Kraft;  aber  trotz  dieser  übereinstimmenden  Antwort  bleibt 
noch  die  bestimmtere  Frage  übrig,  ob  es  nothweudig  ein  räumlicher 
Bewegungszustand  sei,  den  wir  als  das  Gemeinsame  der  verschiedenen 
Kraftformen  anzusehen  haben.  Die  Art  des  Maasses,  mit  welchem 
wir  messen,  giebt  unserer  Ansicht  nach  auch  hier  die  unausweich- 
liche Antwort.  Soweit  die  Naturprocesse  mit  einer  Arbeitseinheit 
gemessen  werden  können,  müssen  sie  auch  selbst  sämmtlich  mecha- 
nische Arbeit,  wenn  auch  nur  in  der  molecularen  Form  sein.  Der 
Entdecker  selbst  nahm  dies  nicht  an,  sondern  meinte,  dass  räum- 
liche Bewegung  als   solche  verschwinden  müsse,   damit  eine  andere 


—     90     — 

Kraftform,  wie  die  nicht  strahlende  Wärme  sei,  auftreten  könne. 
Hiemit  ist  nun  freilich  nur  ein  Räthsel  aufgegeben,  aber  keines  ge- 
löst. Dennoch  müssen  wir  uns  neben  der  gegen theiligen  und  vor- 
herrschenden Annahme  der  Auflösbarkeit  aller  Naturprocesse  in 
eigentUche  Bewegungen  immer  wieder  erinnern,  dass  mit  den  Be- 
wegungszuständeu  der  Materie  auch  statische  Verhältnisse  gegeben 
sind,  und  dass  diese  letzteren  an  der  mechanischen  Arbeit  kein  Maass 
haben.  Indirect  sind  sie  vielmehr  selbst  solche  Elemente,  die  sur 
Messbarkeit  der  mechanischen  Arbeit  nicht  entbehrt  werden  können. 
Wenn  wir  früher  die  Natur  als  eine  grosse  Arbeiterin  bezeichnet 
haben  und  diesen  Ausdruck  jetzt  streng  nehmen,  so  müssen  wir  noch 
hinzufügen,  dass  die  sich  selbst  gleichen  Zustände  und  ruhenden 
Verhältnisse  keine  mechanische  Arbeit  repräsentiren.  Wir  vermissen 
also  wiederum  die  Brücke  vom  Statischen  zum  Dynamischen,  und 
wenn  die  sogenannte  latente  Wärme  big  jetzt  für  die  mechanische 
Theorie  ein  Anstoss  geblieben  ist,  so  müssen  wir  auch  hierin  einen 
Mangel  anerkennen,  der  sich  am  wenigsten  in  den  kosmischen  An- 
wendungen verleugnen  dürfte. 

Anstatt  also  mit  herkömmlicher  Naivetät  die  allerjüngsten  und 
unreifsten  Vorstellungen  über  die  Wärmeerzeugung  aus  den  Balluugs- 
oder  Consolidationsprocessen  der  ursprünglich  zerstreuten  Materie  des 
Universums  als  etwas  Selbstverständliches  zu  wiederholen,  machen 
wir  vielmehr  auf  das  Bedenkliche  aufmerksam,  was  in  der  kosmo- 
gonischen  Anwendung  einer  in  einem  Hauptpunkt  der  gemeinen 
Physik  noch  unzulänglich  gebliebenen  Theorie  liegt.  Die  quantita- 
tiven Gesetze  der  statischen  Gebundenheit  oder  therm ometrischen 
Indifferenz  sowie  des  entsprechenden  Freiwerdens  der  Wärme  sind 
für  die  kosmogonische  Mechanik  sicherlich  nicht  gleichgültig,  und 
Robert  Mayer  hat  einen  guten  Tact  für  die  Bemessung  der  bis  jetzt 
möglichen  Tragweite  der  Speculationen  bekundet,  indem  er  bei  seiner 
Meteortheorie  über  die  Unterhaltung  der  Sonnenwärme  stehen  blieb 
und  keine  moleculare  Verallgemeinerung  derselben  vornahm. 

Die  Mayersche  Annahme  über  den  fortwährenden  Ersatz  der 
ausgestrahlten  Sonnenwärme  beruht  darauf,  dass  der  mechanische 
Stoss  bei  gehöriger  Geschwindigkeit  den  Körper  so  entschieden  auf- 
löst und  eine  solche  Wärmemenge  erzeugt,  wie  es  kein  Verbrennungs- 
process  bei  einem  gleichen  Quantum  Kohle  und  überhaupt  keine 
chemische  Entwicklung  vermag.  Wenn  nun  die  im  planetarischen 
Raum  oder  darüber  hinaus  zerstreuten  kleineren  kosmischen  Körper 


I 


—    91     — 

sich  in  immer  rascheren  Umläufen  der  Sonne  nähern  und  fortwäh- 
rend ein  Theil  davon  auf  dieselbe  niederfällt,  so  wird  die  Verwand- 
lung der  durch  die  grosse  Geschwindigkeit  dieser  kleinen  Massen 
repräsentirten  mechanischen  Kraft  in  die  Form  der  Wärme  so  zu 
sagen  eine  andauernde  Nachheizung  der  Sonne  vorstellen.  Mayer, 
der  überhaupt  von  den  kosmischen  Schlüssen  auf  einen  Untergang 
der  Hauptbestandtheile  des  Sonnensystems  nichts  wissen  will,  hul- 
digt mit  der  fraglichen  Theorie  des  Ersatzes  der  verlornen  Sonnen- 
wärme einer  Anschauungsart,  nach  welcher  sich  alle  Vorgänge  von 
bedenklicher  Einseitigkeit  durch  Hergänge  in  entgegengesetzter 
Richtung  ausgleichen.  Obwohl  nun  dieses  Princip,  wenn  man  es 
nur  hinreichend  im  Grossen  anwendet,  alle  Analogien  der  Erfahrung 
für  sich  hat,  so  kann  es  doch  in  jenem  besondern  Fall  nichts  helfen. 
Die  auf  die  Sonne  fallenden  Meteore  des  Weltraums  oder  vielmehr 
des  ausschliesslich  der  Sonnenanziehung  anheimfallenden  und  nicht 
von  der  Anziehung  anderer  Körper  beherrschten  Raumgebiets  müssen 
sich  erschöpfen,  falls  sie  nicht  immer  neu  gebildet  werden.  Eme 
Neubildung  aus  bereits  zerstreuter  Materie  könnte  aber  auch  nichts 
helfen;  denn  diese  zerstreute  Materie  hat  um  nichts  weniger  ihre 
Grenzen  und  ihr  Maass.  Wenn  daher  nicht  von  der  Sonne  selbst 
eine  neue  Expansion  ausgeht,  so  kann  der  Bestand  der  Wärme- 
strahlung nicht  länger  als  jener  Contractionsprocess  der  dem  Sonnen- 
gebiet angehörigen  Meteore  und  zerstreuten  materiellen  Theile  ge- 
sichert erscheinen.  Nun  sind  wir  weit  entfernt,  diese  rein  hypothe- 
tische Consequenz  als  genügend  anzusehen,  um  über  das  Schicksal 
des  Sonnensystems  endgültig  zu  urtheilen.  Nur  soviel  ist  klar,  dass 
die  fragliche  Mayersche  Vorstellung,  die,  in  Ermangelung  einer  Er- 
fahrung über  den  vorausgesetzten  Meteorfall  auf  die  Sonne,  nur  eine 
vorläufige  Hypothese  bleibt,  auch  dann,  wenn  sie  volle  Gewissheit 
für  sich  hätte,  die  Wärmeökonomie  des  Sonnensystems  als  keine 
unbeschränkte  Dauer  gleicher  Ausgabe  und  Einnahme  zu  kennzeich- 
nen vermöchte. 

6.  Bei  dem  mechanischen  Stoss  von  Massen  kann  die  Frage 
der  statisch  zu  bindenden  Wärme  solange  in  den  Hintergrund  treten, 
als  man  sich  nicht  mit  Schmelzungs-  oder  Verflüchtigungsvorgängen 
beschäftigt.  Im  letzteren  Fall  und  ausserdem  für  die  umgekehrten 
Hergänge  in  der  Richtung  auf  Verdichtmig  der  ursprünglich  mole- 
cular  zerstreuten  Materie  wird  aber  die  Lücke  in  der  mechanischen 
Wärmetheorie  sehr  erheblich.     Noch   weit  allgemeiner  können  wir 


—    92     — 

aber  den  Punkt  bezeichnen,  bei  welchem  die  grösste  Vorsicht  nöthig 
ist,  indem  wir  bemerken,  dass  die  Annäherung  der  Atome  doch  nicht 
ohne  Weiteres  nach  den  Gesetzen  des  Stosses  behandelt  werden  darf. 
Die  Rolle  der  Wärme  bei  den  Verdichtungen  der  ursprünglich  dif- 
fimdirten  Gesammtmaterie  des  Universums  ist  keineswegs  so  leicht 
zu  schematisiren,  als  man  dies  bisher  zu  bewerkstelHgen  geglaubt  hat. 

Da  nun  aber  andererseits  feststeht,  dass  die  Wärme  in  den  kos- 
mischen Bildungen  mindestens  ebensosehr  betheiligt  ist  als  die  Gra- 
vitation, so  werden  alle  eigentlichen  Entwicklungsgesetze  des  Uni- 
versums vorläufig  nur  äusserst  unvollkommen  zu  erkennen  sein.  Die 
Bildung  der  Planeten  und  hiemit  der  gegliederten  Verfassung  des 
Sonnensystems  wird  uns  allerdings  einigermaassen  verständlich,  wenn 
wir  uns  eine  glühende  Gasmasse  mit  einem  Kerne  und  concentrisch 
verdichteten  Schichten  in  Rotation  und  in  der  Abkühlung  begriffen 
denken.  Die  vollständige  Ablösung  von  Ringen  mag  dann  am  ent- 
legensten Ende  beginnen  und  aus  den  verschiedenen  Ringen  ein 
Planet  nach  dem  andern  derartig  entstehen,  dass  die  dem  Sonnen- 
kem  näheren  die  geschichtlich  späteren  sind.  Allein  in  diesem  ganzen 
Hergang  haben  wir  nur  das  Beispiel  eines  secundären  Stadiums  kos- 
mischer Geschichte  vor  uns.  Die  universelle  Molecularzerstreuung 
der  Materie  enthält  weder  den  Kern  noch  dieselbe  Wärmevertheilung 
und  kann  noch  nicht  ohne  weitere  Nachweisung  als  etwa  in  einer 
einzigen  Rotation  begriffen  gedacht  werden.  Wir  finden  hier,  dass 
unsere  Ableitungen  und  Entwicklungsvorstellungen  von  der  Tragweite 
derjenigen  Rückschlüsse  abhängig  sind,  die  wir  auf  die  Beobachtung 
des  gegenwärtigen  Zustandes  zu  gründen  vermögen.  Die  Kenntniss 
einer  Entwicklungsform  ist  mithin  von  irgend  einer  thatsächlichen 
Beobachtung  abhängig,  die  in  irgend  eine  Gegenwart,  also  in  das 
frühere  oder  spätere  Wahmehmungsbereich  denkender  Wesen  ge- 
fallen ist.  Die  physikalische  Phantasie  kann  nichts  weiter  thun,  als 
das,  was  sie  im  Kleinen  beobachtet,  in  grösseren  Dimensionen  be- 
thätigen,  und  so  ergiebt  sich,  dass  die  entwickelnden  Mächte,  welche 
uns  die  heutige  Naturgestalt  vor  Augen  legt,  auch  die  Grundsätze 
für  die  Vorstellung  alles  Früheren  und  Späteren  liefern  müssen. 

Aus  letzterem  Umstände  können  wir  eine  Wahrheit  gewinnen, 
die  uns  für  die  Mängel  der  bestimmteren  Entwicklungsgesetze  we- 
nigstens mit  der  Erkenntniss  einer  Haupteigenschaft  des  allgemeinen 
Schematismus  entschädigt.  Wenn  die  Gegenwart  das  Maass  für  die 
Vergangenheit  und  für  die  Zukunft  wird,  imd  wenn  die  thatsächhche 


—     93     — 

Wirkimgsaxt  der  Kräfte  im  natürlichen  Zustande  das  einzige  mög- 
liche Musterbild  für  alle  Operationen  liefert,  so  giebt  es  keine  eigent- 
lichen Weltkatastrophen.  In  jedem  physikalischen  Naturprocess  wird 
die  Wendung  oder,  wenn  man  es  so  nennen  will,  die  Epoche,  mit 
welcher  ein  Wechsel  der  Eigenschaften  eintritt,  durch  quantitative 
Uebergänge  langsam  und  in  allmäliger  Steigerung  vorbereitet.  Die 
sich  verhältnissmässig  rasch  vollziehenden  x4.ctionen,  die  wir,  wie  die 
elektrischen  Entladungen,  allenfalls  als  Musterbild  jäher  Katastrophen 
gebrauchen  könnten,  sind  im  ungestörten  Gange  der  Natur  und  in 
Yergleichung  mit  dem  umfassenden  Gebiet  des  ruhigen  Waltens  der 
Kräfte  nur  von  untergeordneter  Bedeutung.  Sie  haben  nicht  jene 
Ungeheuerlichkeit  an  sich,  mit  welcher  eine  leichtsinnige  Imagina- 
tion für  den  gesammten  Weltprocess  so  freigebig  zu  sein  pflegt. 

In  einem  engern,  nicht  eigentlich  kosmischen  Bereich,  nämlich 
in  der  Geologie  sowie  in  den  organischen  und  vitalen  Bildungen 
hat  man  die  Annahme  von  Katastrophen,  in  denen  ein  früherer  Zu- 
stand plötzlich  untergegangen  und  mit  einer  neuen  Schöpfung  ver- 
tauscht worden  wäre,  jetzt  glücklich  beseitigt.  Aber  mit  den  Schick- 
salen des  Universums  oder  auch  nur  unseres  Sonnensystems  spielt 
man  noch  so  gemüthlich  katastrophenhaft  und  sucht  grade  die  Zu- 
kunft mit  so  abenteuerlichen  Ideen  heim,  dass  hier  die  Kritik  und 
die  tiefere  Anschauung  von  der  stetigen  Gesetzmässigkeit  aller  Vor- 
gänge noch  viel  zu  berichtigen  haben.  Unablässige  Veränderung  ist 
allerdings  auch  in  diesen  Universaldimensionen  das  Grundgesetz. 
Keine  besondere  Gestalt  der  Natur  darf  als  absolut  beständig  an- 
gesehen werden,  und  in  der  Gegenwart  arbeiten  bereits  alle  Kräfte 
an  der  Gestaltung  der  Zukunft  des  Universums.  Allein  die  in  klei- 
neren Zeiträumen  nicht  einmal  merkliche  Art  der  Umwandlung  ist 
auch  diejenige  Form,  die  man  für  die  universelle  Reihe  der  Ver- 
änderungen als  maassgebeud  voraussetzen  muss.  Sollten  also  z.  B. 
wirklich  die  Planeten  jemals  bis  zur  Sonne  gelangen,  so  würden  sie 
äussei*st  allmälig  die  Durchmesser  ihrer  Bahnen  ändern,  und  es  bHebe 
sogar  eine  stetige  Anpassung  ihrer  organischen  und  vitalen  Ausstat- 
tung an  die  neuen  Verhältnisse  denkbar.  Ja  es  könnte  in  einem 
solchen  Vorgang  zum  Theil  auch  eine  Ausgleichung  liegen;  denn 
wenn  die  Wärmeleistungen  der  Sonne  geringer  würden,  so  müsste 
doch  der  nähergekommene  Planet  noch  ebensoviel  oder  mehr  Wärme 
erhalten  können,  als  in  einer  seiner  früheren  Entfernungen.  Sehen 
wir  aber  selbst  von  dieser  Compensation  ab,  so  ist  schon  die  blosse 


—     94    — 

Stetigkeit  ein  hinreichender  Grund,  um  die  voreiligen  Yemichtungs- 
ideen  abzuweisen.  Wenn  das  Menschengeschlecht  oder  die  Gattungen 
auf  andern  Weltkörpem  neuen  Bildungen  weichen,  so  wird  dies 
durch  allmälige  Metamorphose  und  Aussterben,  aber  nicht  durch 
einen  plötzlichen  Zerstörungs-  und  Schöpfungsact  geschehen  müssen; 
denn  alle  Analogien  der  Erfahrung  weisen  auf  eine  solche  stille  Ar- 
beit der  Natur  hin,  und  Nichts  unterstützt  den  monströsen  Gedanken, 
dass  die  Triebkräfte  der  Natur  auf  eine  plötzliche  Abreissung  des 
einmal  gesponnenen  Fadens  irgendwo  angelegt  wären.  Wollte  nun 
aber  Jemand  die  hypothetische  Consequenz,  die  sich  an  die  Vorstel- 
lung eines  widerstehenden  Weltraummediums  und  an  die  in  dieser 
Beziehung  keineswegs  unstreitigen  mechanischen  Wirkungen  allen- 
falls knüpfen  lässt,  als  thatsächliche  Nothwendigkeit  geltend  machen 
und  z.  B.  auf  der  schliesslichen  Vereinigung  der  Planeten  mit  der 
Sonne  bestehen,  so  würde  allerdings  der  Stoss  genau  so  eine  Unter- 
brechung der  Stetigkeit  sein,  wie  er  es  in  unsem  gewöhnlichen  phy- 
sikalischen Vorgängen  ist.  Ein  schnelleres  Tempo  der  Entwicklung 
würde  eintreten;  der  Eigenschaftswechsel  der  Zustände  würde  sich 
in  eine  verhältnissmässig  geringe  Zeitausdehnung  zusammendrängen 
und  mithin  eine  eigenthche  Wendung  eintreten,  wie  wir  sie  z.  B.  bei 
plötzlichen  Aenderungen  der  Aggregatzustände  beobachten.  Diese 
Wendung  wäre  aber  noch  lange  nicht  von  der  Art  jener  monströsen 
Katastrophen,  die  völlig  unmotivirt  und  unvorbereitet  eintreten.  Die 
Naturstetigkeit  verleugnet  sich  nirgend,  indem  sie  auch  dem  rascheren 
Wechsel  eine  allmälig  gesteigerte  Reihe  gehäufter  Veränderungen 
vorangehen  lässt.  Wäre  also  ein  solches  Schicksal  des  Sonnensystems 
nothwendig,  so  würde  doch  zuvor  die  in  Frage  kommende  vitale 
Welt  allmälig  abgespielt  haben  und  einem  natürlichen,  aber  keinem 
gewaltsamen  Tode  anheimgefallen  sein.  Hinterher  würde  mau  nach 
derselben  hypothetischen  Consequenz  für  das  Sonnensystem  eine  neue 
Verflüchtigung  der  vereinigten  Materie  anzunehmen  haben;  denn 
stellt  man  einmal  solche  planetarischen  Stösse  vor,  so  müssen  sie 
auch  hinreichen,  die  planetarische  Materie  vermöge  der  Erhitzung 
wieder  ru  zerstreuen  und  eine  neue  weit  ausgreifende  Umhüllung 
des  Sonnenkernes  zu  liefern,  so  dass  die  Ring-  und  Planetenbildung, 
wenn  auch  vielleicht  in  kleinerem  Maassstabe,  wieder  offenstände. 
Unsere  Bemerkung  über  den  kleineren  Maassstab  ist  nicht  über- 
flüssig; denn  nach  den  fraglichen  Annahmen  würde  das  Sonnen- 
system als  Ganzes  einen  Theil  seiner  Wärme  und  mithin  seiner  ver- 


—     95     — 

fiigbaren  mechanischen  Expansionskraft  in  den  universellen  Welt- 
raum difiFundirt  oder,  mifc  andern  Worten,  auf  die  feinste  Materie 
des  Universums  übertragen  haben. 

Da  der  leere  Raum  als  solcher  kein  Träger  von  Kräftewirkun- 
gen ist,  sondern  mit  dem  Leitfaden  der  Materialität  auch  die  Kraft- 
bethätigung  ihre  Auswege  und  ihren  Gegenstand  verliert,  so  müsste, 
um  in  der  Entwicklung  der  fraglichen  Consequenzen  für  das  Uni- 
versum fortzufahren,  der  Aether  oder,  wie  man  sonst  jene  feinste, 
den  kosmischen  Raum  erfüllende  Materie  nennen  mag,  schliesslich 
der  Empfänger  und  Depositar  aller  lebendigen  mechanischen  Kraft 
werden,  die  der  Gesammtheit  aller  Sonnensysteme  durch  Abkühlung 
entströmt.  Hiemit  sind  wir  denn  aber  bei  einem  Punkte  angelangt, 
wo  sich  das  Wagniss  der  Physik  offenbart.  Die  letztere  weiss  näm- 
lich bis  jetzt  nicht  im  Mindesten  von  den  Zuständen  oder  gar  Zu- 
standsänderungen  des  Aethers  Rechenschaft  zu  geben,  und  der  Ge- 
danke einer  Rückwirkung  des  Aethers  auf  die  geballten  Massen  ist 
zugleich  zu  unausw^ eichlich,  als  dass  man  von  einer  so  dunklen 
Kenntniss  des  Weltenschicksals,  bei  welcher  die  kosmische  Wärme- 
stjrahlung  noch  fast  so  wie  ein  Verlust  in  das  Nichts  behandelt  wird, 
sonderlich  befriedigt  sein  könnte.  Nimmt  man  noch  hinzu,  dass  der 
kosmische  Antagonismus  der  zwei  Formen  der  mechanischen  Kraft, 
die  wir  als  Wärme  und  als  Gravitation  erkennen,  ein  noch  sehr 
dunkles  Gebiet  bildet,  so  muss  die  Zuversicht  der  obigen,  aus  einem 
einseitigen  Schema  gezogenen  Folgerungen  gewaltig  erschüttert  wer- 
den. Es  bleibt  mithin  denkbar,  dass  sich  das  Spiel  der  Verände- 
rungen auch  auf  einem  andern  Wege  in  das  Unbeschränkte  fortsetze 
und  mit  neuen  Gebilden  bereichere.  Wenigstens  lässt  sich  eine 
Wiederauflösung  des  Universums  in  seine  Bestandtheile  noch  nicht 
als  innere  reale  Noth wendigkeit  darthun,  und  wir  können  mithin 
einen  beständigen  Wechsel  der  Naturgestalten  auch  ohne  die  uni- 
verselle Auflösung  concipiren.  üebrigens  käme  aber  auch  auf  eine 
solche  Auflösungsbedingung  nicht  viel  an,  da  ja  unter  allen  Um- 
ständen irgend  eine  Art  von  Stetigkeit  und  in  ihr  die  Beharrung 
der  einfachen  Elemente  mit  demselben  Gesammtbestand  von  Materie 
und  mechanischer  Kraft  gesichert  bleibt.  Durch  diese  Sicherung 
wird  wenigstens  den  wüsten,  ganz  unwissenschaftlichen  und  spki- 
tistischen  Enfanterien  über  ein  einstiges  Verschwinden  der  Materie 
und  so  zu  sagen  über  einen  jüngsten  Tag  aller  Realität  vorge- 
beugt. 


—     96    — 

7.  Seit  das  Spectrum  und  mithin  überhaupt  alles  Licht  ein  Er- 
kennungsmittel der  chemischen  Unterlagen  seiner  Erzeugung  gewor- 
den ist  oder,  mit  andern  Worten,  seit  dem  Aufkommen  der  Spectral- 
analyse  ist  die  chemische  Zusammensetzung  des  Universums  nicht 
mehr  ein  unzugänglicher  Gegenstand.  Das  Licht  der  Sonne  hat  uns 
auf  der  letztem  solche  Grundstoffe  verrathen,  wie  sie  auch  in  der 
Zusammensetzung  der  Erdenkörper  eine  Rolle  spielen.  Auch  das 
Licht  von  sonstigen  Fixsternen  lehrt  nichts  Anderes,  und  so  bleibt 
fiir  den  Denker  nicht  der  geringste  Zweifel,  dass  unsere  wohlbekann- 
ten chemischen  Elemente  überall  im  Universum  vertreten  siud.  Diese 
Einheitlichkeit  der  chemischen  Weltcomposition  ist  eine  neue  Er- 
rungenschaft zur  Aufdeckung  der  allgemeinen  Systematik  der  Natur 
und  erinnert  uns  nebenbei  daran,  auch  in  andern  Richtungen  lieber 
die  allgemeine  Gleichartigkeit,  als  die  leere  Vorstellung  von  etwas 
völlig  Anderm  zuzulassen.  Die  sich  selbst  gleiche  Beharrung  der 
chemischen  Elemente  in  den  Wandlungen  der  Art  ihrer  Zusammen- 
setzung kann  als  ein  drittes  Beharrungsgesetz  zu  jenen  beiden  an- 
gesehen werden,  welche  sich  auf  das  Quantum  der  Materie  und  der 
mechanischen  Kraft  i^^ziehen.  Das  im  Universum  vorhandene  Gold 
muss  jederzeit  diesei^l^i  .Menge  gewesen  sein  und  kann  sich  ebenso- 
wenig wie  die  allgemeine  Materie  vermehrt  oder  vermindert  haben. 
Dasselbe  muss  man  von  dem  Wasserstoff  oder  jedem  andern  wirk- 
lichen Element  sagen.  Gesetzt  auch  die  Chemie  irrte  in  der  Be- 
trachtung einiger  Elemente  als  wirklicher  Grundstoffe,  so  würde  dies 
in  der  Hauptsache  nichts  ändern.  Letzte  einfache  Bestandtheile 
müssen  in  irgend  einer  Anzahl  unter  allen  Umständen  übrig  bleiben  ; 
denn  aus  was  sollte  man  sonst  eine  Zusammensetzung  bewerkstelligt 
denken?  Die  Auflösung  in  ein  einziges  Element  ist  ein  Widersinn. 
Wollte  man  aber  den  Gedanken  der  Zusammensetzung  ganz  aufgeben 
und  die  Qualitäten  unserer  Grundstoffe  als  rein  mechanische  Formen 
einer  sonst  völlig  identischen  Materie  ansehen,  so  wäre  man  freilich 
wieder  bei  dem  Goldmachen,  wenn  auch  nicht  durch  Menschenhaud, 
80  doch  durch  einen  ursprünglichen  Naturprocess  angelangt,  und  es 
meldete  sich  diö-  Frage  nach  dem  Ursprung  der  chemischen  Arten 
in  einer  ähnlichen  Weise  an,  wie  diejenige  nach  dem  Ausgangspunkt 
der  organischen  und  vitalen  Gattungen.  Die  Erzeugung  der  speci- 
fischen  Unterschiede  der  einfachen  Stoffe  würde  aber  alsdann  auf 
eine  Differenzirung  der^  Arten  der  Materie  hinauslaufeo.  Wir  müssten 
abo  erst  aus  der  Gegenwart  einen  Naturprocess  kennen,  der  etwas 


—     97     — 

von  einer  Wandlung  dieser  Arten  an  sich  trüge,  ehe  wir  das  Recht 
hätten,  an  der  absohiten  Urspriinglichkeit  und  ewigen  ünveränder- 
lichkeit  der  qualitativ  verschiedenen  Atome  zu  zweifeln.  Selbstver- 
ständlich würde  nur  allein  die  mechanische  Constitution  innerhalb 
derselben  einheitlichen  Materie  als  letzter  Grund  der  chemischen 
Fundamental  Verschiedenheiten  in  Frage  kommen  können.  Hiemit 
bliebe  auch  die  Welt  der  chemischen  Differenzen  auf  eine  Mannich- 
faltigkeit  in  den  Gestaltungen  der  gleichartigen  Materie  und  ihrer 
Zustände  vermöge  der  ebenso  gleichartigen  mechanischen  Kraft  be- 
s^chränkt,  und  es  wäre  durchaus  noch  keine  ungeheuerliche  Welt- 
auffassung, die  Formverwandlungen  in  der  Stufenleiter  physikalischer 
Kräfte  bei  der  Differenzirung  der  chemischen  Elemente  betheiligt  zu 
denken.  Indessen  haben  wir  bis  jetzt  keinen  thatsächlichen  Erfah- 
ningsgrund,  derartige  Conceptionen  für  etwas  Anderes  als  reine  Will- 
kürlichkeiten der  Imagination  zu  halten.  In  keinem  natürlichen  oder 
künstlichen  Hergang  wird  die  Sichselbstgleichheit  der  chemischen 
Elemente  verleugnet,  und  so  müssen  wir  ihre  absolute  Ursprünglich- 
keit als  Grundgesetz  des  Universums  anerkennen. 

Nach  dem  Bisherigen  haben  wir  drei  ^^  "h-Vviirigs-  oder  Be- 
sbändigkeitsgesetze  und  einen  Grundcharakter  :..rv.i:--jiintwicklung  als 
schematische  Eigenschaften  des  Systems  der  Dinge  festgestellt.  Der 
Grössenbestand  der  allgemeinen  Materie  und  der  einfachen  Elemente 
und  ebenso  der  Grössenbestand  der  mechanischen  Kraft  sind  un- 
veränderlich, d.  h.  in  jeder  Vergangenheit  wie  in  jeder  Zukunft  als 
einerlei  vorauszusetzen.  Hiezu  kommt  noch  der  Stetigkeitscharakter 
der  Entwicklungen,  vermöge  dessen  alle  Wendungen  durch  eine  Reihe 
von  Yeränderungshäufungen  elementarer  Art  vorbereitet  sein  müssen 
und  mithin  die  ungeheuerlichen  Katastrophen  und  überhaupt  alle 
Mächte,  die  im  gegenwärtigen  Wirken  der  Natur  ohne  Analogon 
sind,  völlig  ausgeschlossen  werden.  Eigentliche  Entwicklungsgesetze 
von  grösserer  Specialität  und  genügender  Exactheit  haben  wir  für 
den  Kosmos,  abgesehen  von  der  Fortschrittsrichtung  in  der  Conso- 
lidation  und  Gliederung  der  ursprünglich  zerstreuten  Materie,  in 
völlig  unbedenklicher  Form  nicht  ausmachen  können.  Hiezu 
würde  es  eines  Wissens  bedürfen,  welches  bis  jetzt  noch  mangelt. 
Man  müsste  nämlich  vor  allem  Andern  doch  wenigstens  über  die 
Stufenleiter  in  den  physikalischen  Formbestimmungen  der  mechani- 
schen Kraft  gut  orientirt  sein.  Man  müsste  also  z.  B,  angeben  kön- 
nen,  wie  sich  die  Gravitation,   die  Wärme  und   die  Elektricität  zu 

Dühriug,  Ciiisus  der  Piiilosopliie.  7 


—    98     — 

ilem  allgemeinen  Kraftmattrial  verhalten,  und  wie  sie  in  der  Syste- 
matik der  Natur  gruppirt  sind.  Ausser  der  noch  sehr  vagen  Idee 
von  der  Einheit  und  sogenannten  Correlation  der  Naturkräfte,  deren 
deutlicher  Sinn  sich  auf  die  Identität  des  mechanischen  Kraftfonds 
bezieht  und  empirisch  bis  jetzt  nur  für  Wärme  und  Gravitation  nach- 
gewiesen ist,  —  ausser  jener  noch  sehr  unbestimmten  Anticipation 
besitzt  man  noch  nichts,  was  als  Rechenschaft  über  eine  genetische 
Naturskala  der  Kräfte  gelten  könnte.  Sogar  über  die  fundamentalen 
Antagonismen  ist  man  im  Universum  eigentHch  nur  in  einem  em- 
zigen  Falle  äusserlich  klar,  nämlich  da,  wo  man  die  Gravitation 
durch  eine  gewöhnlich  transversale  ßeharrungsbewegung  in  einem 
so  zu  sagen  beweglichen  Gleichgevncht  aufhebt.  Alle  andern  Ideen 
über  das  Gegenspiel  der  Naturkräfte  in  der  Mechanik  des  Univer- 
sums sind  mehr  oder  minder  dunkel,  d.  h.  sie  erfordern  die  Zurück- 
führung  auf  einfachere  und  exacter  feststellbare  Beziehungen.  Aber 
auch  in  jenem  deutlich  erkannten  Antagonismus  ist  die  Natur  seiner 
Glieder  noch  immer  problematisch.  Die  Gravitation  ist  bis  jetzt  ein 
mathematischer,  bei  den  physischen  Körpern  zwar  als  real  nach- 
gewiesener, abe.  »ängens  unaufgeklärter  Begriff  geblieben.  Die  An- 
näherung der  Mb.^s5^n  nach  Maassgabe  der  Menge  der  Materie  und 
in  gleicher  Weise  wie  bei  der  Erdschwere  ist  sein  einziges  Kennzeichen, 
und  die  unvermittelte  Art,  in  welcher  die  Wirkung  in  die  Ferne  als 
im  absolut  leeren  Räume  vor  sich  gehend  vorgestellt  werden  muss, 
ist  ein  Mangel,  zu  dessen  Wahrnehmung  es  nicht  der  Denkweise 
und  des  Standpunkts  eines  Huyghens  bedarf.  Allerdings  wird  mau, 
wenn  man  überhaupt  von  einem  materiellen  Theil  zum  andern  eine 
Wirkung  übertragen  denken  will,  irgendwo  mit  den  Einschaltungen 
von  Vermittlungen  Halt  machen  müssen,  da  sich  der  Fortschritt  ins 
Schrankenlose  hier  grade  nach  unsern  Grundsätzen  am  entschieden- 
sten verbietet.  Auch  der  absolut  leere  Raum  kann  uns  keine  Schwierig- 
keiten machen;  denn  er  kommt  nach  dem  Axiom,  welches  wir  als 
Princip  des  Leitfadens  der  Materialität  bezeichnet  haben,  nur  als 
Ausdruck  eines  mechanisch  erheblichen  Abstandes  uud  materieller 
Zustände,  sonst  aber  gar  nicht  in  Betracht.  Dagegen  dürfte  es  als 
ein  allzu  rascher  Verzicht  auf  weitere  Vermittlungen  erscheinen, 
wenn  man  Angesichts  der  Erfüllung  der  kosmischen  Zwischenräume 
mit  einer  das  Licht  und  die  Wärme  fortpflanzenden  Materie  für 
immer  mit  dem  mathematischen  Begriff  einer  unmittelbar  in  kos- 
mische Fernen  wirkenden  Gravitation  zufriedengestellt  bleiben  wollte. 


—     99     — 

Auch  der  Umstand,  dass  eine  jede  Action,  die  sich  durch  die  Räume 
erstreckt,  in  allen  andern  Fällen  irgend  eine,  wenn  auch  noch  so 
kleine  Zeitdauer  zu  ihrer  Vollziehung  in  Anspruch  nimmt,  schliesst 
eine  mächtige  Analogie  ein,  der  gegenüber  die  Ausnahme  einer  ein- 
zigen Naturkraft  befremdlieh  erscheinen  muss  und  der  Aufklärung 
bedarf.  Wir  sind  also  mit  dem  Grayitationssystem,  soweit  es  mehr 
als  eine  materielle  Mathematik  sein  oder  werden  soll,  sicherlich  noch 
nicht  am  Ende,  und  vielleicht  ist  die  bedeutsame  Epoche,  die  mit 
den  Anfängen  zur  Mechanik  der  Wanne  eingeleitet  wurde,  in  ihren 
ferneren  Consequenzen  dazu  bestimmt,  auch  etwas  tiefer  in  das  phy- 
sikalische Wesen  der  Gravitationsmechanik  einzudringen.  Allem  An- 
schein nach  stammt  der  Antagonismus  der  kosmischen,  jetzt  gewöhn- 
lich mehr  oder  minder  transversalen  Beharrungsbewegungen  und  der 
Tendenzen  der  allgemeinen  Schwere  aus  einer  einheitlichen  Kraft- 
form, bei  deren  Differenzirung  zu  zwei  verschiedeneu  Bethätigungs- 
arten  der  Aether  und  die  Wärme  die  wesentliche  Rolle  gespielt 
haben  müssen. 

Das  Universum  ist  ein  Mechanismus,  und  ein  solcher  kann  nicht 
ohne  Systematik  gedacht  werden.  Es  muss  daher  eine  einfache 
Grundform  der  Kraft  geben,  und  die  Bethätigung  muss  auf  einer 
fundamentalen  Doppelgestaltung  beruhen.  Ein  Widerstand  und  eine 
Ueberwindung  desselben  müssen  den  Grundtypus  aller  Vorgänge 
bilden.  Die  Gravitation  selbst  oder  eine  höhere,  sie  einschliessende 
Beziehungsform  der  materiellen  Theile  kann  nun  im  Universum  als 
überall  gültig  vorausgesetzt  werden;  denn  die  Beobachtungen  an  den 
Doppelsternen  bestätigen  immer  genauer  die  Vorwegnahme  der  Ana- 
logie und  des  Gedankens,  dass  die  unumgängliche  Grundform  die 
Tendenz  zu  den  räumlichen  Annäherungen  nach  Maassgabe  der 
Menge  der  Materie  sei.  Hiemit  haben  wir  aber  nur  die  eine  Seite 
des  Antagonismus  vor  uns,  und  da  die  kosmische  Universalität  der 
Wärme  sogar  empirisch  weit  leichter  erkennbar  ist,  als  diejenige 
der  Schwere,  so  haben  wir  von  der  genaueren  Kenntniss  dieser 
Wirkungsform  der  Natur  die  umfassendsten  Einsichten  in  den  Ge- 
sammtmechanismus  zu  erwarten.  Ueberdies  sind  die  Beziehungen 
der  Wärme  zu  den  Atomgewichten  und  zu  den  Aenderungen  der 
Aggregationsformen  für  die  Constitution  der  Materie  charakteristi- 
scher, als  die  blossen  Affectionen  des  Gravitirens.  Die  für  das  Wesen 
der  Dinge  so  intime  Rolle  der  Wärme  zeigt  sich  aber  erst  vollständig 
durch  ihren  Einfluss   auf  die  specielle   Gliederung  der  Gebilde  und 


—     100    — 

schliesslich  auf  die  Unterhaltung  des  Lebens.  Wenn  also  ein  höchstes 
und  universelles  Entwicklungsprincip  einmal  zugleich  den  Kosmos 
und  das  Leben  auf  den  einzelnen  Weltkörpem  als  nothwendige 
Gheder  einer  Kette  von  Wirkungen  sichtbar  machen  sollte,  so  würde 
es  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  den  Mechanismus  der  Wärme  als 
Grundgestalt  enthalten  müssen. 


IDrittes  Oapitel. 
Organische  Entwicklungsgesetze. 

Sobald  wir  von  der  kosmischen  Weltverfassung  und  der  näher 
bekannten  Einrichtung  unseres  Sonnensystems  zu  dem  Schicksal  eines 
einzelnen  Körpers,  wie  der  Erde,  übergehen,  so  gilt  er  uns  wesent- 
lich nur  als  ein  Schauplatz  für  organische  und  vitale  Entwicklungen. 
Die  Geologie  ist  ein  Mittelglied  zwischen  der  kosmischen  Betrach- 
tung und  der  Aufmerksamkeit  auf  die  Kette  der  Lebensformen.  Die 
stetigen,  mit  plötzlichen  und  gewaltsamen  Katastrophen  unverträg- 
lichen, Entwicklungsideen  haben  im  Eingang  des  19.  Jahrhunderts 
in  Lamarck  einen  vielseitigen  Vertreter  gefanden,  sind  aber  erst  ein 
Menschenalter  später  durch  Lyell  in  der  Geologie  zu  umfassender 
und  specieller  Verwerthung  und  noch  weit  später  zu  allgemeiner 
Anerkennung  gelangt.  Nach  diesen  neuen  AUmäligkeitsgrundsätzen 
sind  die  Kräfte,  welche  heut  an  der  Veränderuug  der  Erdoberfläche 
arbeiten,  an  sich  selbst  und  in  ihrer  stetigen  Wirkungsart  ebendie- 
selben, welche  im  Verlauf  gewaltiger  Zeitausdehnuugen  die  erheb- 
lichsten Umwandlungen  hervorgebracht  haben.  In  einer  andern 
Richtung  hat  Lamarck  auf  eine  für  ihn  besonders  charakteristische 
Weise  mehr  als  den  blossen  Anstoss  zu  einer  neuen  Auffassung  der 
lebenden  Welt  gegeben.  Er  hat,  und  zwar  namentlich  in  seiner 
Philosophie  zoologique  (1809),  diejenige  Theorie  von  dem  Ursprung 
und  der  stetigen  Bildung  der  Arten  aufgestellt  und  durchgeführt, 
die  50  Jahre  später  von  Darwin  mit  einigen  theoretischen  Zusätzen 
und  neuen  Thatsachen  ausgestattet  und  so  seit  1859  immer  mehr 
zu  einem  allgemeinen  Ferment  geworden  ist.  Der  sogenannte  Dar- 
winismus enthält  über  die  Lamarckschen  Aufstellungen  hinaus  nur 
eia  einziges,  bei  ihm  markirter  auftretendes  und  in  alle  Breite  ver- 


—     101     — 

folgtes  Entwicklungsprincip ,  nämlich  das  der  Naturzüchtung  ver- 
mittelst des  sogenannten  Kampfes  ums  Dasein.  Der  Ursprung  der 
letzteren  Vorstellung  ist,  wie  es  Darwin  selbst  eingestanden  hat,  in 
einer  Verallgemeinerung  der  Ansichten  des  nationalökonomischen 
Bevölkerungstheoretikers  Malthus  zu  suchen  und  demgemäss  auch 
mit  allen  Schäden  behaftet,  die  den  priesterlich  Malthusianischen 
Anschauungen  über  das  Bevölkerungsgedränge  eigen  sind.  Die  Oeko- 
nomie  der  Natur  ist  in  dieser  Richtung  nicht  weniger  einseitig  auf- 
gefasst  worden,  als  diejenige  der  Gesellschaft,  und  eö  ist  bereits  ab- 
zusehen, dass  die  zweideutigen  oder  verwerflichen  Elemente  des 
Darwinismus  ein  ähnliches  Schicksal  haben  werden,  wie  es  den 
Malthusianismus  bereits  betroffen  hat.  Was  bleiben  wird,  werden 
die  Lamarckschen  Ideen  sein  und  vielleicht  einige  allgemeinere  Vor- 
stellungen über  die  Häufung  der  Unterschiede  vermöge  solcher  ge- 
schlechtlicher Combinationen  und  solcher  Vererbungen,  deren  Voll- 
ziehung keineswegs  in  erster  Linie  durch  einen  Kampf  um  das  Da- 
sein, sondern  durch  positive  Gruppirungen  und  Triebe  bestimmt  zu 
denken  ist. 

Innerhalb  der  ganzen  Bewegung  der  Anschauungsweise,  die  im 
Verlauf  des  19.  Jahrhunderts  zur  Bethätigung  gelangt  ist,  zeichnet 
sich  als  völlig  berechtigtes  Element  die  durchgreifende  Vorstellung 
von  einer  universellen  Fortschrittsrichtung  der  Entwicklungen  aus. 
Der  ursprüngliche  Zustand  wird  möglichst  einfach  und  ungegliedert 
gedacht,  so  dass  die  Mannichfaltigkeit  der  Formen  und  Fähigkeiten 
der  Gebilde  erst  allmälig  in  immer  höheren  Steigerungen  hervortritt. 
Auch  scheint  das  eigentliche  Chaos  als  Ursprungsvorstellung  in  jeder 
Richtung  aufgegeben  zu  sein,  und  in  der  That  kann  sich  nichts 
entschiedener  Unphilosophisches  in  die  Systematik  der  Natur  ein- 
drängen, als  die  Idee  einer  wüsten,  ungeordneten  Durcheiuander- 
mischung  aller  Elemente.  Das  Ei,  aus  welchem  sich  das  Huhn  durch 
blos  physikalische  Wärme  bilden  kann,  ist  kein  Chaos,  sondern  eine 
derartige  typische  Vorbildung,  dass  ein  blosses  Wärmespiel  ausreicht, 
die  zu  der  gegliederten  Gestaltung  eines  empfindenden  Wesens  nö- 
thigen  Gruppirungen  zu  veranlassen.  Auch  der  Zerstreuungszustand 
der  Materie  kann  kein  eigenthches  und  regelloses  Chaos,  sondern 
muss  eine  gesetzmässige  Anordnung  und  Beziehung  der  Theilchen 
gewesen  sein,  in  welcher  der  Typus  der  ferneren  Entwicklungen 
bereits  angelegt  war.  Das  Gesetz  und  die  Regel  beherrscht  Alles, 
mögen   wir  in  die  äusserste  Vergangenheit  zurückgehen  oder  in  die 


—     102    — 

fernste  Zukunft  hinausgreifen.  Systematisch  ist  jede  Existenzform 
der  Materie,  und  der  einzige  Unterschied  besteht  in  dem  Grade  der 
jeweiligen  Entwicklung.  Ein  rationelles  Chaos  würde  daher  nicht 
den  Mangel  der  Gesetzmässigkeit  und  Ordnung,  sondern  nur  die 
Abwesenheit  der  Entw^icklung  bedeuten  können.  Doch  ist  der  Aus- 
druck besser  ganz  zu  vermeiden,  da  bei  ihm  nicht  blos  an  den 
Mangel  einer  bestimmten  Art  von  Gruppirung,  sondern  überhaupt 
an  das  Widerspiel  aller  regelrechten  Anordnung  gedacht  zu  werden 
pflegt.  In  diesem  letzteren  Sinne  giebt  es  nur  für  die  willkürliche 
und  wüste  Imagiaation  ein  Naturchaos,  und  weder  die  Ursprungs- 
zustände  des  Universums,  noch  diejenigen  der  organischen  oder  em- 
pfindenden Gebilde  dürfen  als  ein  Walten  regelloser  Kräfte  vorgestellt 
werden.  Selbst  wenn  erst  eine  Reihe  von  Gebilden  hervorgetrieben 
wäre  und  hinterher  an  den  Widerständen,  die  sich  der  Fortexistenz 
ihrer  Formen  hinderUch  zeigten,  eine  Vernichtung  erfahren  hätte, 
so  würde  dieser  Antagonismus  selbst  als  eine  gesetzliche  Form  des 
Schaffens  zu  betrachten  und  als  Bestandtheil  der  durchgängigen 
Systematik  der  Natm*  aufzufassen  sein. 

2.  Der  Fortschritt  liegt  in  der  Ausbildung  einer  reicheren 
Mannichfaltigkeit  und  mithin  in  der  Erhebung  zu  einer  grösseren 
Vollkommenheit.  Mit'  diesen  Begriffen  befinden  wir  uns  aber  bei 
einem  wichtigen  Wendepunkt  des  naturphilosophischen  Denkens.  Es 
ist  nämlich  völlig  unmöglich,  die  Vollkommenheit  und  einen  Maass- 
stab derselben  ohne  den  Gesichtspunkt  der  einem  Zwecke  entspre- 
chenden Function  vorzustellen.  Solange  wir  gegen  die  Anordnung 
der  Theile  eines  Mechanismus  bezügUch  ihres  Zusammenwirkens  zu 
seiner  Verrichtung  gleichgültig  bleiben,  verstehen  wir  denselben 
nicht.  Ausser  der  Art,  wie  jedes  Glied  der  Causal kette  in  das 
nächste  eingreift,  muss  auch  die  ganze  Beziehungsform  der  Ursachen 
und  die  systematische  Combination  derselben  zu  einer  Gesammt- 
wirkung  erkennbar  werden.  Dies  ist  aber  nur  möglich,  wenn  wir 
unter  den  Causalitäten  eine  Unterordnung  und  Abhängigkeit  an- 
nehmen, wie  sie  in  jedem,  von  Menschenhand  verfertigten  Mecha- 
nismus ebenfalls  statthat.  Die  Beziehung  von  Mittel  und  Zweck 
setzt  keineswegs  eine  bewusste  Absicht  voraus;  denn  eine  solche 
Absicht  kann  nur  da  vorhanden  sein,  wo  eigentliche  Vorstellungen 
und  verstandesmässige  Ueberlegungen  dazwischentreten.  Wir  präju- 
diciren  also  über  das  Wesen  der  Dinge  gar  nichts,  indem  wir  uns 
nicht  künstlich  den  Verzicht  auf  einen  Begriff  aufzwingen,  ohne  den 


—     103     — 

unser  Verstand  in  seiner  Tragweite  gelähmt  bleiben  würde.  Was 
ein  falsches  Raisonnement  aus  Zwecken  sei,  und  warum  die  strenge 
WissenschaftHchkeit  auf  der  Erkenntniss  der  wirkenden  Causalität 
und  nicht  auf  der  voreiligen  Operation  mit  Finalitäten  beruhe,  haben 
wir  schon  dargelegt.  Wo  aber  der  vollständige  causale  Zusammen- 
hang in  seinen  einzehien  Gliedern  blosgelegt  ist,  bildet  die  Betrach- 
tung von  Mittel  und  Zweck  eine  nothwendige  Ergänzung  der  Ein- 
sicht, und  es  war  ein  falscher,  gegen  die  Elemente  des  Verstandes 
selbst  gerichteter  Skepfcicismus,  wenn  man  in  der  vermeintlichen 
Kritik  der  in  der  Natur  wesentlichen  Kategorien  bis  zur  Forderung 
der  Ausmerzung  des  Zweckbegriffs  gelangte. 

Auch  den  Mangel  einer  bestimmten  Ordnung,  die  erst  mit  der 
Entwicklung  hervortritt,  können  wir  nicht  anders  kennzeichnen,  als 
indem  wir  ihn  im  Gegensatz  zu  einem  Typus  betrachten,  der  eine 
höhere  Art  des  Schematismus  der  Gebilde  und  einen  gesteigerten 
Grad  von  Vollkommenheit  vertritt.  Alles,  was  wir  in  dieser  Hin- 
sicht als  Unordnung  auffassen,  ist  nur  eine  niedere  Stufe  der  Gesetz- 
mässigkeit, bei  welcher  wir  zugleich  an  die  Abwesenheit  eines  hö- 
heren formenden  Princips  denken.  Nicht  die  Kräfte,  sondern  die 
Kräfteformen  machen  den  Unterschied  der  Gebilde  aus,  und  in  der 
Bethätigung  solcher  Formen  oder  Schemata  besteht  die  Entwicklung. 
Dagegen  ist  es  ein  ganz  anderer  Begriff  von  Unordnung,  wenn  wir 
innerhalb  desselben  Bereichs  mit  einer  theilweisen  Zusammenstim- 
mung der  Functionen  auch  die  gegenseitige  Störung  derselben  oder 
das  Verfehlen  des  erforderlichen  Zusammenwirkens  wahrnehmen. 
Hier  haben  wir  dann  nicht  den  Mangel  des  Zwecks  sondern  die  po- 
sitive UnZweckmässigkeit  vor  uns,  und  derartige  Abweichungen 
dienen  ganz  besonders  dazu,  die  Structur  aus  dem  Gesichtspunkt 
von  Mittel  und  Zweck  kenntlich  zu  machen. 

Wenn  wir  von  Niederem  und  Höherem  reden,  so  kann  dies  für 
die  Entwicklungsstufen  nur  dann  einen  Sinn  haben,  wenn  wir  die 
Functionen  der  Dinge  nach  ihren  Leistungen  für  irgend  einen  Zweck 
unterscheiden.  Der  Begriff  des  Fortschritts  selbst  würde  alle  Be- 
deutung verlieren,  wenn  man  nicht  ein  Maass  hätte,  die  höheren 
von  den  niederen  Entwicklungsstufen  zu  unterscheiden.  Auf  einen 
blossen  Grössenbegriff,  also  etwa  auf  die  Reichhaltigkeit  der  Gliede- 
rung, kann  man  das  Fortschreiten  nicht  beschränken  wollen;  denn 
die  Vielgestaltigkeit  der  Functionen  würde  an  sich  selbst  nicht?  be- 
deuten, wenn  nicht  die  in   dieser  Vielorestalfciofkeit  ffieichsam  herr- 


—     104    — 

sehende  Gruppe  von  Hauptfimctionen  an   sich  selbst  einen  höheren 
Werth  hätte. 

Der  Fortschritt  in  der  Stufenfolge  der  Entwicklungen  liegt  in 
der  Richtung  auf  das  Leben,  und  das  Universum  kann jebeni^^ 
darauf  angelegt  sein,  schliesslich  überall  und  in  reichster  Fülle  die 
Empfindung  zu  prodaciren.  Die  empfindenden  Wesen  müssen  uns 
als_Zweck  jeder  kosmischen  Einrichtung  gelten;  denn  eine  durch- 
gängig bewusstlose  Welt  wäre  eine  thörichte  Halbheit  und  so  zu 
Sfigen  eine  Schaubühne  ohne  Spieler  und  Zuschauer.  Die  Reihe  der 
Causalitäten  führt  auf  irgend  eine  Art  zum  Hervortreten  empfinden- 
der Gebilde,  und  die  nähere  Kenntniss  dieser  Art  würde  uns  in  den 
Stand  setzen,  überall  aus  den  kosmischen  Bedingungen  auch  auf  das 
Dasein  und  die  Beschaffenheit  einer  vitalen  Ausstattung  der  Welt- 
körper zu  schliessen.  Nun  kennen  wir  aber  aus  der  Erfahrung  nur 
eine  einzige  derartige  Causalität  und  selbst  diese  nur  als  nackte 
Thatsache  und  ohne  die  näheren  Einschaltungen  ihrer  Kette.  Wir 
liennen  die  organische  und  die  vitale  Ausstattung  unseres  Planeten 
und  deren  gegenwärtige  Lebensbedingungen.  Wir  wissen  ferner, 
dass  diese  Ausstattung  in  einer  gewissen  Periode  der  planetarischen 
Entwicklung  noch  nicht  vorhanden  war,  und  dass  mithin  Empfin- 
dung und  Bewusstsein  einen  von  geologischen  Vorgängen  abhän- 
gigen Anfang  gehabt  haben.  Wir  müssen  ausserdem  den  allgemeinen 
Gedanken  fassen,  dass  es  bestimmte  Zustände  der  Materie  mit  einer 
bestimmten  Anordnung  kosmisch  physikalischer  Kräfte  sind,  wodurch 
den  Organisationen  und  dem  Leben  nicht  blos  Gelegenheit  gegeben, 
sondern  die  Nothwendigkeit  auferlegt  wird,  in  gegHederten  und  be- 
wussten  Gebilden  hervorzutreten.  Die  Entstehung  des  Lebens  ist 
mithin  ein  Act  der  wirkenden  Causalität;  wo  in  der  Mechanik  des 
Universums  die  Bedingungen  zur  organischen  Gliederung  und  zum 
Empfindungsspiel  gegeben  sind,  da  brechen  diese  neuen  Formen  des 
Daseins  mit  Nothwendigkeit  hervor,  und  sie  sind  daher  selbst  nichts 
als  entlegene  Glieder  in  der  allgemeinen  ursächlichen  Determination. 
Von  der  Mechanik  in  Druck  und  Stoss  bis  zur  Verknüpfung  der 
Empfindungen  und  Gedanken  reicht  eine  einheitliche  und  einzige 
Stufenleiter  von  Einschaltungen,  und  wir  können  gewiss  sein,  dass 
diese  Bewerkstelligung  des  Uebergangs  überall  dasselbe  in  den  we- 
sentlichen Grundzügen  übereinstimmende  Schema  reproduciren  muss. 
Wie  die  Grundstoffe  überall  dieselben  sind,  so  werden  es  auch  die 
Grundformen  oder,  mit  andern  Worten,  die  typischen  und  gestalten- 


— -     105     — 

den  Elemente  sein,  und  die  Mannichfaltigkeit  der  Variationen  wird 
durch  die  Gemeinsamkeit  der  zu  Grunde  liegenden  Bildungs Verhält- 
nisse keineswegs  ausgeschlossen.  Die  sonst  völlig  neuen  Entwick- 
lungen können  dennoch  die  alten  Grundformen  einschliessen ,  und 
wie  der  Mensch  die  Animalität  in  ihren  Hauptzügen  enthält,  so 
können  auch  andere  Wesen  die  wichtigsten  Attribute  des  Mensch- 
lichen an  sich  tragen,  ohne  deshalb  mit  ihren  Functionen  auf  den 
Rahmen  der  menschlichen  Thätigkeit  begrenzt  zu  sein.  Das  Denken 
kann  nach  denselben  Gesetzen  erfolgen  und  dieselben  Wahrheiten 
liefern,  aber  dennoch  vou  grösserer  Tragweite  sein.  Keine  Einsicht 
d^  niedern  Stufe  braucht  im  Widerspruch  mit  der  weitertragenden 
Wahrheit  der  höhern  Stufe  zu  stehen ,  sowie  eine  Erweiterung  des 
Wissens  und  des  Horizontes  keine  Enttäuschung  über  das  bisherige  1 
Vorstellen  zu  werden  braucht.  Die  Triebe  und  Leidenschaften  kön-  [ 
nen  von  derselben  Gattung  und  aus  denselben  Elementen  zusammen- 
gesetzt sein;  sie  können  zu  entsprechenden  gesellschaftlichen  Grup- 
pirungen  ihrer  Träger  fähren,  ohne  dass  deswegen  Alles  wie  bei  uns 
eingerichtet  sein  und  das  Spiel  entwickelterer  Formationen  fehlen 
müsste.  Wir  stehen  mit  unserer  Erkenntniss  innerhalb  der  Reihe 
empirischer  Causalität  und  verstehen  uns  demgemäss  auf  die  Ele- 
mente, aber  nicht  auf  alle  Combinationen ,  Steigerungen  ucd  Ent- 
wicklungen des  Daseins.  Wir  begreifen  die  Elemente  alles  Lebens 
und  Bewusstseins ;  aber  wir  haben  mit  den  Elementen  noch  keines- 
wegs die  Hauptsache,  nämlich  die  Mannichfaltigkeiten  des  Lebens 
erschöpft.  Auf  dem  reicheren  Schematismus  der  Elemente  beruht 
die  Steigerung,  und  es  würde  thöricht  sein,  von  den  im  Universum 
möglichen  Empfindungsgestaltungen  mehr  als  die  Elemente  kennen 
zu  wollen.  Der  Reiz  des  Lebens  beruht  eben,  auf  dem  umstände, 
dass  sich  auf  die  bekannten  Elemente  eine  unbekannte  Combination 
gründen  könne. 

3.  Warum  ist  unser  Schluss  auf  die  Bevölkerung  der  andern  ^*  "**J 
Planeten  und  auf  die  lebenden  Wesen  der  sonstigen  Körper  des  Uni-  *^^'^" 
versums,  trotz  seiner  vollendeten  Sicherheit  im  Allgemeinen,  doch 
so  unbrauchbar  für  den  einzelnen  Fall?  Weil  wir  wohl  die  Causa- 
lität überhaupt,  vermöge  deren  kosmische  Voraussetzungen  zur  Ent- 
stehung lebender  Wesen  führen,  aber  nicht  die  besondern  Vorbedin- 
gungen und  Umstände  kennen,  unter  denen  ein  solcher  Vorgang  gesetz- 
mässig  eintreten  muss.  Es  ist  nicht  etwa  ein  Schluss  aus  dem  Zweck, 
der  uns  die  Bewohntheit  anderer  Weltkörper  im  Allgemeinen  und  in 


—     106     - 

erster  Linie  verbürgte;  es  ist  vielmehr  das  einfache  Verhältniss  von 
Ursache  und  Wirkung,  welches  in  der  unbestimmten  Art,  in  welcher 
es  uns  aus  der  ursprünglichen  Lebenserzeuguug  anf  unsenn  Planeten 
bekannt  ist,  auch  nöthigt,  überall  sonst  im  Weltall  an  gleiche  Vor- 
bedingungen gleiche  Ergebnisse  zu  knüpfen.  Nun  hindert  uns  aber 
nichts  anzunehmen,  dass  es  auch  im  Kosmos  so  zu  sagen  Wüsten 
d.  h.  unfruchtbare  Materie  geben  könne,  für  welche  sich  die  Bedin- 
gungen der  Lebenserzeugung  nicht  zusammengefunden  haben.  Hiezu 
kommt  noch,  dass  die  für  uns  zwingende  Analogie,  von  welcher  wir 
den  Logos  oder  die  Raison  nur  ganz  im  Allgemeinen  kennen,  keine 
nähere  Zeitbestimmung  enthält.  Der  Zeitpunkt,  in  welchem  nach 
einer  Dauer  von  physikalischen  Vorspielen  endlich  das  empfindende 
Leben  erregt  und  zu  irgend  einer  Art  von  Bewusstsein  gebracht 
wird,  ist  in  der  Reihe  der  kosmischen  Vorgänge  nichts  weniger  als 
gleichgültig.  Kein  bestimmteres  Entwicklungsgesetz  kann  ohne  die 
Angabe  eines  Zeitquantum  bleiben,  und  wir  müssen  daher  nach  den 
Grundsätzen  der  Wahrscheinlichkeitsveranschlagung  voraussetzen,  dass 
im  Universum  die  verschiedensten  Entwicklungsepochen  gleichzeitig 
vertreten  sind.  Ehe  ein  Weltkörper  zu  derjenigen  Beschaffenheit 
seiner  Oberfläche  gelangte,  vermöge  deren  er  fähig  wurde,  eine  Bühne 
der  Organisation  und  des  empfindenden  Lebens  zu  sein,  muss  seine 
ganze  vorgängige  Existenz  einen  rein  physikalischen  Charakter  ge- 
habt haben.  Irgend  einmal  sind  also  die  Lebensgebilde  im  Univer- 
sum nirgend  vertreten  gewesen,  und  wir  dürfen  daher  auch  den 
heutigen  Zustand  der  Natur  nur  als  einen  gemischten  ansehen. 
Neben  den  bevölkerten  Weltkörpern  müssen  wir  auch  solche  voraus- 
setzen, die  es  noch  nicht  sind;  ja  wir  würden  auch  solche  anzu- 
nehmen haben,  die  es  nichfc  melir  sind,  wenn  uns  irgend  ein  ursäch- 
liches Verhältniss,  durch  welches  die  Ausstattung  mit  lebenden  Wesen 
wieder  aufhörte,  als  Thatsache  bekannt  wäre,  oder  wenn  irgend  ein 
sicherer  Schluss  ein  derartiges  Ereigniss  in  die  Entwickluugsreihe 
aufzunehmen  erlaubte.  Letzteres  ist  aber  nicht  der  Fall,  wie  wir 
schon  früher  nachgewiesen  haben. 
,/Ef;i.^ti«.t  Das  Interessante  an  der  vitalen  Entwicklung  ist  der  Umstand, 
'  dass  nichts  nachdrücklicher  als  grade  sie  die  Wichtigkeit  der  abso- 
"  luten  Zeitgrössen  kennen  lehrt.  Wer  sich  scheut,  für  jede  bestimmte 
Natnrform  einen  Anfang  zu  setzen  und  ihm  ^eine  zeitlich  bestimmte 
Epoche  in  der  Entwicklung  des  Systems  der  Dinge  anzuweisen,  wird 
in  die  Noth wendigkeit,   der  er  in  andern   Fällen  ausweichen  will. 


—     107    — 

grade  bei  dem  bedeutungsvollsten  Ereigniss  versetzt,  welches  sich 
überhaupt  für  denkende  Wesen  in  der  Welt  vorfinden  kann.  Die 
empfindende  Animalität  muss  in  irgend  einem,  mathematisch  scharf 
zu  denkenden  Zeitpunkt  ins  Dasein  getreten  sein.  Dies  gilt  für  un- 
sern  Planeten;  es  gilt  aber  auch  in  einem  absoluten  Sinne  für  das 
Universum.  Man  kann  nun  fragen,  warum  dieses  entscheidende 
Ereigniss,  innerhalb  dessen  Gattung  unser  ganzes  Lebensinteresse 
haftet  und  dem  gegenüber  wir  keinen  höhern  Zweck  zu  denken  ver- 
mögen, nicht  eine  Decillion  von  Jahrtausenden  früher  eingetreten 
sei  und  warum,  dichterisch  geredet,  eme  ganze  Ewigkeit  ohne  diese 
vitale  Auszeichnung,  ohne  eigentliches  Leben,  ohne  Empfindung, 
ohne  Bewusstsein,  km-z  ohne  Interesse  an  sich  selbst  geblieben  sei. 
Der  Reiz  des  Daseins  ist  hienach  offenbar  nicht  blos  überhaupt  etwas 
Zeitliches,  sondern  sogar  ein  Phänomen  mit  bestimmtem  Anfang. 
Die  Subjectivität,  die  ohne  Empfindung  ein  sinnleerer  Begriff  sein 
würde,  ist  erst  etwas  zur  objectiven  Welt  Hinzugekommenes,  was, 
im  absoluten  Sinne  genommen,  sein  oder  auch  nichtsein  kann  und 
zwar  unbeschadet  der  Existenz  der  sonstigen  Theile  der  Natur. 

Wenn  irgendwo,  so  werden  wir  bei  diesem  Punkte  inne,  welcher  v"^*>-*^ 
Unterschied  zwischen  der  allgemeinen,  für  jegliche  Zeit  gültigen  Vlr*P* 
Nothwendigkeit  und  denjenigen  Gesetzen  besteht,  die  sich  nur  auf  ^'  '^ 
eine  bestimmte  Zeitdauer  und  auf  den  Ort  dieses  Zeitquantums  in 
dem  universellen  Zeitinhalt  beziehen  lassen.  Jedes  bestimmtere  Ent- 
wicklungsgesetz,  welches  mehr  als  die  Grundfonnen  aller  Entwick- 
lung ausdrückt,  muss  eine  Zeitgrösse  und  ausserdem  die  Angabe 
einer  Lage  zwischen  benachbarten  oder  entfernteren  Ereignissen  ent- 
halten. Man  wird  mithin  u'gend  einen  Zustand  als  Ausgangspunkt 
bezeichnen  und  von  ihm  aus  das  Einzuschaltende  abmessen.  Man 
wird  jeder  Veränderung  einen  Zeitpunkt  ihres  Eintretens  und  über- 
dies der  neuen  Beschaffenheit  irgend  einen  Bestand  und  irgend  eine 
Dauer  anweisen,  nach  welcher  wiederum  eine  neue  Eigenschaft  sicht- 
bar geworden  ist.  Diese  Abgrenzungen  werden  die  eigentlichen  Ent- 
wicklungsstufen bezeichnen,  und  man  wird  solange  von  brauchbaren 
Entwicklungsgesetzen  äusserst  fernbleiben,  als  es  nicht  gelingt,  die 
Nothwendigkeit  des  absoluten  Zeitmaasses  zu  erkennen,  nach  welchem 
sich  Wechsel  und  Bestand  regeln.  Wie  schlecht  wäre  man  im  Sonnen- 
system und  über  dessen  Verhältuiss  zu  den  näheren  Theilen  des  Kos- 
mos unterrichtet,  wenn  man  nicht  die  räumlichen  Ausdehnungen 
entweder    genau    messen    oder    in    einigen   Beziehungen    wenigstens 


—     108     — 

ziemlich  gut  schätzen  könnte!  Ein  gleiches  Erforderniss  gilt  nun 
für  die  zeitliche  Orientirung,  und  man  schmeichle  sich  nicht,  ent- 
scheidende Entwicklungsgesetze  zu  kennen,  solange  man  über  die 
Abstände  der  grossen  Epochen  und  das  jedem  Entwicklungshergang 
zuzutheilende  Zeitmaass  in  Ungewissheit  bleibt.  In  der  Entwicklung 
des  thierischen  Individuums  fehlt  es  uns  für  die  verschiedenen  Sta- 
dien keineswegs  an  hinreichenden  Bestimmungen  der  Dauer.  Bei 
dem  Embryo  sagen  wir  sogar  mit  einem  hohen  Grade  von  Sicher- 
heit die  Abfolge  der  Zustände  und  den  Zeitpunkt  seiner  selbstän- 
digen Loslösung  voraus.  Für  die  embryonischen  Zustände  der  Gat- 
tungsbilduug  sind  wir  von  der  Genauigkeit  solcher  zeitlich  bestimmter 
Vorstellungen  noch  äusserst  entfernt.  Aber  selbst  wenn  wir  uns  der 
geschichtlichen  Zeit  nähern  oder  in  dieselbe  eintreten,  lassen  die  zeit- 
lichen Markirungen  noch  viel  zu  wünschen  übrig.  Wo  haben  wir 
wohl  in  der  Menschheitsgeschichte  streng  bestimmbare  Entwicklungs- 
maasse  zu  verzeichnen?  Was  bedeutet  die  Dauer  einer  Race  oder, 
mit  andern  Worten,  in  welchem  Zeitpunkt  lassen  wir  deren  Eigen- 
thümlichkeit  hervortreten?  Wie  gross  ist  die  Lebensdauer  der  Na- 
tionen, sei  es  dass  man  den  Anfangspunkt  markirter  Stammeigen- 
thümlichkeiten  oder  den  Schlusspunkt  ihrer  völligen  Verwischung 
kennen  zu  lernen  wünscht?  Hier  zeigt  es  sich,  dass  uns  nicht  nur 
die  innem  Nothwendigkeiten,  welche  den  bestimmten  Zeitverbrauch 
mit  sich  bringen,  sondern  auch  die  äussern  Thatsachen  fiir  die  Länge 
der  Epochen  meistens  fehlen.  Wo  wir  dagegen  im  Bereich  der 
eigentlich  historischen  Vorgänge,  mögen  sie  nun  die  Natur  oder  das 
Menschenschicksal  betreffen,  wirkliche  Zeitmaasse  zur  gehörigen  An- 
wendung bringen  können,  müssen  wir  sofort  fast  regelmässig  den 
Mangel  einer  tiefem  Einsicht  in  die  innere  Nothwendigkeit  des  be- 
stimmten Zeitverbrauchs  bemerken.  Derartige  Unzulänglichkeiten 
bleiben  also  vorläufig  eine  störende  Eigenschaft  aller  unserer  Ent- 
wicklungssysteme, und  man  darf  daher  auf  die  Specialitäten  der 
kurzweg  so  genannten  Entwicklungstheorie  keinen  zu  grossen  Werth 
legen. 

4.  Selbst  wenn  man,  was  nicht  der  Fall  ist,  die  Welt  in  einer 
leeren  Zeit  grade  so  wie  im  leeren  Räume  gleichsam  verschoben 
denken  könnte,  so  würde  diese  Verschiebung  an  der  realen  Auf- 
einanderfolge und  Dauer  der  einzelnen  Thatsachen  nichts  ändern. 
Sieht  man  also  von  demjenigen  Anfang  ab,  mit  welchem  alle  Ent- 
wicklung erst  begonnen  hat  und  aus  dem  Zustande  der  Sichselbst- 


—     109     — 

gjeichheit  der  Materie  herausgetreten  ist,  so  mag  man  die  seitdem 
abgelaufene  Reihe  in  jeden  beliebigen  Ort  der  ideellen  Zeitlinie  ver- 
legen, und  man  wird  an  der  Wirklichkeit  hiedurch  nicht  das  Geringste 
ändern.  Worauf  es  also  ankommt,  ist  die  Bestimmung  des  Wirk- 
lichen innerhalb  Seinesgleichen  und  nicht  die  täuschende  Beziehung 
auf  eine  absolute,  rein  ideelle  Zeit.  In  einer  solchen  Zeit  wäre  für 
das  Ganze  jeder  Ort  völlig  gleichgültig,  und  ein  reales  Früher  oder 
Später  kann  sich  eben  nm*  auf  die  Theile  des  Entwicklungsganzen 
beziehen.  Mit  der  zeitlichen  Entfernung  verhält  es  sich  daher  ähn- 
lich wie  mit  der  räumlichen;  sie  hat  nur  zwischen  Realitäten  einen 
Sinn  und  ist  übrigens  ein  blosses  Wiederholungsbild  der  abstracten 
Phantasie.  "^y^ 

An  diese  allgemeineren  Verhältnisse  mussten  wir  erinnern,  ehe  ""^  "" 
wir  uns  demjenigen  Problem  zuwendeten,  bei  welchem  die  Charla- 
tanerie  mit  ihren  leichtfertigen  Oberflächlichkeiten  und  mit  ihren 
so  zu  sagen  wissenschaftlichen  Mystificationen  das  breiteste  Feld  zu 
behaupten  pflegt.  Die  entlegenen  Ursprungsperioden  des  pflanzlichen 
und  thierischen  Daseins  bieten  einer  naturphilosophischen  Halbpoesie 
viel  Verlockendes,  und  sehr  erhebliche  Bestandtheile  der  Darwin- 
schen Hypothesen  tragen  diese  dichtelnden  Züge  deutHch  genug  an 
der  Stirn.  Es  gehört  zu  den  Bizarrerien  der  Mode,  solche  Halb- 
wüchsigkeiten einer  beengten  und  sich  selbst  nicht  klaren  Imagina- 
tion eine  Zeit  lang  als  eigentliche  Wissenschaft  in  Umlauf  zu  setzen 
und  aus  Laune  hier  das  gelten  zu  lassen,  was  anderwärts  als  schlimmste 
Abweichung  von  dem  Wege  exacter  Forschung  angesehen  wird.  Wenn 
Lamarck  gelegentlich  die  Vorstellung  von  einem  einzigen  Urthier  als 
dem  einfachsten  Typus  aller  Animalität  gewagt  hat,  so  wollte  er 
hiemit  keineswegs  die  Abstammung  von  einem  einzigen  Individuum 
zum  Grundsatz  erhoben  wissen.  Die  sogenannte  Descendenztheorie, 
in  der  Darwinschen  Gestalt,  ist  aber  die  Voraussetzung  einer  durch 
Fortpflanzung  vermittelten  Verwandtschaft  aller  Wesen.  Die  Ent- 
wicklung des  Menschen  aus  dem  AJffen,  welche  Darwin  Anfangs 
nicht  so  deutlich  wie  in  seinen  späteren  Schriften  hervortreten  Hess, 
ist  nur  ein  besonderer  Fall  von  markirterem  Interesse  und  populärer 
Verständlichkeit,  übrigens  aber  nichts  Ungeheuerliches,  woran  der 
wissenschaftliche  Sinn  Anstoss  nehmen  könnte.  Was  dagegen  in  der 
Descendenztheorie  wirklich  verletzt,  ist  der  Mangel  an  Consequenz 
in  der  Rechenschaft  über  die  ursprünglichsten  Voraussetzungen.  So- 
lange sich  diese  Theorie  ein  gutes  Stück  diesseits  der  Anfangspunkte 


—     110     — 

der  auimalen  Entwicklung  hält,  erregen  selbst  ihre  Dichtungen  den 
Schein  erfahrungsmässiger  Wahrheit.  Sobald  sie  aber  an  die  ent- 
legenen Grenzen  gelangt,  wird  ihre  logische  Ohnmacht  vollkommen 
sichtbar.  Wie  viele  Stammabzweigungen  will  sie  eigentlich  an- 
nehmen? Soll  sich  das  Thier  aus  der  Pflanze  entwickelt  haben? 
Wo  findet  man  alsdann  das  Urwesen?  Ist  es  vielleicht  ein  chemi- 
scher Typus,  von  dem  die  Pflanze  abstammt?  Spielen  die  Krystalle 
vielleicht  in  der  allgemeinen  Descendenz  auch  eine  Rolle?  Sind  die 
chemischen  Grundstoffe  vielleicht  auch  nur  Abkömmlinge  einer  ein- 
zigen individuellen  Urmutter,  und  möchten  die  Darwinisten  als  dieses 
letzte  Urwesen  nicht  unsere  sich  selbst  gleiche  Materie  gelten  lassen? 
Man  sieht,  dass  der  Stammbaum  ziemlich  weit  reicht,  wenn  man 
sich  eine  ernsthafte  Consequenz  zur  Regel  macht;  aber  die  Genea- 
logie des  Engländers  Darwin  scheint  trotz  aller  vermeintlichen  Kühn- 
heit doch  ein  wenig  von  der  vulgären  Ueberlieferung  inficirt  zu  sein, 
durch  welche  man  den  Kindern  auch  eine  Abstammungstheorie  für 
das  ganze  Menschengeschlecht,  nämlich  diejenige  von  dem  ersten 
Juden  im  Paradiese  beizubringen  pflegt.  Dieser  Urjude,  der  so  sehr 
Alles  in  Allem  war,  dass  er  sogar  schon  sein  Weib  in  sich  trug,  ist 
von  dem  Uraffen  der  Darwinschen  Desceudenztheorie  nicht  so  überaus 
verschieden,  als  man  auf  den  ersten  Blick  anzunehmen  versucht  sein 
könnte.  Die  glückliche  Aeffin,  aus  deren  Schooss  sich  das  erste 
Menschenkind  entband,  und  der  noch  glücklichere  Vater,  welcher 
hart  auf  der  Grenze  zwischen  Affenthum  und  Menschenthum  existirte 
und  die  zweierlei  Naturen  in  sich  vereinigte,  geben  mindestens  eine 
ebensogute  Volkshypothese  ab,  wie  der  Urjude,  der  in  so  vielen 
wissenschaftlichen  Theorien  als  Einer,  der  nicht  leben  und  nicht 
sterben  kann,  und  als  ewiger  Spuk  sein  Wesen  treibt.  Wer  in  aller 
Welt  hat  denn  mit  einem  Male  die  sonst  nur  von  der  Superstition 
oder  von  der  hirnlosen  Gemüthlichkeit  einer  vermeintlichen  Philan- 
thropie behauptete  Tndividualeinheit  des  Menschengeschlechts  so  sicher 
verbürgt,  dass  die  Raisonnements  Darwinscher  Art  diese  Angelegen- 
heit schon  als  selbstverständlich  behandeln  dürften?  Es  ist  doch 
wahrlich  kein  Axiom,  dass  Alles,  was  sich  ähnlich  ist  oder  einen 
gemeinsamen  Typus  zeigt,  auch  individuell  von  einem  einzigen  Wesen 
abstammen  müsse.  Um  dies  annehmen  zu  können,  müsste  man  erst 
nachweisen,  dass  die  Natur  keine  andern  Mittel  kenne,  die  Ueber- 
einstinuuung  hervorzubringen,  als  den  Weg  der  Fortpflanzung  durch 
Vervielfältigung  der  schematischen  Eigenschaften  eiues  einzigen  in- 


—    111   — 

dividuellen  Körpers.  Sicherlich  ist  im  Universum  noch  irgendwo  eine 
Kugel  vorhanden,  auf  welcher  die  lebenden  Wesen  den  auf  unserm 
Planeten  befindhchen  nahezu  gleich  oder  wenigstens  äusserst  ähnlich 
sind.  Ueberdies  müssen  wir  annehmen,  dass  die  Structur  der  Ani- 
malität  auf  andern  Weltkörpern  den  Elementen  nach  dieselbe  ist, 
wie  bei  uns.  Welche  Ungeheuerlichkeit  von  Vorstellung  und  welcher 
Widersinn  würde  sich  nun  aber  nicht  ergeben,  wenn  man  die  kos- 
mische Gleichartigkeit  der  Wesen  zu  einer  für  das  Universum  gül- 
tigen Descendenztheorie  erweitern  wollte?  Dennoch  ist  der  Darwinsche 
Schluss  im  engeren  Gebiet  kein  anderer,  als  das,  was  für  kosmische 
Dimensionen  eine  Absurdität  sein  würde.  Unvermerkt  und  still- 
schweigend schiebt  sich  dem  Engländer  immer  die  Idee  unter,  dass 
eine  Uebereinstimmung  in  den  Eigenschaften  auf  gar  nichts  Anderem 
als  auf  einer  Abstammungsgemeinschaft  beruhen  könne.  Die  selb- 
ständige Nebenordnung  gleichartiger  Naturproductionen  ohne  Ab- 
stammungsvermittlung ist  für  ihn  gar  nicht  vorhanden,  und  er  muss 
daher  mit  seinen  rückwärts  gekehrten  Anschauungen  sofort  am  Ende 
sein,  wo  ihm  der  Faden  der  Zeugung  oder  sonstigen  Fortpflanzung 
abreisst.  Die  Auffassung  der  gesammten  Coordination  aller  Gattungen 
und  Arten  des  organischen  Bereichs  als  so  zu  sagen  der  Brut  eines 
einzigen  Wesens  ist  die  G rundeigen schaft  der  Abstammungslehre. 
Wenn  man  bei  der  Einschaltung  einiger  relativer  Urwesen  stehen 
bleibt,  so  ist  dies  nur  ein  empirisches  Haltmachen  und  ausserdem 
ein  Merkmal  der  Unsicherheit,  welche  der  Theorie  bei  der  Begegnung 
mit  der  logischen  Consequenz  anhaftet.  Darwin  selbst  nimmt  be- 
kanntlich an  jenem  äussersten  Gestade,  wo  seine  Imagination  zu 
stranden  droht,  echt  Englisch  seine  Zuflucht  zum  Herrgott,  von  dem 
er  sonst  in  ehrerbietiger  Feme  verblieben  ist.  Die  ersten  Acte  haben 
den  Macher  der  Welt  zum  Urheber;  alsdann  hat  die  Descendenz- 
maschine  gespielt,  und  es  würde  unenglisch  sein,  den  hohen  Herrn 
weiter  in  die  wissenschaftliche  Debatte  zu  ziehen.  Seine  Majestät 
wird  vor  lauter  constitutioneller  Ehrerbietung  in  der  Discussion  nicht 
genannt;  aber  sie  tliront  nicht  nur  über  den  Köpfen  des  von  der 
Kaste  der  WissenschaftspoHtiker  beschatteten  Volks,  sondern  auch 
über  dem  Abstammungstheoretiker  selbst  und  seinen  in  natürlicher 
Weise  rechtgläubigen  Genossen.  Sonst  nannte  man  eine  solche  Aus- 
kunft Deismus  und  hielt  nicht  viel  davon;  jetzt  aber  scheint  man 
sich  auch  in  dieser  Beziehung  rückwärts  entwickelt  zu  haben  und 
über    dem  Darwincultus    die    metaphysisch    beengte   Denkweise  des 


—     112     — 

zoologischen  Götzen  zu  übersehen.  Allerdings  giebt  es  eine  halb- 
materialistische Richtung  von  sehr  zweifelhaftem  philosophischen 
Werth,  welche  dem  Darwinismus  seine  specifisch  Englische  Beschränkt- 
heit und  seine  metaphysische  Unzulänglichkeit  abzustreifen  sucht. 
Sie  führt  den  Krieg  nicht  nur  gegen  die  religiöse  Volkssage,  son- 
dern glaubt  auch  wirklich  mit  dem  Darwinismus  eine  materialistische 
Welt-  und  Lebensanschauung  gewonnen  zu  haben.  Allein  sie  irrt 
sich  hierin;  denn  in  ihrem  Kerne  ist  die  Darwinsche  Denkweise 
nicht  minder  auf  Reaction  augelegt  als  der  Malthusianismus.  Hinter 
ihr  steckt  sogar  eine  verhaltene  Neigung  zu  mystischen  Vorstellun- 
gen, und  der  Umstand,  dass  jener  Wallace,  der  seine  Abhandlungen 
mit  allen  wesentlichen  Puukten  der  neuen  Theorie  noch  vor  Darwin 
zur  Journalpublication  einsendete,  ausgesprochener  Spiritist  im  Ame- 
rikanischen Sinne  und  Leugner  der  Materie  nach  Berkeleyscher  Art 
ist,  sollte  doch  über  den  logischen  Geist  der  ganzen  Lehre  bedenk- 
lich machen.  In  der  Englischen  Gestalt  ist  alles  Wahre,  was  La- 
marck  aufgestellt  hat,  in  der  That  mit  soviel  IiTthum  versetzt  wor- 
den, dass  man  sich  allenfalls  zum  Lamarckianismus,  aber  nicht  zum 
Darwinismus  bekennen  kann. 

5.  Um  allen  Zweifelhaffcigkeiten  zu  entgehen,  wollen  wir  die 
haltbaren  und  unhaltbaren  Vorstellungen,  die  jetzt  unter  der  Flagge 
des  Darwinismus  segeln,  im  Einzelnen  hervorheben.  Verwerflich  ist 
zunächst  der  Missbrauch,  der  mit  dem  imklaren  Begriff  der  Meta- 
morphose getrieben  wird.  Man  sollte  die  Verwandlungen  den  Ge- 
nossen Ovids  überlassen  und  sich  erinnern,  dass  da,  wo  der  wissen- 
schaftliche Begriff  einer  Umänderung  platzgreifen  soll,  ausser  der 
Identität  auch  die  Differenz  festgestellt  und  in  den  einzelnen  Ele- 
menten nachgewiesen  werden  muss.  Mag  man  es  mit  den  sogenannten 
Umwandlungen  der  mechanischen  Kraftformen  oder  mit  den  Art- 
abänderungen pflanzlicher  und  thierischer  Gebilde  zu  thun  haben, 
so  wird  man  sich  in  jedem  Fall  vor  wüsten  Metamorphosenconcep- 
tionen  wie  vor  einer  wissenschaftlichen  Pest  hüten  müssen.  Die 
Mährchendichtung  gehört  in  die  Kindheitsepoche  der  Völker,  und  wo 
sie  jetzt  sogar  in  der  Wissenschaft  Gnade  findet,  ist  dies  ein  Zeichen 
der  Greisenhaftigkeit,  der  manche  Gebilde  bereits  anheimgefallen 
sind.  Es  ist  ein  schlimmes  Anzeichen,  dass  der  unwissenschaftlichste 
der  neueren  Dichter,  nämlich  der  Autor  der  berüchtigten  unphysi- 
kalischen, aber  dafür  poetischen  Farbenlehre,  nicht  blos  an  dem  Be- 
griff, sondern  auch  an  dem  technischen  Ausdruck  Metamorphose  und 


—     113     — 

sogar  an  einem  Stückchen  Darwinismus  unleugbaren  Antheil  hat.; 
Trotz  der  Kleinigkeiten,  die  man  als  sogenannte  Entdeckungen 
hinterher  in  Goethes  naturkundlichen  Auslassungen  hervorsuchte,  ist 
nie  eine  Natur  und  Phantasie  so  wenig  auf  eigenthche  Wissenschaft 
und  so  sehr  auf  das  Widerspiel  derselben  angelegt  gewesen,  als  die- 
jenige des  Erfinders  der  dramatischen  Faustlyrik.  Dieses  Faustrecht, 
welches  die  reinen  Gattungen  durcheinandermengt,  so  dass  Fisch  und 
Fleisch  wirklich  zu  einem  chaotischen  Urbrei  vereinigt  werden,  sollte 
wenigstens  derjenigen  Kunst,  welche  von  der  Natur  in  der  Com- 
position  der  Arten  ausgeübt  worden  ist,  nicht  untergeschoben 
werden. 

Die  Umwandlung  hat  nur  da  einen  wissenschaftlichen  Sinn,  wo 
wir,  wie  bei  der  Umgestaltung  geometrischer  Gebilde,  das  Bewegungs- 
princip  durchschauen  und  innerhalb  der  Einheit  des  Begriffs  die 
quantitative  Entstehung  der  specifischen  Differenz  wahrnehmen.  Im 
Realen,  wo  wir  die  abändernde  Bewegung  nicht  durch  unsere  eignen 
Vorstellungen  vollziehen,  können  wir  nur  dadurch  zu  deuthchen 
Ideen  vom  Schaffen  der  Natur  gelangen,  dass  wir  intimer  in  die 
Zusammensetzungsart  der  Elemente  eindringen.  Möglichst  einfache 
Bestandtheile  sind  hier  das  Ziel  der  Forschung,  und  wo  wir  die  Um- 
wandlung nicht  durch  eine  Veränderung  der  Zusammensetzung  be- 
greifen, verstehen  wir  überhaupt  gar  nichts,  sondern  täuschen  uns 
nur  durch  den  Schein  einer  Ableitung.  Jede  Entwicklung  wird  daher 
auf  dem  Hervortreten  neuer  Elemente  beruhen,  und  die  niedern  Ent- 
wicklungsstufen werden  nur  begreiflich,  insoweit  sich  ihre  Elemente 
in  den  höhern  Formationen  wiederfinden.  Hätten  wir  nicht  an  uns 
selbst  und  in  uns  selbst  Gelegenheit,  die  Composition  des  vitalen 
Körpers  und  des  Empfindungsgebiets  in  der  grössten  Vollkommen- 
heit zu  studiren,  so  würde  uns  die  zerstreute  Mannichfaltigkeit  nie- 
derer Gebilde  als  befremdliche  Zufälligkeit  erscheinen  müssen.  So 
aber  haben  wir  mit  der  reichhaltigsten  Composition  auch  die  ein- 
zelnen Bestandtheile  zur  Verfügung  und  können  die  isolirte  Rolle 
dieser  elementaren  Theilexistenzen  auch  innerlich  einigermaassen  über- 
sehen. Umgekehrt  werfen  allerdings  die  elementaren  Selbständig- 
keiten auch  wiederum  ihr  Licht  auf  die  vollendetste  Composition- 
denn  es  ist  etwas  Anderes,  die  Bestandtheile  in  ihrem  isolirten  Ver- 
halten, —  und  wiederum  etwas  Anderes,  sie  in  einer  beschränken- 
den Zusammensetzung  beobachten.  Dennoch  bleiben  aber  schliesslich 
die  Beschaffenheiten  des  Menschen  der  Schlüssel  zum  Verständniss 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  8 


—     114     — 

der  ganzen  Animalität,  und  was  die  Thiergebilde  selbst  zum  Ver- 
ständniss  der  reichhaltigeren,  menschlichen  Composition  beitragen, 
kann  nur  ein  Ergebniss  zweiter  Ordnung  sein.  Die  nebelhaften  Ver- 
wandlungsideen sind  daher  mit  klaren  Compositionsvorstellungeu  zu 
vertauschen.  Nicht  ein  Ursprung  der  Arten,  sondern  die  Zusammen- 
setzung der  einfachsten  Gattungselemente  ist  das  rationelle  Problem. 
Wie  sich  die  Chemie  durch  die  Erkenntniss  der  Grundstoffe  und 
ihrer  Rolle  zur  Wissenschaft  erhoben  hat,  so  kann  auch  die  Zoologie 
nur  dadurch  in  einem  höheren  Grade  rationell  werden,  dass  sie  so- 
wohl in  der  äusserlichen  Körperlichkeit,  als  in  der  Sphäre  der  Em- 
pfindung die  typischen  Bestandtheile  aufsucht,  durch  deren  Anein- 
anderreihung und  Vereinigung  die  Entwicklungen  vollzogen  worden 
sind.     Nicht    Metamorphose    sondeni.  Coniposition_  mu  der 

Leiteride  Gesichtspunkt  der  auf  den  Hergang  des  Werdens  gerichteten 
Untersuchungen  sein. 

Man  ist  stolz  darauf,  die  starren  Schranken  des  Artbegriffs 
durch  die  geschmeidigen  Vorstellungen  von  den  Uebergängen  der 
Gebilde  ineinander  ersetzt  zu  haben.  So  unschuldig  nun  die  gene- 
tischen Ansichten  an  sich  selbst  auch  sein  mögen,  so  vermischen  sie 
sich  doch  leicht  mit  der  unhaltbaren  Imagination,  dass  die  Begriffe 
als  solche  auseinander  entspringen.  Dieser  dialektische  Widersinn 
hat  sein  Gegenstück  in  den  Schöpfungsarabesken  des  Darwinismus; 
denn  auch  der  letztere  producirt  seine  Verwandlungen  und  Differenzen 
aus  Nichts  und  befriedigt  sich  in  einem  Aneinanderschhngen  der 
organischen  Wesen,  ohne  irgend  eine  stichhaltige  Rechenschaft  von 
dem  Princip  zu  geben,  welches  die  Glieder  der  Kette  zusammen- 
halten soll.  Sein  innerliches  Hauptargument  ist  die  Entwicklung 
des  menschlichen  Embryo,  und  die  Compositionsphasen  desselben 
zeigen  auch  in  der  That  Spuren  verschiedener  thierischer  Forma- 
tionen. Ein  Analogon  der  Behaarung,  welches  wieder  verschwindet, 
soll  hier  auf  das  Affenstadium  der  menschlichen  Existenz  deuten. 
Indessen  folgt  aus  allen  solchen  Spuren  nichts  weiter,  als  dass  die 
verschiedenen  Arten  auf  einer  Composition  einfacher  animaler  Ele- 
mente beruhen,  aber  keineswegs  dass  diese  Composition  als  Abstam- 
mung zu  denken  sei.  Die  Vermittlung  durch  Abstanunung  dürfte 
im  Gegentheil  erst  ein  ganz  secundärer  Act  der  Natur  sein,  den  wir 
schon  darum  nicht  rückwärts  in  das  Schrankenlose  ausdehnen  kön- 
nen, weil  wir  sonst  eine  unendliche  Auzalil  von  Wiederholungen 
erhalten.     Lamarck    dachte   viel   natürlicher  als  Darwin,    indem  er 


—     115     — 

eine  Composition  voraussetzte,  die  mit  Zeugung  und  Abstam- 
mung in  dem  uns  geläufigen  Sinne  dieser  Wörter  nichts  zu  schaf- 
fen hat. 

6.  Die  von  Lamarck  hervorgehobene  Abäuderhchkeit  der  Arten 
ist  eine  annehmbare  Voraussetzung,  die  sich  sogar  mit  dem  Ein- 
treten eines  relativ  stationären  Verhaltens  vereinigen  lässt.  Die  an- 
nähernd stationäre  Dauerbarkeit  würde  alsdann  nur  ein  langsameres 
Tempo  der  Entvp^icklung  bedeuten  und  vielleicht  den  Uebergaug  zu 
einer  allmäligen  Rückbildung  vorstellen.  Das  Schicksal  einer  Form 
würde  auf  diese  Weise  nach  dem  Princip  der  stetigen  Häufung  von 
schaffenden  oder  vernichtenden  Veränderungen  erfüllt.  Mit  Recht 
hielt  sich  Lamarck  an  die  Lebensbedingungen,  wie  sie  durch  die 
umgebende  Natm*  dargeboten  oder  entzogen  werden.  Eine  eigent- 
liche Anpassung  an  solche  Lebensbedingungen  setzt  Antriebe  und 
Thätigkeiten  voraus,  die  sich  nach  Vorstellungen  bestimmen.  Andern- 
falls ist  die  Anpassung  nur  ein  Schein  und  die  alsdann  wirkende 
Causalität  erhebt  sich  nicht  über  die  niedern  Stufen  des  Physikali- 
schen, Chemischen  und  pflanzHch  Physiologischen.  Wie  thöricht 
würde  es  nicht  sein,  bei  dem  Mittönen  der  Saiten  von  einer  An- 
passung zu  reden,  und  dennoch  misshandelt  man  innerhalb  des  Dar- 
winismus in  diesem  Wort  nicht  nur  den  Geist  der  Sprache,  sondern 
auch  das  Recht  auf  unzweideutige  Begriffsfassung.  Wenn  wirklicli 
der  lange  Hals  der  Giraffe  durch  das  Auslangen  nach  den  Blättern 
hoher  Bäume  allmälig  entstanden  sein  sollte,  wie  Lamarck  voraus- 
setzt, so  ist  dies  allerdings  eine  Anpassung  an  die  Lebensbedingungen 
zu  nennen.  Wenn  aber  eine  Pflanze  in  ihrem  Wachsthum  den  Weg 
nimmt,  auf  welchem  sie  das  meiste  Licht  erhält,  so  ist  diese  Wir- 
kung des  Reizes  nichts  als  eine  Combination  physikalischer  Kräfte 
oder  chemischer  Agentien,  und  wenn  man  hier  nicht  metaphorisch 
sondern  eigentlich  von  einer  Anpassung  reden  will,  so  muss  dies  in 
die  Begriffe  eine  spiritistische  Verworrenheit  bringen. 

Ehe  sich  die  Abänderungen  durch  geschlechthche  Combination 
häufen  können,  müssen  sie  überhaupt  erst  entstanden  sein.  Der 
tiefere  Grund  der  Beschaffenheit  der  Gebilde  ist  mithin  in  den  Lebens- 
bedingungen und  kosmischen  Verhältnissen  zu  suchen,  während  die 
von  Darwin  betonte  Naturzüchtung  erst  in  zweiter  Linie  in  Frage 
kommen  kann.  Alle  Züchtung  beruht  auf  einer  Composition  gege- 
bener Elemente;  aber  woher  bieten  sich  diese  Elemente  dar?  Offen- 
bar ergeben   sie  sich  durch  Processe,   die  mit  der  geschlechtlichen 

8* 


—     116     — 

Auswahl  an  sich  selbst  nichts  zu  schaffen  haben.  Wenn  also  Darwin 
den  langen  Hals  der  Giraffe  durch  die  Abfolge  der  Generationen 
hindurch  aus  der  Vergesellschaftung  der  jedesmal  längsten  Hälse  ent- 
stehen lässt,  so  erklärt  er  hiemit  wohl  einigermaassen  die  quanti- 
tative Häufung  des  bereits  Vorhandenen;  aber  das  bewegende  Princip 
der  Verlängerung  selbst  wird  von  ihm  als  Nebensache  behandelt, 
während  doch  Lamarck  ein  volles  Recht  hatte,  es  als  die  Haupt- 
sache anzusehen.  Die  Darwinisten  mögen  durch  geschlechtliche 
Zuchtwahl  die  Hälse  noch  so  weit  ausrecken;  sie  werden  hiedurch 
die  Ideen  auf  den  Züchtungsprocess  fixiren,  aber  die  fixe  Idee,  die 
echt  Englisch  an  der  geschlechtlichen  Combination  haftet,  wird  da- 
durch nicht  fähig,  das  eigentliche  Bewegungsprincip  zu  ersetzen. 
Sie  verdeckt  es  eben  nur  in  den  künstlichen  Zuchtgebilden  ihrer 
Anhänger,  und  wenn  man  sich  auch  die  ganze  Erde  mit  Darwinisten 
bevölkert  dächte,  so  würde  doch  der  Typus  der  Logik  und  Wahrheit 
durch  die  langen  Hälse  dieser  Zuchtwahl  nur  in  secundärer  Weise 
beeinträchtigt,  aber  keineswegs  in  seinem  Bewegungsprincip  berührt 
sein.  Dieser  Typus  würde  sich  trotz  des  einseitigen  Ganges  der 
wissenschaftlichen  Züchtung  und  Zucht  wiederherstellen,  indem  die 
Abirrungen  von  demselben  der  Ungunst  der  eignen  Lebensbedin- 
gungen, auf  der  andererseits  die  Fortpflanzung  der  entgegenstehen- 
den Wahrheit  beruht,  schliesslich  erliegen  müssten.  Das  gestörte 
Gleichgewicht  der  Gedanken  würde  sich  trotz  der  beengtesten  Fixi- 
rung  von  Neuem  ausgleichen,  und  man  würde  endgültig  erkennen, 
dass  eine  grosse  Oberflächlichkeit  darin  liegt,  den  blossen  Act  ge- 
schlechtlicher Composition  von  Eigenschaften  zum  Fundamental- 
princip  der  Entstehung  dieser  Eigenschaften  zu  machen. 

Hätte  man  im  innem  Schematismus  der  Zeugung  irgend  ein 
Princip  der  selbständigen  Veränderungen  aufgesucht,  so  würde  diese 
Wendung  ganz  rationell  gewesen  sein;  denn  es  ist  ein  natürlicher 
Gedanke,  das  Princip  der  allgemeinen  Genesis  mit  dem  der  geschlecht- 
lichen Fortpflanzung  zu  einer  Einheit  zusammenzufassen,  und  die 
sogenannte  Urzeugung  aus  einem  höhern  Gesichtspunkt  nicht  als 
absoluten  Gegensatz  der  Reproductioü ,  sondern  eben  als  eine  Pro- 
duction  anzusehen.  Die  letztere  könnte  immerhin  mit  analogen 
Zügen  ausgestattet  gedacht  werden;  denn  endgültig  muss  man  einer- 
seits ursprüngliche  Elemente  und  andererseits  eine  Compositionsart 
derselben  annehmen.  Wenn  nun  diejenige  Composition,  die  wir  in 
der  gewöhnlichen  Fortpflanzung  erkennen,  zugleich  eine  selbständige 


—    117    — 

Thätigkeit  uud  Entwicklung  der  Elemente  zu  den  verschiedenen 
Stufen  des  Lebens  einschliesst,  so  ist  das  lebenschaffende  Princip 
heute  nicht  minder  thätig  als  in  seinen  ursprünglichen  Leistungen. 
Man  darf  also  in  der  geschlechtlichen  Reproduction  auch  eine  Neu- 
production  voraussetzen,  deren  Erfolge  sich  allmälig  häufen  und  eine 
Fortsetzung  der  ursprünglichen  Gestalfcungshergänge  vorstellen.  Diese 
Annahme  wäre  aber  das  grade  Gegentheil  des  Darwinismus;  denn 
sie  würde  mit  der  ausschliesslichen  Herrschaft  der  Ansicht  in  Con- 
flict  gerathen,  dass  die  Natur  einzig  und  allein  wie  ein  Züchter  ver- 
fahre, der  durch  grundsätzliche  Paarung  bestimmter  Abänderungs- 
gebilde seine  Ideale  von  Nützlichkeit  ins  Leben  führt. 

Die  arme  Natur  muss  aber  nach  den  Gesetzen,  die  ihr  Darwin 
gegeben  hat,  sogar  noch  hinter  dem  phmipesten  Züchter  zurück- 
bleiben; denn  ihr  einziges  Mittel,  durch  welches  sie  die  Auserwähl- 
ten von  den  Verworfenen  scheidet  und  die  Combinationen  regelt,  ist 
der  Kampf  um  das  Dasein.  Die  Natur  ist  echt  Englisch  ein  Con- 
currenzinstitut,  in  welchem  die  Ausrüstung  mit  grössern  Capitalien 
und  Kriegsmitteln  entscheidet.  Es  ist  weniger  die  schaffende  als  die 
vernichtende  Kraft  der  Productionswerkzeuge,  denen  die  Naturwesen 
ihre  Triumphe  verdanken.  Den  Concurrenten  aus  dem  Felde  schlagen 
und  das  eigne  Leben  auf  die  Vernichtung  alles  andern  Daseins  bauen, 
sowie  die  eigne  Brut  ins  Unbeschränkte  über  die  Erde  ausdehnen, 
—  in  dieser  Denkweise  und  Kunst  möchten  die  Engländer  bis  jetzt 
nur  einen  einzigen,  mit  ihnen  vergleichbaren  Concurrenten  haben, 
nämlich  den  ewigen  und  allgegenwärtigen  Juden.  Mögen  sie  sich 
daher  mit  ihm  vereinigen,  um  die  Theorie  vom  Kampfe  um  das  Da- 
sein eine  Zeit  lang  zu  verherrhchen  und  um  die  Züchtung  dieser 
Theorie  mit  dem  gehörigen  Nachdruck  zu  betreiben.  Es  werden  die 
Untersuchungen,  die  sich  von  anderer  Seite  und  in  einer  andern 
Richtung  an  die  Raceneigenschaften  knüpfen  müssen,  schHessHch  zu 
einem  Ausgang  führen,  der  die  Brutalität  der  ganzen  Lieblingslehre 
dahin  kehren  dürfte,  wohin  sie  gehört.  Unseres  Erachtens  ist  der 
specifische  Darwinismus,  wovon  natürlich  die  Lamarckschen  Auf- 
stellungen auszunehmen  sind,  ein  Stück  gegen  die  Humanität  ge- 
kehrte Brutalität.  Dieser  Vorwurf  kann  nun  freiHch  nicht  über- 
raschen, wenn  man  bedenkt,  wie  nahe  es  für  einen  Zoologen,  der 
zugleich  Affectionen  für  einen  Malthus  hat,  liegen  muss,  im  Gebiete 
der  Bestien  die  Gesetze  und  das  Verständniss  aller  Naturaction  zu 
suchen.   Die  wissenschaftliche  Dürre  dieser  Sphäre,  die  sich  vor  La- 


7  n<tf*f/t; 

—     118     — 

marck  fast  mit  blossen  Classificationen  behelfen  musste,  konnte  eben- 
falls dazu  verleiten,  die  wenigen  genetischen  Aufschlüsse,  die  ge- 
wonnen waren,  zu  überschätzen  und  vermittelst  der  halb  poetischen, 
halb  brutalen  Kampftheorie  eine  anregende  Ausschmückung  vor- 
nehmen zu  wollen. 

7.  Die  unwissenschaftliche  Halbpoesie,  in  welcher  der  Kampf 
um  das  Dasein  von  Darwin  auch  auf  die  passive  und  bewusstlose 
Pflanze  sowie  auf  die  unwillkürlichen  und  völlig  unabsichtlichen  Acte 
der  animalischen  Wesen  übertragen  wurde,  musste  die  echten  Grenzen 
jenes  Begriffs  fälschen.  Man  mag  in  solchen  Fällen  von  einem 
Mangel  der  Existenzbedingungen  und  von  mechanischen  Wirkungen 
der  Umstände  reden ;  aber  man  muss  sich  hüten,  aus  einer  Metapher 
oder  Allegorie  eine  eigentliche  Wahrheit  von  exactem  Sinn  machen 
zu  wollen.  Solche  übel  angebrachte  poetische  Redeweise  kann  nur 
dazu  dieuen,  die  Begriffe  zu  verdunkeln  und  den  Schein  einer  theo- 
retischen Einheit  zu  erregen,  die  in  der  That  nicht  vorhanden  ist. 
Ein  wirklicher  Kampf  um  das  Dasein  setzt  bewusste  Triebe  voraus, 
in  denen  sich  die  Wesen  nicht  nur  feindlich  begegnen,  sondern  auch 
wissentlich  darauf  ausgehen,  das  eigne  Leben  auf  die  Vernichtung 
oder  Hinderung  des  andern  zu  gründen.  In  diesem  genau  bestimm- 
ten Siuue  ist  nun  der  Kampf  um  das  Dasein  innerhalb  der  Bestia- 
lität insoweit  vertreten,  als  die  Emähruug  durch  Raub  und  Ver- 
nichtung erfolgt.  Bekanntlich  würde  aber  auch  hier  die  Auslegung 
der  Raubgier  durch  die  Anforderungen  des  Kampfes  um  das  Dasein 
sehr  unzulänglich  bleiben ;  denn  eigentlicher  Blutdurst  und  Mordgier 
sind  zwei  verschiedene  Dinge.  Der  Kitzel,  der  durch  das  sonst  zweck- 
lose massenhafte  Morden  bei  manchen  Raubthieren  befi'iedigt  zu  wer- 
den scheint,  hat  mit  den  Existenzbedingungen  nichts  zu  schaffen, 
sondern  ist  im  Gegentheil  dazu  geeignet,  den  künftigen  Vorrath  zu 
beeinträchtigen.  Was  aber  die  Concurrenz  zwischen  gleichartigen 
Wesen  betrifft,  so  strebt  ein  jedes  nach  Selbsterhaltung,  und  wenn 
es  sich  hiebei  nicht  um  das  andere  kümmert  und  unter  Umständen 
mit  demselben  in  Conflict  geräth,  so  bleibt  dieser  Hergang  doch 
ohne  jenes  raffinirte  Bewusstsein,  welches  uns  ein  ähnliches  Verhält- 
niss  bei  dem  höher  entwickelten  Menschen  so  verworfen  erscheinen 
lässt.  Solange  nur  die  Naturroechanik  unmittelbarer  Triebe  und 
Leidenschaften  im  Spiele  ist,  können  die  Conflicte,  die  sich  aus  den 
Umständen  ergeben,  nie  so  widerwärtig  werden,  als  wenn  sie  von 
dem  Bewusstsein  oder  sogar  von  der  berechnenden  Ueberlegung  be- 


.;,..r  ^trf^Jt-^  Cw^M-^i^. 


—     119     — 

gleitet  werden,   dass   es   sich   um   eine  Vermehrung  des  eignen  auf 
Kosten  des  fremden  Daseins  handle. 

Mit  einer  Art  Heiligenschein  sucht  sich  die  Darwinsche  Kampf- 
theorie dadurch  zu  umgeben,  dass  sie  in  einem  sehr  wesentlichen 
Punkte  vom  Malthusianismus  abweicht.  Während  der  letztere  in 
dem  Gedränge  der  Bevölkerung  nur  eine  Ursache  des  Uebels  sieht 
und  in  der  Zukunft  nur  die  immer  grössere  Häufung  der  gesellschaft- 
lichen Missverhältnisse,  also  das  Wachsen  von  Armuth,  Elend  und 
Verunstaltung  voraussetzt,  hat  Darwin  bekanntlich  seine  Fortschritts- 
und Vervollkommnungstheorie  grade  auf  den  Kampf  um  das  Dasein 
gebaut.  Wer  am  besten  für  diesen  Kampf  ausgestattet  ist,  wird  den 
minder  gut  Gerüsteten  aus  dem  Leben  ausmerzen.  Die  Erzwingung 
der  geschlechtlichen  Combinationen  spielt  auch  hier  eine  Hauptrolle ; 
nur  dass  sie  unter  dem  Einfluss  der  Englischen  Prüderie  mit  etwas 
obligater  Verschämtheit  eingeführt  wird.  Der  Kampf  der  Gorillas 
um  den  Besitz  ihrer  Weibchen  mag  allerdings  von  einem  modern 
ritterlichen  Duell  nicht  so  überaus  verschieden  sein,  wenigstens  was 
die  Hauptsache  betrifft.  Im  Gegentheil  möchte  die  Bestiahtät  der 
naturwüchsigen  Form  manche  Vorzüge  haben;  denn  einerseits  fällt 
dort  die  Verschrobenheit  eines  verzerrten  Duellcomments  fort,  und 
andererseits  dürften  die  Gorillaweibchen  nicht  ganz  so  passive  Exi- 
stenzen sein,  wie  die  herrlichen  Culturentwicklungen  der  Mustertypen 
der  weiblichen  Sklaven  der  Species  Mensch.  Indessen  erinnert  doch 
grade  das  Gorillabeispiel  daran ,  dass  die  unschönen  langen  Arme 
nait  ihrer  gewaltigen  Muskelaction  und  wuchtigen  Hämmerkraft  in 
solchen  Fällen  den  Fortschritt  repräsentiren  und  an  der  Spitze  der 
Civilisation  die  Vorhut  bilden.  Die  durch  Züchtung  vermittelte 
Cultur  wird  daher  den  gröbsten  Eigenschaften  unter  Umständen  am 
günstigsten  sein,  und  wenn  auch  immerhin  das  Gehirn  eine  Waffe 
ist,  durch  welche  alle  andern  Kriegsmittel  verstärkt  werden,  so 
möchten  doch  plumpe  Kraft,  raffinirte  List  und  ausgeprägte  Bosheit 
die  überwiegenden  Chancen  haben,  sobald  es  sich  um  Feindseligkeiten 
als  Grundform  der  Existenzvermittlung  handeln  soll.  Nun  läuft  auch 
in  der  That  die  gewaltsame  Züchtung,  insoweit  sie  in  dieser  Rich- 
tung wirkhch  Einfluss  hat,  auf  die  Vererbung  und  Steigerung  der- 
jenigen Eigenschaften  hinaus,  die  mit  dem  Faustrecht  und  seiner 
dienstbaren  Ergänzung,  dem  Spiel  der  Hinterlist,  am  besten  zu- 
sammenstimmen. Je  mehr  irgendwo  das  feindliche  Verhalten  und 
der  eigentliche   Krieg  zur  vorherrschenden  Grundgestalt   der  Bezie- 


—     120    — 

hungen  werden  und  die  positiven  Antriebe  zur  Cultur  und  Entwick- 
lung verdrängen,  wachsen  auch  die  Chancen  derjenigen  Brut,  in 
welcher  sich  die  gehässigen  und  verworfenen  Eigenschaften  der  Spe- 
cies  Mensch  concentriren.  Ja  es  wii'd  eine  solche  Brut  mit  ausge- 
prägten Eigenschaften  erst  recht  eigentUch  gezüchtet,  so  dass  man 
behaupten  darf,  es  seien  die  schlimmen  Elemente  auf  Kosten  der 
bessern  durch  solche  Verhältnisse  zum  überwuchernden  Dasein  ge- 
langt. Was  gelten  Schönheit  und  edle  Gestaltung  vor  jenem  Me- 
chanismus der  Geschichte,  durch  welchen  das  vollendetste  Ebenmaass 
zerschmettert  und  kaum  eine  lückenhafte  Erinnerung  daran  übrig 
gelassen  wird?  Die  vorzüglichsten  Gebilde  sind  nicht  blos  in  der 
äussersten  Minderheit,  sondern  können  oft  sogar  als  Einzigkeiten 
betrachtet  werden,  die  von  dem  breiten  Strome  roher  und  gemeiner 
Elemente  überfluthet  und  für  immer  ertränkt  werden.  Die  gelun- 
gensten Kunstwerke  der  Natur,  die  vollendetsten  Muster  des  edelsten 
Menschentypus,  die  herrlichsten  Verkörperungen  geistiger  Hannonie, 
—  dies  Alles,  was  so  selten  producirt  wird,  fallt  so  oft  der  gemein- 
sten Zerquetschung  des  Daseins  anheim.  Wo  der  Kampf  vorherrscht, 
da  entscheiden  natürlich  die  Kriegsmittel,  aber  nicht  diejenigen  Eigen- 
schaften, welche  unmittelbar  der  positiven  Lebensbethätigung  und 
der  Hervorbringung  edler  Formen  günstig  sind.  Falls  man  nicht 
etwa  die  Unverachämtheit  besitzt,  zu  behaupten,  dass  die  fär  den 
Zustand  der  Feindschaft  und  der  gegenseitigen  Vernichtung  am  besten 
dienstbaren  Eigenschaften  dieselben  seien,  aus  denen  sich  das  positive 
Ideal  der  Gattung  zusammensetzt,  so  wird  man  wohl  auch  auf  jeden 
sophistischen  Schein  zu  Gunsten  der  besondern  Darwinschen  Art  von 
Naturzüchtung  verzichten  müssen. 

Um  jedoch  jede  erdenkbare  Zuflucht,  an  die  sich  die  Einseitig- 
keiten der  Kampftheorie  klammem  möchten,  im  Voraus  abzuschnei- 
den, mag  hier  eine  Ueberlsgung  Platz  finden,  auf  die  man  im  Be- 
reich des  ganzen  Darwinismus  wohl  noch  nicht  gekommen  sein 
dürfte.  Es  könnte  nämlich  scheinen,  dass  in  der  Brutalisirung  der 
Zustände  durch  die  erzwungenen  geschlechtlichen  Combiuationen 
wenigstens  die  weibliche  Schönheit  in  ihrer  Passivität  einige  Chancen 
guter  Züchtung  habe.  Die  Geschlechtsreize  kommen  unter  den  frag- 
lichen Voraussetzungen  nur  einseitig  in  das  Spiel.  Wenn  Völker 
oder  Einzelne,  wenn  also  die  nationalen  Raubzüge  oder  Privatmacht 
und  Privatlist  über  die  Aneignung  von  Futter  für  den  Geschlechts- 
hunger der  männlichen  Kämpfer  ums   Dasein   entscheiden,   so  fällt 


—    121     — 

die  weibliche  Hälfte  der  Species  dem  andern  Theil  gleichsam  wie 
eine  Beute  zu,  und  es  ist  offenbar,  dass  sich  die  geschlechtliche 
Zuchtwahl  in  diesem  Fall  fast  ausschliesslich  nach  den  Affectionen 
der  Männer  richten  wird.  Man  könnte  nun  hieraus  folgern  wollen, 
dass  sich  hiedurch  unter  dem  weiblichen  Geschlecht  eine  Auswahl 
und  Aussonderung  von  grosser  Tragweite  vollziehen  müsste.  Man 
könnte  annehmen,  dass  wenigstens  in  dieser  Richtung  die  Schönheit, 
ja  vielleicht  überhaupt  das  Bessere  eine  Chance  der  bevorzugten  Con- 
servirung  hätte.  Indessen  würde  diese  einseitige  Auswahl,  selbst 
wenn  sie,  was  nicht  der  Fall  sein  kann,  in  jeder  Beziehung  das 
Richtige  träfe,  dennoch  nicht  viel  helfen,  da  die  in  dem  weiblichen 
Theil  veredelte  Race  immer  wieder  durch  die  im  entgegengesetzten 
Sinne  entwickelten  und  principiell  übel  gerathenden  Männcheugebilde 
verdorben  werden  würde.  Man  wende  nicht  ein,  dass  dem  weib- 
lichen Geschlecht  auf  den  hohem  Culturstufen  auch  einige  indirecte 
Activität  zufalle.  Dieser  Umstand  kann  unter  den  vorausgesetzten 
Verhältnissen  eines  vorherrschenden  Beraubungskampfes  nichts  helfen; 
denn  eine  Wahl  ist  überflüssig,  wo  die  maassgebende  Zucht  an  Män- 
nern, die  mit  allen  Vortheilen  des  Lebens  ausgestattet  ist,  durch- 
gängig eine  Verkörperung  der  roheren  Bestandtheile  der  mensch- 
lichen Natur  und  etwas  Raubthierartiges  geworden  ist. 

8.  Nach  Lamarck  ist  die  Art  eine  Häufung  von  Variationen; 
nach  Darwin  beruht  die  ausgeprägte  Differenz  ihrer  Form  auf  einer 
Ausmerzung  der  Zwischengebilde,  welche  früher  die  Stetigkeit  der 
allseitigen  Veränderlichkeit  bekundeten.  So  soll  der  Abstand  zwi- 
schen Nationalitäten  dadurch  grösser  werden,  dass  gewisse  Ueber- 
gangsgebilde  dem  Kampf  um  das  Dasein  erliegen,  oder  dass  die 
zurückgebliebenen  Zwischengebilde  nur  als  Winkelvölker  mit  kleiner 
Bevölkerung  und  kleinem  Gebiet  von  Gnaden  der  Eifersucht  ihrer 
grossen  Nachbarn  eine  Zeit  lang  ein  geduldetes  Dasein  führen.  Da, 
wo  der  Kampfzustand  die  Vorbedingung  des  Lebens  ist,  könnte 
jener  Schluss  insoweit  richtig  sein,  als  nicht  die  Verschmelzungen 
und  gegenseitigen  Ausgleichungen  der  Eigenschaften  in  Frage  kom- 
men. Man  hat  auch  die  Entstehung  und  die  Schicksale  der  Sprachen 
Darwinistisch  behandeln  wollen ;  aber  grade  hier  zeigt  sich  am  besten, 
wie  die  ursprünglichen  Differenzen  und  bis  zur  individuellen  Verein- 
zelung ausgreifenden  Mannichfaltigkeiten  eines  früheren  Stadiums 
hinterher  durch  allgemeinere  Formen  ersetzt  werden  und  so  eine 
consolidirende  Ausgleichung  erfahren.    Sicherlich  hat  man  ein  Recht, 


\u£i       

bei  der  Sprache  das  Allmäligkeitsprincip  anzuwenden  und  sie  aus 
einem  Anfangszustande  abzuleiten,  der  auf  die  Kundgebungen  von 
thierischen  Lauten  beschränkt  war.  Uebrigens  dürfte  aber  kein  Ge- 
biet geeigneter  sein,  die  Wichtigkeit  der  positiven  Verkehi*sgemein- 
schaft  und  der  die  Gesellschaft  sympathisch  verbindenden  Antriebe 
darzulegen,  als  das  der  Sprachbildung.  Auch  die  Lehre  von  der 
Vererbung  der  Fähigkeiten  und  der  sogenannten  Instincte  dürfte  sich 
hier  am  leichtesten  in  ihre  natürlichen  Schranken  weisen  lassen. 

Mit  Recht  spielt  die  Erblichkeit  der  Anlagen  in  jeder  ernst- 
hafteren Theorie  der  Fortpflanzung  im  Allgemeinen  eine  grosse  Rolle ; 
aber  die  Einzelheiten,  auf  deren  Kenntniss  es  am  meisten  ankäme, 
sind  bis  jetzt  noch  in  einem  dichten  Dunkel  verblieben.  Nicht  ein- 
mal ein  specielles  Princip  ist  in  dieser  Richtung  bis  jetzt  ausgemacht 
worden.  Obwohl  es  keinem  Zweifel  unterworfen  ist,  dass  die  körper- 
lichen Beschaffenheiten  und  geistigen  Eigenschaften,  soweit  sie  durch 
die  blosse  Structur  der  Organe  bei  der  Geburt  gegeben  sein  können, 
wirklich  vererbbar  sind,  so  bleibt  doch  die  Noth wendigkeit  des  wirk- 
lichen Eintritts  der  speciellen  Vorbedingungen  einer  solchen  Ver- 
erbung eine  offene  Frage.  Weit  interessanter,  als  die  positive  Ueber- 
tragung,  ist  die  Zerstörung  oder  wenigstens  der  Ausfall  vieler  Eigen- 
schaften in  der  geschlechtlichen  Fortsetzung  der  Individuen.  Da  die 
Manier,  in  welcher  Darwin  mit  der  Vererbung  operirt,  fast  ausschliesslich 
der  Anschauungsweise  der  Züchter  abgeborgt  ist,  und  da  diese  letz- 
teren natürlich  vorzugsweise  die  positiven  Ergebnisse  im  Auge  be- 
halten müssen,  so  haben  die  negativen  Wirkungen  der  geschlecht- 
lichen Combination  selbstverständlich  keine  Berücksichtigung  erfahren. 
Jedoch  wird  man  nicht  eher  einen  tiefern  Blick  in  das  Wesen  der 
geschlechtlichen  Entwicklung  thun,  als  bis  man  dem,  was  in  der 
Combination  unterdrückt  wird,  die  gleiche  Aufmerksamkeit  widmet, 
wie  dem,  was  sich  an  Aehnlichkeiten  reproducirt.  Die  Vielgestaltig- 
keit der  zahlreichen  Saamenelemente,  der  andererseits  wiederum  eine 
Mannichfaltigkeit  der  Eibildungen  entspricht,  ist  von  weit  grösserer 
Bedeutung,  als  eine  völlige  üebereinstimmung  sein  könnte.  Wer 
streng  davon  ausginge,  dass  die  Fortpflanzung  immer  das  Gleiche 
reproducirte ,  würde  auf  das  Veränderungselemeut  und  mithin  auf 
eigentliche  Entwicklung  verzichten  müssen.  Eine  verschiedene 
Mischung  vermöge  der  Doppelheit  der  Individuen  würde  die  einzige, 
alsdann  übrig  bleibende  Variation  st;in.  Nun  ist  aber  mit  der  grössten 
Wahrscheinlichkeit,  im   wissenschaftlichen  Sinne  dieses  Worts,   an- 


^V^^M*-,.-  /V.v^-Vtf. .      _     123     — 

zunehmen,  dass  schon  die  elementaren  Gebilde,  in  denen  das  künftige 
Wesen  präformirt  ist,  bei  jedem  Individuum  in  sehr  verschiedenen 
Schematismen  auftreten  und  innerhalb  einer  schwer  bestimmbaren, 
aber  doch  weit  gezogenen  Grenze  eine  Welt  von  Individualtypen 
enthalten.  Das  höhere  Problem  bestände  also  für  das  Verständniss 
der  Fortpflanzung  darin,  nicht  die  Identitäten,  sondern  die  Diffe- 
renzen und  zwar  unabhängig  von  dem  Antheil  der  blossen  Mischung 
zu  erklären.  Wenn  jemals  das  eigentlich  Schöpferische  in  der  Ent- 
wicklung begriffen  werden  soll,  so  muss  ausser  der  Fixirung,  welche 
die  erworbenen  Eigenschaften  in  Vererbungsanlagen  erfahren,  auch 
jener  entlegenere  Hergang  aufgedeckt  werden,  vermöge  dessen  ein 
inneres  und  selbständiges  Princip  der  Veränderung  die  gleichzeitige 
Mannichfaltigl?:eit  der  in  demselben  Individuum  gegebenen  Elementar- 
gebilde der  Zeugung  oder  Fruchtbarkeit  hervorzubringen  vermag. 
Allem  Ansehein  nach  ist  die  Verschiedenheit  der  Composition  inner- 
halb desselben  individuellen  Organismus  bereits  ein  Grund  für  diffe- 
rente  Saamenbildung;  denn  wenn  die  einzelnen  Bestandstücke  in 
selbständiger  Weise  ihre  Antheile  zu  der  Saamen-  oder  Eibildung 
liefern,  so  muss  ein  bedeutender  Spielraum  in  der  Art  der  Zusammen- 
setzung entstehen.  Auch  wäre  es  durchaus  keine  wissenschaftliche 
Ungeheuerlichkeit,  hiebei  an  einen  ähnlichen  Vorgang  zu  denken, 
wie  er  ursprünglich  dem  Werden  der  verschiedenen  Generationen  zu 
Grunde  gelegen  haben  muss.  Warum  sollte  der  Saame  nicht  eine 
so  zu  sagen  historische  Seite  haben  und  in  der  Mannichfaltigkeit 
seiner  Elemente  eine  Menge  von  Formen  darstellen,  die  mit  der  Ver- 
gangenheit und  der  allmäligen  Productionsart  des  jetzt  vorhandenen 
Individuum  in  Beziehung  stehen.  Selbstverständlich  müsste  jedes 
Saamenelement  für  sich  das  besondere  Schema  eines  künftigen  Wesens 
darstellen;  aber  die  Variationen  solcher  Schemata  würden  in  der 
Vielheit  solcher  Elemente  zu  suchen  sein. 

Nun  liegt  freihch  das  Verständniss  für  eine  erbliche  Fixirung 
der  im  Laufe  der  Entwicklung  erworbenen  Eigenschaften  weit  näher, 
als  irgend  welche  Voraussetzung  über  das  innere  Princip  der  diffe- 
renten  Chancen,  die  bei  dem  Einzeluen  vor  aller  geschlechtlichen 
Combination  für  die  Möglichkeit  einer  mannichfaltigen  Ausprägung 
von  Individualcharakteren  vorgebildet  werden.  Aus  diesem  Grunde 
hat  sich  der  Darwinismus  jener  offenliegenden  Fixirungen  bemächtigt, 
um  die  sogenannten  Instincte  in  eine  historische  Composition  all- 
mälig    erworbener  Eigenschaften  aufzulösen.     Wäre  er  hierin   voll- 


."^Kri^Jfl.,   .  1.  124        — 


kommen  consequent  gewesen,  so  würde  er  überhaupt  die  dunkeln 
Vorstellungen  von  räthselhaften  Natuiinstincten  über  Bord  geworfen 
haben.  Statt  dessen  hat  eben  Darwin  mit  den  Instincten  so  operirt, 
als  wenn  es  ausser  den  bekannten  Trieben,  die  wir  in  ihre  Elemente 
zerlegen  und  stets  in  irgend  einem  Analogon  an  ims  selbst  auch 
subjectiv  studiren  können,  noch  eine  zweite,  dunkle  Gattung  von 
Anregungen  der  Thätigkeit  geben  müsste.  Er  hat  die  alte  Ueber- 
lieferuug  von  Instincten  überhaupt  beibehalten  und  sich  darauf  be- 
schränkt, sie  zum  Theil  als  etwas  Gewordenes  anzusehen.  Daneben 
ist  aber  der  alte  Zwitterbegriff  von  einer  Fähigkeit,  die  weder  Ver- 
stand noch  Trieb  und  auch  kein  Zusammenwirken  von  beiden,  son- 
dern eine  eigenartige,  halb  mystisch  gedachte  Function  sein  soll, 
ruhig  stehen  geblieben,  und  dieses  Misch-  und  Missgebilde  einer 
voreiligen,  eben  nur  die  Unwissenheit  verkörpernden  Imagination 
zeugt  noch  mehr,  als  die  gröberen  Beengtheiten  der  fraglichen  Denk- 
weise, von  dem  Mangel  einer  tieferen,  echt  philosophischen  Durch- 
dringung der  subjectiven  Gesetze  der  Naturaction.  Man  könnte  das 
Wort  Instinct  mit  der  zugehörigen  täuschenden  Vorstellung  getrost 
aus  der  gesammten  Wissenschaft  streichen  und  überall  da,  wo  man 
sonst  von  Instincten  redet,  die  ganz  gewöhnliche  Triebform  mit  eben 
so  gewöhnlichem  Verstände  voraussetzen,  ohne  irgend  etwas  für  die 
wirkhche  Einsicht  einzubüssen.  Im  Gegentheil  würde  man,  wenn 
man  z.  B.  die  sogenannten  Kunsttriebe  der  Thiere  auf  einfache  Ver- 
standesoperationen nach  Analogie  der  unsrigen  zurückführte  und 
hiebei  als  Gnmdlage  nur  solche  Triebe  wirken  Hesse,  die  auch  uns 
subjectiv  aus  unserm  eignen  Innern  als  blosse  Triebe  verständlich 
sind,  radical  und  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  bis  an  die  Wurzel 
mit  den  instinctiven  Nebelhaftigkeiten  aufräumen. 

9.  Wir  haben  in  dem  Bisherigen  die  Schwächen  biosgelegt, 
welche  dem  specifischen  Darwinismus  im  Unterschiede  von  den  bes- 
sern Elementen  der  neusten  Denkweise,  nämlich  im  Gegensatz  zu 
den  annehmbaren  Lamarckschen  Vorstellungen  anhaften.  Es  hat  sich 
hiebei  gezeigt,  dass  eine  durch  den  Kampf  um  das  Dasein  vermittelte 
Züchtung  die  einzige  Eigenthümlichkeit  ist,  durch  welche  sich  die 
breiten,  unbehülfUchen  und  bis  zur  Langen  weile  ermüdenden  Aus- 
fiihnmgen  der  Darwinschen  Schriften  principiell  von  den  Lamarck- 
schen Grundlagen  unterscheiden.  Es  steht  ferner  fest,  dass  diese 
Eigenthümlichkeit  in  ihrer  einen  Hälfte,  nämlich  in  Rücksicht  auf 
den  Kampf  um  das  Dasein,   nichts  als  eine  Verallgemeinerung  der 


—     125     — 

falschen  Malthusschen  Theorie  von  dem  Gedränge  der  Bevölkerung 
nnd  von  der  Ausgleichung  der  schwierigen  Yerhältnisse  durch  gegen- 
seitige Vernichtung  ist.  In  der  andern  Hälfte,  nämlich  insofern  es 
sich  um  die  Häufung  und  Steigerung  von  Eigenschaften  durch  Ver- 
erbung handelt,  ist  die  Weisheit  des  Züchters  die  einzige  Mitgift, 
deren  sich  der  Engländer  Darwin  in  hohem  Grade  rühmen  kann. 
So  wäre  denn  der  ganze  Kreis  von  Ansichten,  der  in  der  gegen- 
wärtigen Modesaison  des  animalischen  Wissens  von  Thier  und  Mensch 
ein  so  breites  Gebiet  in  Anspruch  nimmt,  in  unterscheidbare  Theile 
von  sehr  abweichendem  Werth  zerlegt,  und  es  könnte  hiedurch  be- 
sonders denjenigen  Mystificationen  ein  wenig  gesteuert  werden,  die 
durch  die  Vermischung  des  Wahren  mit  dem  Falschen  ihren  ver- 
führerischen Reiz  entwickeln.  Indessen  wird  man  wohl  auf  die  Ueber- 
sättigung  mit  der  Darwinistischen  Manier  warten  müssen,  ehe  der 
übrigens  unausweichliche  Rückschlag  eintritt.  Vorläufig  zieht  der 
specifische  Darwinismus  seine  Glorie  aus  einer  Gattung  von  Angrei- 
fem, die  unmittelbar  oder  mittelbar  auf  priesterlichen  oder  überhaupt 
religiösen  Voraussetzungen  fusst  und  die  Abstammung  des  Menschen 
vom  Affen  mit  ihren  jüdischen  Mythen  nicht  zusammenreimen  will. 
Diese  Verfechter  der  religiösen  Fabeln  finden  es  grausam,  dass  der 
nach  dem  Ebenbilde  ihres  Gottes  geschaffene  Mensch  ursprünglich 
auf  einer  seiner  Entwicklungsstufen  Affe  gewesen  sein  und  in  dieser 
Gestalt  von  dem  Wesen  seines  Urbildes  Zeugniss  gegeben  haben  soll. 
Doch  mögen  sie  sich  beruhigen.  Diese  Affenstammväter  des  mensch- 
lichen Geschlechts  waren,  wenn  sie  jemals  in  dieser  Eigenschaft  exi- 
stirt  haben,  doch  jedenfalls  in  der  Entwicklung  ihrer  tieferen  und 
idealeren,  auf  die  Zukunft  angelegten  Affennatur  damals  noch  nicht 
soweit  vorgeschritten,  um  einen  Gott  nach  ihrem  Ebenbilde  imagi- 
niren  zu  können.  Als  ein  späteres  Entwicklungsstadium  ihnen  zu 
Götterphantasien  verhalf,  waren  sie  eben  nicht  mehr  Affen  im  eigent- 
lichen Sinne  des  Worts,  sondern  schon  höchst  liebenswürdiges 
Mensehenvieh,  welches  grade  soviel  Bewusstsein  hatte,  um  sich  für 
gut  genug  zu  halten,  sein  eignes  herrUches  Musterbild  in  grösserem 
Maassstabe  zu  copiren. 

Ein  besonderer  Unfug  ist  mit  dem  Wort  Entwicklung  dadurch 
getrieben  worden,  dass  man  geglaubt  hat,  unter  der  Maske  dieses 
Ausdrucks  theils  die  Unwissenheit  verhüllen,  theils  die  abgelebten 
und  superstitiosen  Nebelhaftigkeiten  halbtheologischer  Begriffe  und 
zugehöriger  Dogmen  einer  dienstbaren  Metaphysik  wieder  einschwärzen 


—     126     — 

zu  können.  Auch  in  dieser  Richtung  haben  sich  besonders  Eng- 
länder hervorgethan;  aber  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  sich  mit  Namen 
zu  befassen,  die  höchstens  in  einer  Geschichte  der  Philosophie  und 
für  eine  Kennzeichnung  des  gegenwärtigen  Zustandes  der  Missphilo- 
sophie eine  den  Abweg  signalisirende  Erwähnung  finden  können. 
Wir  lassen  daher  die  psychologischen  Accompagnements  und  die 
sonstige  Darwinismusspielerei,  wie  sie  unter  Leuten  von  der  Art  des 
Herrn  Herbert  Spencer  auch  philosophastrisch  grassirt,  vollständig  auf 
sich  beruhen.  Wir  bemerken  nur  ganz  im  Allgemeinen  und  zwar 
weit  mehr  im  Hinblick  auf  die  möglichen  Wendungen  der  Zukunft, 
als  auf  die  Niaiserien  der  Gegenwart,  dass  man  sehr  vorsichtig  ver- 
fahren muss,  wenn  man  nicht  mit  dem  Jahrhunderte  alten  Entwick- 
lungsbegriff, den  die  moderne  Naturwissenschaft  und  besonders  die 
Physiologie  zum  markirten  Bewusstsein  gebracht  hat,  durch  Ent- 
fremdung von  der  Erfahrung  in  ganz  gemeine  Emanationsvorstel- 
lungen gerathen  will. 

Im  rationellen  Sinne  ist  der  Begriff  der  Entwicklung  nur  soweit 
gültig,  als  sich  Entwicklungsgesetze  wirklich  nachweisen  lassen, 
üebrigens  bleibt  er  für  Vergangenheit  und  Zukunft  eine  pure  Ima- 
gination, die  nur  insoweit  Recht  behalten  kann,  als  in  ihr  ein  un- 
ausweichliches Denkschema  enthalten  ist.  Die  Entwicklung  umfasst 
nun  da,  wo  wir  sie  erfahruugsmässig  kennen,  nicht  blos  die  Gestal- 
tung, sondern  auch  die  Auflösung  der  Gebilde.  Diejenige  Weisheit, 
welche  auf  besonders  tiefe  Einsichten  über  Ursprung  und  Entstehung 
der  Arten  pocht,  sollte,  wenn  sie  überhaupt  philosophischen  Sinn 
hätte,  doch  auch  consequent  genug  sein,  die  Welt  mit  den  zuge- 
hörigen Auflösungsperspectiven  zu  erfreuen.  Der  universelle  Unter- 
gang der  Arten  wäre  ein  reizendes  Ziel  für  diejenigen,  denen  die 
theilweise  Ausmerzung  und  eine  Zerstörung,  die  blos  zum  grossem 
Ruhm  der  überlebenden  Vollkommenheiten  vor  sich  geht,  nicht  Ge- 
nüge thut.  Indessen  hier  gehen  die  Wege  der  imaginativen  Wissen- 
schaft auseinander.  Die  Glorie  der  Vollkommenheit  muss  gewahrt 
werden,  damit  die  Vollkommenheit  der  Glorie  fortbestehe.  Obwohl 
die  Entwicklung  in  dieser  Art  von  zoologischer  Wissenschaft  fast 
nur  ein  Anschauungsbild  ist,  bei  welchem  wenig  gedacht  wird,  so 
bleiben  doch  die  specifischen  Liebhaber  dieser  Intuition  nicht  bei  der 
einfachen  Reihe  der  Vorgänge  stehen.  Sie  richteu  sich  nicht  nach 
der  universellen  Gesetzmässigkeit  mit  der  Doppelthätigkeit  des  Schaf- 
fenden und   des  Zerstörenden  im  Antagonismus,  sondern  beruhigen 


-^     127     — 

ihre  Jünger  mit  dem  nächsten  Stadium  des  in  Aussieht  stehenden  posi- 
tiven Fortschritts.  Da  die  in  dieser  Nebelhaftigkeit  concipirte  Entwick- 
hmg  für  die  Phantasie  einen  grossen  Spieh'aum  verstattet,  so  können 
sogar  die  mystischen  Conceptionen  hier  eine  letzte  Zuflucht  finden. 
Wir  fragen  nun,  ob  es  nicht  besser  wäre,  lieber  alle  Dunkel- 
heiten, die  der  gewöhnliche  Begriff  einer  Entwicklung  mit  sich 
bringt,  dadurch  zu  beseitigen,  dass  man  diesen  Begriff  insow-eit  auf- 
giebt,  als  er  sich  nicht  durch  denjenigen  der  Composition  von  Ele- 
menten decken  lässt.  Die  gemeine  Schöpfungsvorstellung  war  stets 
etwas  Unwissenschaftliches;  warum  sollte  nicht  auch  der  heutige  ge- 
meine Entwicklungsbegriff,  der  sich  fast  in  Nichts  von  der  unmoti- 
virteu  Metamorphosenvorstellung  unterscheidet,  als  ein  Hinderniss 
des  strengen  Denkens  und  einer  richtigen  Welfcauffassung  fungiren? 
Mindestens  sind  drei  Viertel  seiner  Bestandtheile  verwerflich,  und 
was  übrig  bleibt,  muss  auf  Hergänge  der  Zusammensetzung  und 
Trennung  zurückgeführt  werden,  wenn  es  einen  klareren  Sinn  er- 
halten soll.  Erinnern  wir  uns  noch  einmal  der  Voraussetzungen, 
vermöge  deren  die  Chemie  eine  wirkliche  Wissenschaft  ist,  und  be- 
denken wir,  dass  alle  Entwicklungsschematismen,  soweit  sie  mehr 
als  äusserliche  Anschauungsbilder  der  unmittelbaren  Erfahrung  sein 
sollen,  die  Bearbeitung  eines  atomistischen  Materials  aufweisen  müs- 
sen. Nur  in  diesem  Sinne  können  wir  Entwicklungsgesetze  als  letzte 
Instanzen  der  Rechenschaft  anerkennen,  und  nur  in  dieser  Richtung 
kann  es  eine  zergliedernde  und  hiemit  erst  wahrhafte  Wissenschaft 
von  der  Entwicklung  geben.  Der  reine  Mechanismus  hat  in  dieser 
Beziehung  denselben  Anspruch  zu  machen,  und  die  Entwicklung 
muss  in  der  rein  mechanischen  Composition  sogar  ihre  erste  Stelle 
haben.  Das  Organische  ist  mithin  eine  zusammengesetzte  Form 
selbständiger  mechanischer  Entwicklung,  und  hiedurch  wird  das  phy- 
sikalische Universum  mit  dem  specifischen  Leben  und  den  Empfin- 
duugsvorgängen  zu  einer  fundamentalen  Einheit  verbunden. 


Dritter  Abschnitt. 

Elemente  des  Bewusstseins. 


Erstes  Oapitel. 
Empfindung  und  Sinne. 

JJenken  wir  aus  dem  System  der  Dinge  alle  Subjectivitäten  hinweg, 
so  bleibt  der  Mechanismus  der  objectiven  Welt  als  eine  zwar  zweck- 
lose, aber  doch  selbstgenugsame  Einheit  übrig.  Das  Dasein  empfin- 
dender Wesen  ist  keine  Voraussetzung  für  den  Kosmos;  aber  wohl 
ist  der  letztere  eine  unerlässliche  Vorbedingung  der  Existenz  von 
Bewusstseins  Vorgängen.  Das  Reich  der  Empfindung  besteht  in  der 
Vereinzelung  einer  Vielheit  empfindender  Wesen,  und  es  scheint  in 
diesem  Gebiet  zunächst  jede  einheitliche  Verbindung  zu  fehlen. 
Während  sich  das  objective  Sein  sofort  als  ein  Gesammtsystem  dar- 
bietet, durch  dessen  Einzelheiten  der  Faden  der  Materialität  und  der 
allgemeinen  Naturkräfte  hindurchleitet,  lässt  sich  etwas  Aehnliches 
von  der  Mannichfaltigkeit  der  Bewnsstseinssphären  nicht  behaupten. 
Der  Verkehr  zwischen  den  Vorstellungen  der  verschiedenen  Wesen 
ist  ein  äusserst  partieller.  Jedes  Bewusstsein  ist  an  sich  selbst  ein 
mehr  oder  minder  abgeschlossenes  Bereich  von  Empfindungen  und 
Vorstellungen,  die  sich  nur  in  secundärer  und  unterbrochener  Weise 
an  andere  Bewusstseinsbereiche  mittheilen  können.  Das  auf  den 
ersten  Blick  Merkwürdigste  ist  der  Umstand,  dass  der  Einheit  des 
objectiven  Seins  zwar  die  Einheit  eines  jeden  einzelnen  Bewusstseins, 
aber  nicht  die  Vereinigung  alles  Bewusstseins  in  einem  einzigen 
Subject  gegenübersteht.  Die  Imagination  hat  es  allerdings  an  der 
Erdichtung  eines  solchen  universellen  Bewusstseins  nicht  fehlen  las- 
sen; aber  sie  hat  auch  eben  mit  dieser  Ungeheuerlichkeit  nichts  als 
ein  Etwas  producirt,  welches  allen  Gesetzen  der  Wirklichkeit  wider- 


—     129     — 

spricht.  Die  relative  Vereinzelung  gehört  zum  Wesen  des  ßewusst- 
seins,  und  der  Reichthum  dieses  Gebiets  ist  eben  darin  zu  suchen, 
dass  die  Form  des  Sichselbstempfindens  so  vieler  Wiederholungen 
und  Variationen  fähig  ist. 

Das  Bewusstsein  ist  ein  mehr  oder  minder  flüchtiger  Vorgang 
und  mithin  ein  producirter  Act,  welcher  innerhalb  desselben  Wesens 
regelrechte  Unterbrechungen  aufweist.  Im  traumlosen  Schlaf  und  in 
einigen  abnormen  Zuständen  ist  nicht  das  mindeste  Bewusstsein  vor- 
handen, wenn  auch  immerhin  die  Disposition  zu  seiner  Hervor- 
bringung besteht.  Man  darf  aber  die  Anlage,  vermöge  deren  auf 
bestimmte  Reize  die  Empfindung  hervorgerufen  werden  kann,  nicht 
mit  dem  Act  des  subjectiven  Empfindens  selbst  und  dem  zugehörigen 
Gefiihl  verwechseln.  Was  wir  nicht  subjectiv  inne  werden  und  wobei 
wir  nicht  den  Unterschied  von  Lust  und  Schmerz  wahrnehmen  kön- 
nen, das  gehört  gar  nicht  der  Wirklichkeit  des  Bewusstwerdens  an, 
sondern  muss  als  ein  ausserhalb  des  actuellen  Ich  belegenes  Element 
betrachtet  werden.  Dieser  Sachverhalt  ändert  natürlich  nichts  an 
der  eben  so  sichern  Thatsache,  dass  die  Dispositionen  zum  Bewuäst- 
sein  dem  individuellen  Schematismus  und  insofern  auch  demjenigen 
Ich  angehören,  welches  man  uneigentlich  so  nennt  und  als  das  ob- 
jective  Band  einer  Individualgestalt  ansieht.  Dieses  uneigentliche  Ich 
wird  nun  freilich  meist  zu  einer  eben  solchen  Chimäre  gemacht,  wie 
es  die  beliebten  empfindungslosen  Empfindungen,  unvorgestellten 
Vorstellungen  und  ähnliche,  von  einer  sogenannten  Wissenschaft 
ausgebome  Ungeheuer  sind.  In  Wahrheit  ist  das  bindende  Schema, 
vermöge  dessen  vor  allem  Bewusstsein  ein  künftiges  Bewusstsein  de- 
terminirt  wird,  zwar  ein  nothwendiger  Begriff;  aber  man  muss  zu 
den  grössfcen  Ungereimtheiten  gelangen,  wenn  man  die  unempfan- 
denen  und  mithin  objectiven  Ursachen  der  Empfindungen  ebenfalls 
Empfindungen  nennt.  Leider  ist  es  aber  nicht  blos  ein  nachlässiger 
Sprachgebrauck,  sondern  eine  Verkennung  der  Hauptsache,  was  zu 
den  fraglichen  Absurditäten  geführt  hat.  Wer  die  Kluft  verkennt, 
die  zwischen  Empfinden  und  Nichtempfinden  besteht,  mag  allerdings 
die  Ursachen  oder  Kräfte,  aus  deren  Medium  das  subjective  Fühlen 
producirt  wird,  mit  diesem  Fühlen  selbst  als  einerlei  ansehen  und 
die  Bestimmungen  des  objectiven  Gebiets  mit  den  Bewusstseins- 
bestandtheilen  wirr  durcheinanderlaufen  lassen.  Wer  jedoch  irgend 
einmal  des  gewaltigen  Unterschiedes  inne  gewordeu  ist,  der  zwischen 
dem  Bewusstlosen  und  dem  Bewussten  eine  durch  keine  quantitative 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  ^ 


-     130     — 

Allmäligkeit  zu  verwischende  Grenze  zieht,  der  wird  es  sich  nicht 
mehr  einfallen  lassen,  die  völlige  üngleichartigkeit  der  beiden  Seins- 
formen in  den  Nebeln  eines  zweideutigen  Sprachgebrauchs  und  einer 
unexacten  Denkweise  verhüllen  zu  wollen. 

Die  Vereinzelung  des  Bewusstseins  in  bestimmten  Wesen  ist 
jedoch  nicht  blos  eine  Elrfahrungsthatsache,  sondern  auch,  soweit 
sich  hier  überhaupt  deduciren  lässt,  eine  innere  Nothwendigkeit. 
Das  Ueberraschende,  was  der  Mangel  eines  Universalbewusstseins  zu- 
nächst an  sich  hat,  muss  verschwinden,  sobald  man  erkennt,  dass 
ein  solches  einziges  Universalbewusstsein  ein  in  sich  widersprechendes 
und  mithin  real  unmÖghches  Gebilde  ist.  Alles  Bewusstsein  setzt 
ein  Sein  voraus,  dessen  es  sich  bewusst  zu  werden  hat.  Es  beruht 
mithin  auf  einer  Trennung  und  einem  Gegensatz.  Die  Empfindung 
ist  nicht  denkbar  ohne  eine  Differenz  der  Kräfte.  Sie  ist  sogar 
überall  das  Ergebniss  einer  mechanischen  Arbeit.  Wenn  nun  das 
Bewusstsein  zeitlich  und  räumlich  nur  eine  in  jedem  Fall  beschränkte 
Summe  von  Elementen  der  Wahrnehmung  zu  sein  vermag,  so  kann 
es  zwar  in  seiner  Grundform  den  Schematismus  der  Welt  der  blossen 
Anlage  nach  enthalteni  muss  aber  in  jeder  seiner  Wirklichkeiten  be- 
grenzt ausfallen.  Da  nun  die  Anlage  zum  Bewusstsein  gar  kein 
eigentliches  Bewusstsein  ist,  so  begreift  sich,  warum  das  Bewusst- 
sein nur  in  einer  Vielheit  von  Standpunkten  der  Aufgabe  der  höch- 
sten Steigerung  und  der  weitesten  Ausdehnung  seines  Umfangs  ent- 
sprechen könne.  Die  nothwendige  Beschränktheit  des  einzelnen 
Bewusstseinsvorgangs  hat  ihre  Ergänzung  in  der  Mannichfaltigkeit 
der  verschiedenen  Acte,  und  die  unvermeidliche  Enge  der  Individua- 
lität des  Empfindens  erweitert  sich  zu  der  in  diesem  Gebiet  über- 
haupt möglichen  Universalität  durch  die  zusammenbestehende  Vielheit 
und  durch  die  Aufeinanderfolge  der  Wesen.  Wäre  diese  Isolirung 
der  subjectiven  Welt  nicht  gleichsam  ein  Stück  realer  Logik  oder, 
mit  andern  Worten,  eine  aus  der  Artung  der  neuen  Seinsgattung 
selbst  entspringende  Nothwendigkeit,  so  würde  man  sich  allerdings 
wundern  müssen,  dass  die  universelle  Zusammenfassung  der  Welt 
nicht  vollendet  in  einem  einzigen  Subjecte  dasteht.  Der  allgemeinen 
Grundform  nach  trägt  jedes  Subject  gleichsam  die  Anweisung  zu 
einer  einheitlichen  Auffassung  der  Dinge  in  sich;  wie  viel  aber  in 
den  Rahmen  dieser  Einheit  eingespannt  werden  könne,  hängt  nicht 
nur  von  dem  niedern  oder  hohem  Schematismus  des  Wesens,  son- 
dern auch  von  der  zeitlichen  und  räumlichen  Situation  ab,  zu  welcher 


—    131     — 

es  mit  seinen  besondern  Eigenschaften  gehört.  Die  Versetzung  in 
neue  Lagen  ist  das  grosse  Mittel,  durch  welche  das  Spiel  der  Be- 
wusstseiusphänomene  variirt  wird.  Die  Einheit  in  diesen  Variationen 
wird  aber  dadurch  gewahrt,  dass  für  jedes  Bewusstsein  nur  eine  ein- 
zige Welt  existirt,  wie  wenig  oder  wie  viel  auch  von  derselben  in 
Empfindung  tibersetzt  oder  nicht  übersetzt  werden  mag.  Auf  diese 
Weise  ist  jedes  vereinzelte  Bewusstsein  gleichsam  eine  Welt  für  sich 
und  nichts  weiter  als  der  Ausdruck  einer  bestimmten  Situation,  in 
welcher  sich  das  Sein  in  einer  seiner  Thatsachen  und  in  einem  seiner 
Verhältnisse  befindet.  Auf  der  andern  Seite  ist  es  aber  zugleich  ein 
selbstgenugsamer  Beziehungspunkt  der  einheitlichen  und  einzigen 
objectiven  Welt  auf  sich  selbst  und  leistet  mithin  alles  das,  was 
man  rationeller  Weise  von  einem  Universalbewusstsein  nur  irgend 
verlangen  könnte.  Der  falsche  Begriff  eines  üniversalbewusstseins 
wäre  die  Confusion  einer  Unzahl  unverträglicher  subjectiver  Elemente 
zu  der  Nacht  des  unterscheidungslosen  Nichts .  und  fährte  mithin  zu 
der  verworrenen  Verwischung  alles  Bewusstseins  in  den  Nebeln  des 
Unbewusstseins ,  also  zum  universellen  Erlöschen  des  Bewusstseins 
selbst.  Das  Ergebniss  des  Suchens  nach  jener  Chimäre  ist  das  Gegen- 
theil  von  dem,  was  der  Sucher  wünscht;  denn  er  strebt  mit  seinem 
vermeintlichen  Ideal  nach  einem  übergreifenden  actuelleu  Wissen  von 
Allem,  und  er  gewinnt  nur  die  Verneinung  eines  jeden,  wenn  auch 
noch  so  beschränkten  Wissens. 

2.  Die  Einheit  und  kosmische  Gemeinschaft,  welche  in  der  Wirk- 
lichkeit des  Bewusstwerdens  unmöglich  ist,  findet  sich  dagegen  so- 
fort unzweideutig  und  klar  vor,  sobald  wir  das  Gebiet  des  subjectiv 
Empfindbaren  verlassen  und  uns  nach  den  objectiven  Vorgängen  um- 
sehen, welche  in  den  Individuen  allen  Bewusstseinsregungen  voran- 
gehen und  als  die  producirenden  Factoren  alles  Empfindens  und  Vor- 
stellens  zu  betrachten  sind.  Diese  Einheit  ist  nicht  im  Bewusstsein 
an  sich  selbst,  sondern  nur  in  solchen  Ursachen  vorhanden,  die  dem 
Gebiet  des  Empfindungslosen  angehören.  Wie  alle  gravitirenden 
Atome  mit  einander  in  allseitiger  Beziehung  stehen,  so  wirkt  auch 
die  allgemeine  mechanische  Causalität  der  verschiedensten  Naturkräfte 
auf  die  individuellen  Wesen  ein  und  afficirt  das  Material,  dessen 
Veränderungen  auch  Modificationen  des  Empfindungsspiels  mit  sich 
bringen.  Besonders  auffallend  sind  die  Wirkungen  der  verschiedenen 
Gradationen  und  sonstigen  Mengeverhältnisse  der  Wärmezustände. 
Die  Abwechselungen    im  Gebiet    des  Meteorologischen  wirken  weit 


—     132     — 

weniger  durch  den  Eindruck  der  höheren  und  erkennenden  Sinne, 
als  durch  die  tief  innerlichen  Affectionen,  welche  alle  Theile  der 
Materie  ergreifen.  Das  Mitleben  mit  der  umgebenden  Natur  ist  da- 
her im  letzten  Grunde  ein  Miterzittem  in  und  mit  dem  allgemeinen 
Mechanismus  der  Naturkräfte.  Von  dieser  Seite  besteht  eine  durch- 
gängige Determination  aller  Vorbedingungen  des  Bewusstseins,  und 
in  dieser  Richtung  ist  die  Schranke  der  Individualität,  die  in  dem 
isolirten  Bewusstwerden  der  einzelnen  Situation  ihren  Ausdruck  findet, 
offenbar  nicht  vorhanden.  Die  Antriebe,  vermögen  deren  das  Licht 
des  Bewusstseins  aufblitzt,  sind  selbst  völlig  dunkel,  und  sie  müssen 
von  uns  als  Theile  einer  universellen  Mechanik  vorgestellt  werden. 
Die  grösste  Thorheit  würde  darin  bestehen,  die  Empfindung  bereits 
vor  ihrer  subjectiv  gefühlten  Wirkb'chkeit  als  Empfindung  denken 
zu  wollen.  Sie  tritt  vielmehr  erst  mit  jener  Differenz  ins  Leben, 
die  es  möglich  macht,  das  Objective  als  solches  von  einem  rein  sub- 
jectiven  Innewerden  der  Zustände  eines  Wesens  zu  unterscheiden. 

Hienach  giebt  es  eine  doppelte  Causalität,  nämlich  einerseits 
diejenige,  welche  ausserhalb  der  Sphäre  des  Bewusstseins  und  gleich- 
sam in  den  Tiefen  wirkt,  aus  denen  es  aufleuchtet,  und  andererseits 
diejenige,  welche  auf  der  bewussten  Uebertragung  der  Empfindungen 
und  Vorstellungen  von  Wesen  zu  Wesen  beruht.  Dieser  letztere 
Verkehr  hängt  von  den  Wahrnehmungen  der  erkennenden  Sinne  ab 
und  vermittelt  sich,  da  diese  Sinne  nur  vermöge  materieller  Medien 
zu  Wahrnehmungen  gelangen,  ebenfalls  am  Leitfaden  der  Materia- 
lität. Kein  Wesen  kann  in  das  andere  ohne  diese  materielle  Brücke 
wirken,  und  nur  die  chimärischen  Erdichtungen  der  Superstition 
wollen  noch  andere  Wege  des  Einflusses  kennen.  Hier  ist  aber 
wieder  einmal  ein  Merkzeichen  der  Wirklichkeitsphilosophie  vorhan- 
den ;  denn  wer  in  dem  psychischen  Verkehr  die  Nothwendigkeit  des 
materiellen  Leitfadens  leugnet,  stellt  sich  hiemit  ausserhalb  aller 
strengen  Wissenschaft  und  überlässt  sich  einem  wüsten  Köhlerglauben. 
Die  materielle  und  mechanische  Brücke  ist  das  einzige  Kriterium  der 
wirklichen  Causalität,  und  jede  andere  Vermittlung  bleibt  ein  will- 
kürliches Mährchen  der  unrationellen  Phantastik.  Wie  sogenannte 
Geister  in  Berkeleyscher  oder  sonst  spiritistischer  Manier  auf  ein- 
ander wirken  sollen,  ist  ausser  in  Mährchenform  gar  nicht  angebbar, 
und  die  Hallucinationen  des  thierischen  oder,  besser  gesagt,  viehischen 
Magnetismus  gehören  sammt  dem  Amerikanischen  Spiritismus  mit 
seinem  Geisterspuk  und  der  seinen  Wundern  entsprechenden  Euro- 


—     133    — 

päischen  Metaphysik  spiritualistischer  Art  theils  in  die  grosse  Kinder- 
stube der  Menschheit,  theils  auf  den  Schwindelmarkt  der  vielgestal- 
tigen Charlatanerie.  Es  sind  dies  Angelegenheiten,  in  denen  die 
grossen  Kinder  und  die  grossen  Gauner  ihren  gegenseitigen  Bedürf- 
nissen entsprechen,  nur  dass  schliesslich  die  letztere  Gattung  dabei 
doch  besser  ihre  Rechnung  findet. 

Die  sogenannte  Psychologie,  die  schon  in  ihrem  Namen  eine 
unwissenschaftUche  Vorstellung  verkörpert  hat  und  unter  diesem 
Namen,  soweit  meine  Literaturkenntniss  reicht,  noch  niemals  ratio- 
nell und  kritisch  behandelt  worden  ist,  war  bisher  vorherrschend 
eine  Ablagerung  von  halb  metaphysischen,  halb  empirischen  Crudi- 
täten  über  Handlungen  und  Verhältnisse,  die  man  einer  erdichteten 
Entität,  nämlich  einer  Psyche,  d,  h.  einem  in  Cartesischer  Manier 
für  sich  getrennt  existirenden  und  in  einem  Leibe  zeitweilig  hausen- 
den Seelendinge  zuzuschreiben  beliebte.  Diese  Psyche  ist  für  die 
Psychologie  ungefähr  dasselbe,  was  der  Theos  für  die  Theologie. 
Nur  ist  der  erstere  Pseudobegriff  zäher  als  der  letztere,  weil  ihm 
ein  weit  grösserer  Schein  der  Realität  zur  Seite  steht.  Der  dichte- 
rische Sprachgebrauch  kann  nämlich  mit  Fug  und  Recht  von  etwas 
Seelenvollem  reden,  ohne  der  Wahrheit  etwas  zu  vergeben ;  denn  die 
figürhche  Sprache  bezeichnet  hiemit  nur  den  hohen  Grad  der  Be- 
wegung, des  Lebens  und  der  innem  Erregungsfähigkeit.  Wenn  aber 
die  grammatische  Substantivirung  noch  heute  dazu  verleitet,  eine 
Substanz  d.  h.  etwas  dinglich  zu  Grunde  Liegendes  zu  erdenken, 
was  man  Seele  zu  nennen  habe,  so  ist  dies  der  gröbste  L-rthum,  in 
den  man  nur  irgend  verfallen  kann.  Das  iadividuelle  Princip  der 
innern  Erregungen  und  Bewusstseinsphänomene  ist  seinem  Wesen 
nach  eine  Action  und  mithin  etwas  durchaus  Vergängliches.  Es  ist 
das  Gegentheil  aller  Substantialität,  und  man  kann  sich  daher  in 
der  Form  seiner  Auffassung  nicht  ärger  vergreifen,  als  wenn  man, 
getäuscht  durch  den  in  Wahrheit  nur  relativen  und  ephemeren  Be- 
stand seiner  Wirksamkeit,  aus  dieser  sehr  bemessenen  Beständigkeit 
nicht  nur  ein  Ding,  sondern  sogar  eine  der  Materie  analoge  Wirk- 
lichkeit macht.  Der  einem  solchen  Dinge  beigelegte  Charakter  der 
Unvergänglichkeit,  neben  welchem  derjenige  der  Unentstandenheit 
aus  guten  Gründen  nur  selten  figurirt,  stammt  nun  freilich  aus  einer 
Sphäre  von  Erdichtungen,  die  nicht  in  einer  blossen  Selbsttäuschung 
des  Verstandes,  sondern  in  dem  betrügerischen  Spiel  der  Affecte  und 
der  Eitelkeit  ihren  Halt  hat.     Seine  Besprechung  gehört  daher  in 


—     134    — 

das  praktisch  Moralische,  und  wir  haben  an  dieser  Stelle  von  der 
Nach  Weisung,  dass  die  edlere  Moral  mit  einer  solchen  Annahme 
nicht  verträglich  sei,  noch  Abstand  zu  nehmen. 

Was  man  nothgedrungen  im  Hinblick  auf  die  Schulgewohnheiten 
und  den  auch  sonst  im  Publicum  eingewurzelten  Sprachgebrauch 
Psychologie  nennen  muss,  ist  nichts  weiter  als  eine  Lehre  von  den 
Bewusstseinsvorgängen  als  solchen.  Wenn  man  die  Elemente  des 
Bewusstseins  an  sich  selbst  betrachtet,  ihre  Beschaffenheiten,  Be- 
ziehungen und  gesetzlichen  Verbindungen  oder  Trennungen  feststellt, 
und  wenn  man  schliesslich  sogar  die  Bedingungen  ihrer  ursprüng- 
lichen Entstehung  aus  dem  Bereich  der  mechanischen  und  physio- 
logischen Antriebe  untersucht,  so  thut  man  Alles,  was  eine  ratio- 
nelle Theorie  von  der  menschlichen  Innerlichkeit  nur  irgend  mit 
sich  bringen  kann.  Die  Vorstellung  von  einer  Seele  ist  nicht  nur 
ein  überflüssiger,  sondern  auch  ein  schädlicher  Vennittlungsbegriff, 
den  man  in  Wort  und  That  ausmerzen  muss,  um  den  reinen  Gehalt 
der  Bewusstseinslehre  in  sauberer  Absonderung  zu  gewinnen.  Auch 
wird  man  nur  zu  einem  wirklichen  Wissen  in  diesem  Gebiet  ge- 
langen, wenn  man,  anstatt  mit  dem  Unwesen  einer  Seele  nichts- 
sagende und  nichtsnutzige  Erklärungen  zu  prätendiren,  die  mensch- 
liche Innerlichkeit  gleich  von  vornherein  als  ein  thatsächlich  gege- 
benes Feld  der  Beobachtung  und  speculativen  Untersuchung  betrachtet. 
Die  Bewusstseinsvorgänge  sind  eine  Seite  der  Natur,  und  sowenig 
man  zu  den  Naturvorgängen  noch  ein  besonderes  Wesen  braucht, 
um  sie  verständlich  zu  machen,  ebensowenig  hat  man  für  das  Be- 
wusstsein  einen  besondem  Götzen  nöthig,  um  es  in  einer  Einheit 
zusammenzuhalten.  Die  reale  Logik  reicht  auch  hier  aus,  und  das 
Reich  der  empfindenden  Subjectivitäten  ist  ja  überdies  keine  abso- 
lute Selbständigkeit,  sondern  auf  der  Grundlage  der  übrigen  Natur 
ein  causales  Gebilde  zweiter  Ordnung. 

3.  Die  vorher  gekennzeichneten  Gewohnheiten  der  Superstition 
finden  sich  nicht  blos  in  der  rein  spiritistischen  Psychologie,  son- 
dern auch  in  den  zwitterhaften  Unternehmungen,  die  Bewusstseins- 
lehre durch  eine  sogenannte  Physiologie  der  Seele  zu  ersetzen  und 
so  einem  Publicum  annehmbarer  zu  machen,  welches  schon  den 
blossen  Namen  naturwissenschaftlicher  und  physiologischer  Erkennt- 
niss  zu  achten  gesonnen  ist.  In  Wahrheit  sind  aber  diese  Misch- 
bildungen, entsprechend  ihrem  ungeschickten  Titel,  voll  von  meta- 
physischen llohheiten,   und   man  glaube  daher  gar  nicht,   dass  die 


—     135    — 

Einmischung  physiologisclier  Kenntnisse  das  Ragout  einer  sogenann- 
ten Seelenlelire  für  den  bessern  Geschmack  erträghch  zu  machen 
vermöge.  Es  giebt  sogar  Arten  von  Pseudomaterialismus,  in  denen 
sich  ein  kaum  za  überbietendes  Ungeschick  in  den  logischen  Vor- 
stellungsformen und  eine  vulgäre  Unfähigkeit  zu  eigentlich  philoso- 
phischen .Begriffen  derartig  verräth ,  dass  man  diesen  naiven  Stoff- 
denkern getrost  den  Rath  geben  kann,  sich  nur  sofort  mit  den 
Mystikern  und  Spiritisten  zu  vergesellschaften.  Da  sie  nämlich  aus 
der  Gemeinheit  der  Pöbelbegriffe  thatsächlich  gar  nicht  herauskom- 
men, sondern  diese  Pöbelbegriffe  nur  ins  Materialistische  zu  über- 
setzen suchen,  so  berühren  sie  sich  von  dieser  Seite  unmittelbar  mit 
dem  SpirituaUsmus,  den  sie  zu  verabscheuen  vorgeben,  und  arbeiten 
thatsächlich  dem  krassesten  Spuk  in  die  Hände.  Sie  befördern  die 
Möglichkeit  jener  bewussten  und  oft  vöUig  gaunerischen  Mischungen, 
vermöge  deren  die  alte  Superstition  mit  einer  naturwissenschafthchen 
Ausstattung  von  Neuem  auf  den  Markt  gebracht  wird. 

Ernster,  aber  nichtsdestoweniger  unhaltbar  sind  diejenigen  An- 
sichten, welche  mit  der  alten  Psychologie  überhaupt  jede  Bewusst- 
seinslehre  aus  der  Philosophie  hinausgewiesen  und  als  Thorheit 
geächtet  wissen  wollen.  Die  Vertreter  dieser  Anschauungsweise 
wollen  sich  auf  eine  reine  Physiologie  der  Organe  des  Empfindens 
und  Denkens  beschränken  und  übersehen  hiebei,  dass  die  subjectiven 
Vorgänge  als  solche  und  in  ihrer  empfundenen  Innerlichkeit  nie 
durch  die  äussere  Betrachtung  der  Function  der  Werkzeuge  gedeckt 
werden  können.  Die  Zergliederung  und  Beobachtung  der  Organe 
und  ihrer  äusserlich  sichtbaren  Thätigkeiten  muss  auch  über  die 
Verhältnisse  der  subjectiven  Empfindungsformen  bedeutende  Auf- 
schlüsse liefern;  wenn  man  aber  die  unmittelbare  Aufmerksamkeit 
auf  die  Elemente-  und  Gestalten  des  Bewusstseins  als  völlig  gleich- 
gültig oder  auch  nur  als  untergeordnete  Nebensache  ausgiebt,  so 
bekundet  man  hiemit  nur,  dass  man  von  dem  Wesen  einer  ratio- 
nellen Bewusstseinslehre  keine  Ahnung  hat.  Letzteres  war  z.  B.  bei 
A.  Comte  der  Fall  und  pflegt  sich  ausserdem  bei  denjenigen  Phy- 
siologen zu  bestätigen,  welche  die  grössten  Anstrengungen  machen, 
der  Seelensuperstition  zu  entgehen,  ohne  doch  im  Stande  zu  sein, 
ihre  objectiven  Anschauungen  mit  einer  entsprechenden  Einsicht  in 
die  zugehörigen  subjectiven  Vorgänge  zu  verbinden.  Die  Physiologie 
der  unmittelbaren  Organe  des  Empfindens  und  Denkens  ist  für  die 
eigentliche  Bewusstseinslehre  eine  blosse  Hülfs Wissenschaft,  und  eine 


—     136    — 

besondere  Theorie  der  subjectiven  Elemente  des  Bewusstseins  wird 
solange  eine  berechtigte  Forderung  bleiben,  als  man  nicht  etwa  auf 
alle  genauere  und  systematische  Erkenntniss  der  menschlichen  Inner- 
lichkeit verzichten  will. 

Allerdings  hat  bis  jetzt  die  Richtung  auf  diese  Innerlichkeit  in 
der  schlechten  Form  der  bisherigen  Psychologie  vorherrschend  den 
Charakter  der  Beschränktheit,  Pedanterie  und  selbstbeschaulichen 
Eitelkeit  an  sich  getragen.  Sogar  durch  die  bessern  Erscheinungen, 
wie  sie  in  und  seit  Locke  eine  breite  und  selbstgefällig  behagliche 
Vertretung  fanden  und  sich  bei  Kant  sogar  in  das  Hochmetaphy- 
sische verwandelten,  ist  die  objective  Philosophie  auf  eine  Zeit  lang 
suspendirt  und  die  grosse  Welt  mit  der  kleinen  vertauscht  worden. 
Ja  die  heutigen  Tageserscheinungen  beweisen  im  vollsten  Maasse, 
dass  eine  Art  Bomirtheit  in  der  Auffassung  von  Welt  und  Leben 
dabei  herauskommt,  wenn  die  sogenannte  Psychologie  irgendwo  in 
den  Vordergrund  tritt  oder  sich  etwa  gar  als  eine  leitende  Wissen- 
schaft geltend  machen  will.  Thatsächlich  ist  es,  auch  von  aUen 
Superstitionen  abgesehen,  mit  der  sogenannten  Psychologie  heute 
derartig  bestellt,  dass  man  grade  diejenigen,  die  sich  fiir  Psychologen 
ausgeben,  überall  als  die  zur  ernsteren  Philosophie  Unfähigsten  be- 
trachten muss.  Dies  gilt  nicht  etwa  blos  für  Deutschland,  sondern 
auch  für  England,  Frankreich  und  die  sonst  betheiligten  Cultur- 
gebiete. 

Dieser  ungünstige  Sachverhalt  erklärt  sich  zum  Theil  daraus, 
dass  eine  echte  Bewusstseinslehre  nur  die  gelegentliche  Frucht  hö- 
herer Probleme  sein  kann,  in  deren  Dienst  die  einzelnen  Einsichten 
gewonnen  werden,  während  die  grundsätzliche  Fixirung  der  Gedanken 
auf  die  durch  keinen  hohem  Zweck  geadelte  Selbstuntersuchung  ein 
ansehnliches  Maass  von  persönlicher  Eitelkeit  und  Selbstbespiegelung 
voraussetzt.  Eine  abgesonderte  Bewusstseinslehre  kann  nur  zwei 
anerkennenswerthe  Zwecke  haben,  und  beide  liegen  ausserhalb  der- 
selben. Entweder  will  sie  die  subjectiven  Täuschungen  in  der  Auf- 
fassung der  Dinge  wegräumen  oder  die  Gesetze  biosiegen,  nach  denen 
der  Mensch  auf  den  Menschen  zu  wirken  vermag.  Die  erstere  rein 
speculative  Aufgabe  bleibt  hiebei  eine  untergeordnete  Angel^enheit, 
weil  die  Meinung,  die  Probleme  der  objectiven  Welt  mit  der  Psy- 
chologie lösen  zu  können,  eine  Verkennung  der  Tragweite  der  Be- 
wusstseinszergliederung  einschliesst.  Der  zweite  Gegenstand  ist  von 
weit  grösserer  Bedeutung;  denn  hier  kann  eine  rationelle  Bewusst- 


—     137     — 

seinslehre  in  der  That  die  Gesetzmässigkeit  aller  Motive  des  Ver- 
haltens auch  innerlich  beleuchten  und  aus  dem  Mittelpunkt  der  Em- 
pfindung die  nothwendigen  Ergebnisse  construiren  helfen.  Aber  auch 
hier  würde  die  Bewusstseinslehre  ihre  eigne  Natur  YÖllig  verkennen, 
wenn  sie  sich  einbildete,  ein  für  sich  allein  zulänglicher  Factor  des 
Verständnisses  menschlichen  Individuallebens  oder  gar  der  Collectiv- 
gestaltungen  sein  zu  können.  Von  Allem,  was  vorgeht,  bilden  die 
Bewusstseinsphänomene  nur  einen  äusserst  beschränkten  Theil  und 
sind  zunächst  weit  mehr  Wirkungen,  als  selbst  wirksame  Ursachen. 
Oft  verhält  sich  das  Bewusstsein  nur  wie  ein  zufälHger  Durchgangs- 
punkt von  Realitäten,  die  auch  ohne  diese  Beleuchtung  ihren  Erfolg 
gehabt  haben  würden.  Wo  man  aber  in  eminenter  Weise  auf  die 
schöpferisch  vermittelnde  Wirksamkeit  des  Bewusstseins  zu  zählen 
hat,  da  sind  es  weniger  die  psychologischen  Eigenschaften  als  die 
logischen  Ausstattungen  desselben,  die  praktisch  in  Frage  kommen. 
In  jeder  Richtung  wird  man  also  gewahr,  welche  bescheidene  Rolle 
selbst  die  echte  Bewusstseinslehre,  die  man  als  Kern  der  übrigens 
falschen  Psychologie  gewinnen  mag,  im  Ganzen  der  Philosophie  und 
Wissenschaft  zu  spielen  habe.  Sie  liefert  eben  nur  einige  Elemente, 
die  man  freilich  an  die  Spitze  stellen  kann,  wenn  man  das  Reich 
der  empfindenden  Wesen  betritt,  aber  auch  ebensogut  nach  Bedürf- 
niss  den  besondern  realen  Problemen  an  den  verschiedenen  Oertem 
hätte  beiordnen  können.  Diesen  letzteren  Weg  wird  man  sogar  unter 
allen  Umständen  für  die  Aesthetik  einschlagen  müssen;  denn  das 
Wenige,  was  eine  bessere  Bewusstseinslehre  auch  in  dieser  Richtung 
dürfte  bieten  können,  schliesst  sich  so  innig  an  die  besondere  ästhe- 
tische Art  und  Weise  der  Gesichtspunkte  an,  dass  man  es  von  der 
Eigenart  des  künstlerischen  Verhaltens  nicht  trennen  kann.  Hiezu 
kommt  noch,  dass  die  wahre  Aesthetik  eine  durchaus  objective 
Wissenschaft  ist,  in  welcher  die  Kunst  der  Natur  und  das  Eben- 
massige  in  der  Verfassung  des  Universums  oder  in  dem  Spiel  der 
Naturkräffce  ebensogut  eine  Stelle  haben  müssen,  wie  die  gestalten- 
den Mächte  der  menschlichen  Vorstellungskräfte. 

4.  Die  Empfindung  ist  uns  ein  Vorgang,  mit  welchem  nicht 
nur  eine  neue  Welt  erschlossen,  sondern  auch  das  objective  Sein 
erst  in  seiner  Bedeutung  vollendet  wird.  Sie  ist  daher  etwas  All- 
gemeines und  Universelles,  was  sich  in  wesentlich  gleichartiger  Weise 
da  entwickelt  finden  oder  noch  entwickeln  muss,  wo  die  Zurüstung 
der   sonstigen  Naturkräfte   einen  Schauplatz  darbietet.     Unabhängig 


—     138     - 

von  der  gewöhnlichen  psychologischen  Beschränktheit  sehen  wir  da- 
her die  Empfindung  als  ein  kosmisches  Phänomen  an  und  setzen 
sogar  voraus,  dass  sie  überall  im  Universum  dieselben  Grundformen 
und  Elemente,  wenn  auch  in  veränderter  Zusammensetzung,  aufweise. 
Wir  folgen  hierin  nur  derjenigen  Analogie,  an  die  wir  schon  öfter 
erinnern  mussten,  nämlich  dem  Leitfaden  der  chemischen  Einheit 
der  Weltcomposition.  Ausserdem  nöthigt  uns  aber  auch  zu  dieser 
Annahme  die  allgemeine  Nothwendigkeit  einer  durchgängigen  Syste- 
matik des  Daseins.  Eine  solche  Systematik  würde  sich  verleugnen, 
wenn  es  nicht  ein  einziger  Schematismus  wäre,  aus  dem  alles  be- 
wusste  Leben  in  mannichfaltigen  Variationen  stufenweise  hervor- 
getrieben wird.  Schliesslich  giebt  es  aber  auch  noch  einen  objectiven 
Grund,  welcher  uns  die  Universalität  der  Empfindungselemente  ver- 
bürgen kann.  Die  Beschaffenheit  der  Elementarempfindungen  wäre 
eine  willkürliche  und  sinnlose  Thatsache,  wenn  sie  nicht  eine  reale 
Bedeutung  hätte  und  nach  Innen  oder  nach  Aussen  eine  Auslegung 
sachlicher  Verhältnisse  repräsentirte.  Li  der  Empfindung  ist  objective 
Wahrheit.  Sie  ist  eine  Interpretation  desjenigen  Seins,  welches  an 
sich  selbst  sich  nicht  empfindet,  sondern  eben  zu  diesem  Act  eine 
specielle  Function  abgesondert  hat.  Die  Empfindung  ist  niemals 
blos  etwas  an  sich  selbst,  sondern  sie  ist  zugleich  ein  Ausdruck  ob- 
jectiver  und  realer  Verhältnisse,  an  dessen  Wahrheit  auch  dadurch 
nichts  geändert  wird,  dass  die  nächste  und  unmittelbarste  Beziehung 
des  Empfindens  die  Einrichtung  und  die  Zustände  des  individuellen 
Organismus  zum  Gegenstande  hat.  Dieser  Organismus  bildet  stets 
nur  die  Brücke  zur  umgebenden  Aussenwelt,  und  seine  Zustände 
sind  so  gut  wie  die  des  Thermometers  ein  Maass  für  die  realen  Vor- 
gänge ausser  ihm.  Es  ist  eine  herkömmliche  Einseitigkeit,  wenn 
man  die  Empfindung  nur  als  Ausdruck  innerer  Zustände  gelten  lassen 
will  und  die  objective  Wahrheit  in  ihr  verkennt,  weil  die  Ueber- 
setzung  aus  dem  Objectiven  in  das  Subjective  durch  eine  Maschinerie 
vermittelt  wird,  die  bei  den  verschiedenen  Wesen  ein  so  abweichen- 
des Aussehen  hat.  Im  letzten  Grunde  ist  auch  diese  Maschinerie 
trotz  aller  Variationen  durch  neue  Theile  doch  stets  einheitlich  an- 
gelegt, und  das  System  der  Mittel,  durch  welche  ein  an  sich  un- 
empfandener  Vorgang  in  die  Natursprache  der  Empfindung  übersetzt 
wird,  ist  durchgängig  dasselbe. 

Hieraus    folgt    nun,    dass    schon    die   unterste  Grundlage   aller 
menschlichen  und  sonstigen  Einsicht  in  der  Welt  der  Empfindungen 


—     139     — 

anzutreffen  sein  muss.  In  der  That  wiederholt  sich  hier  auch  nur 
das  Grundschema  der  objectiven  Welt,  nämlich  der  Antagonismus 
der  Nafcurkräfte.  Die  Widerstandsempfiudung  ist  das  Element  aller 
übrigen;  sie  tritt  in  sinnenmässiger  Deutlichkeit  da  hervor,  wo  die 
eignen  Kräfte  des  individuellen  Organismus  die  mechanische  Wirkung 
eines  ihnen  widerstrebenden  Körpers  erproben.  Indessen  müssen  wir 
voraussetzen,  dass  auch  in  jeder  innerlichen  oder  sonst  auf  molecu- 
lare  Ötoffverhältnisse  bezogenen  Empfindung  das  subjective  Inne- 
werden eines  mechanischen  Widerstandes  die  letzte  schematische 
Grundform  bildet.  Wenn  die  Wärmezustände  oder  die  chemischen 
Mischungsverhältnisse  des  Leibes  in  Empfindungen  einen  Ausdruck 
erhalten,  so  kann  man  nicht  umhin,  auch  hierin  auf  das  Grund- 
schema zurückzuschliessen.  In  demselben  Sinne,  in  welchem  alle 
objectiven  Naturactionen  in  letzter  Form  mechanische  Antagonismen 
aufweisen,  müssen  auch  die  Empfindungen  auf  diesen  ursprünglichsten 
Typus  zurückzufuhren  sein.  Die  Einheit  der  Naturkräfte  ergiebt 
auch  eine  entsprechende  Einheit  der  Empfindungen.  Der  Gegensatz, 
der  in  jenen  die  Hauptrolle  spielt,  muss  auch  in  diesen  die  Grund- 
lage aller  weiteren  Composition  und  Entwicklung  werden.  Wir 
wollen  uns  nicht  sofort  darauf  berufen,  dass  Lust  und  Schmerz  den 
unausweichlichen  Antagonismus  innerhalb  des  Empfindungsbereiches 
verrathen.  Jede  bestimmte  Lust  und  jeder  bestimmte  Schmerz  be- 
ruhen bereits  auf  der  Zusammensetzung  von  Empfindungsbestand- 
theilen,  die  wir  unmittelbar  und  ohne  Weiteres  nicht  zu  sondern 
und  nicht  rein  oder  elementar  zum  Bewusstsein  zu  bringen  oder, 
mit  andern  Worten,  nicht  aus  der  Mannichfaltigkeit  der  Neben- 
gebilde und  Verwicklungen  auszuscheiden  vermögen.  Dagegen  kön- 
nen wir  von  den  Elementen  der  Lust  sowohl  als  des  Schmerzes  mit 
vollem  Recht  behaupten,  dass  in  diesen  einfachen  Theilempfindungen, 
aus  denen  sich  die  volle  Empfindung  zusammensetzt,  kein  andereä 
Grundschema  möglich  sei,  als  dasjenige,  welches  dem  Fundamental- 
typus der  objectiven  Welt  entspricht.  Dieses  ist  aber  der  mecha- 
nische Antagonismus. 

Es  ist  nicht  erst  die  besondere  Einrichtung  eines  empfiudenden 
Organs,  sondern  schon  die  ganze  objective  Welt,  welche  auf  die  Her- 
vorbringung von  Lust  und  Schmerz  angelegt  ist.  Aus  diesem  Grunde 
nehmen  wir  an,  dass  der  Gegensatz  von  Lust  und  Schmerz  und  zwar 
genau  in  der  uns  bekannten  Weise  ein  universeller  sei  und  in  den 
verschiedenen  Welten  des  Alls  durch  wesenthch  gleichartige  Gefühle 


—     140     — 

vertreten  sein  müsse.  Diese  Gleichartigkeit  kann  sich  aber  nur  auf 
die  Elemente  des  Fühlens  beziehen  und  keine  grössere  Uebereinstim- 
mung  ergeben,  als  sie  etwa  auch  zwischen  der  Bewusstseinsregung 
des  niedrigsten  Thieres  und  derjenigen  des  Menschen  besteht.  Diese 
Uebereinstimmung  bedeutet  aber  nicht  wenig;  denn  sie  ist  der 
Schlüssel  zu  dem  Universum  der  Empfindungen.  Absolut  fremd  ist 
uns  daher  der  allgemeinen  Art  nach  Nichts.  Unsere  eignen  Gefühle 
mögen  sich  in  andern  Wesen  gesteigert  finden ;  aber  sie  werden  we- 
nigstens nothwendige,  wenn  auch  zu  neuen  Zusammensetzungen  ver- 
werthete  Bestandtheile  jedes  Ich  bilden  müssen.  Uns  ist  mithin  die 
subjective  kosmische  Welt  nicht  viel  fremder  als  die  objective.  Die 
Constitution  beider  Reiche  ist  nach  einem  übereinstimmenden  Typus 
zu  denken,  und  hiemit  haben  wir  die  Anfänge  zu  einer  Bewusstseins- 
lehre,  die  eine  grössere  als  blos  terrestrische  Tragweite  hat. 

Es  ist  kein  müssiges  Spiel  der  Speculation,  das  Bewusstaein  in 
seiner  kosmischen  Allgemeinheit  zu  betrachten  und  die  Universalität 
der  Elemente  von  Lust  und  Schmerz  zugleich  objectiv  und  subjectiv 
begreifen  zu  wollen.  Nur  durch  das  Grosse  und  Umfassende  dieser 
Wendung  gelangen  wir  über  die  Beschränktheiten  der  gewöhnlichen 
Auffassungsart  hinaus.  Das  Zufällige  und  Willkürliche  verschwindet 
auch  im  subjectiven  Reich,  und  die  Phantasie,  die  sich  so  gern  in 
die  dunkle  Wüste  leerer  Möglichkeiten  begiebt  und  mit  den  Vor- 
stellungen des  völlig  Andern  und  absolut  Charakterlosen  ein  nichts- 
sagendes Spiel  treibt,  wird  an  bestimmte  Elemente  gebunden  und 
auf  typische  Charaktere  hingewiesen,  in  deren  Combination  sie  sich 
einigermaassen  positiv  bethätigen  kann. 

5.  Die  Begriffe  Leben  und  Empfindung  decken  sich  insofern 
nicht,  als  die  subjectiv  gefühlte  Regung  gänzlich  fehlen  und  dennoch 
das,  was  wir  Leben  nennen  und  dem  Tode  entgegensetzen,  sehr  wohl 
vorhanden  sein  kann.  Erstens  hört  mit  den  Unterbrechungen  der 
Empfindung  und  des  Bewusstseins  bei  den  thierischen  Wesen  be- 
kanntlich das  Leben  nicht  auf;  aber  man  könnte  einwenden,  dass 
wenigstens  die  Anlage  zur  bewussten  Empfindung  hier  immer  vor- 
handen sein  müsse.  Dagegen  sind  die  Pflanzen  gänzlich  und  für 
immer  ohne  die  leiseste  Spur  von  Empfindung  und  auch  ohne  jede 
Anlage  dazu.  Dennoch  reden  wir  von  ihrem  Absterben  und  schreiben 
ihnen  mithin  eine  Art  Leben  zu.  Der  eigenthümlich  complicirte 
Process  der  Bewegung  von  Säften  sowici  eine  eigentliche  Ernährung 
und  Fortpflanzung  bilden  hier  mit  dem  Erlöschen  der  Wirksamkeit 


—     141     - 

des  Organisationsschema  das  sichere  Merkmal  des  eigentlichen  und 
nicht  blos  metaphorisch  so  genannten  Lebens.  Der  Stoffwechsel,  der 
sich  vermöge  einer  plastisch  bildenden  Schematisirung  vollzieht,  bleibt 
stets  ein  auszeichnender  Charakter  des  eigentlichen  Lebensprocesses. 
Wollte  man  nämlich  die  chemischen  und  physikalischen  Hergänge, 
wie  sie  sich  in  der  Kjrystallbildung  zeigen,  in  ihren  einheitlichen 
Ursachen  mit  den  Principien  des  Aufbaus  der  Pflanzenkörper  ver- 
gleichen, so  würde  mindestens  die  selbständige  Ausscheidung  von 
Stoffen  nicht  aufzufinden  sein,  und  auch  die  Aufaahme  derselben 
könnte  immer  nur  als  äusserliche  Ansetzung  begriffen  werden.  Ganz 
besonders  aber  würde  man  die  Fortdauer  eines  Wechsels  von  Bildung 
und  Zerstörung  im  Innern  stets  vermissen,  und  demgemäss  Hesse  sich 
auch  für  das,  was  wir  bei  den  Pflanzen  den  Tod  nennen,  kein  Ana- 
logon  auftreiben.  Die  rastlose  Zersetzung  oder  Composition,  welche 
vornehmlich  an  den  Oberflächen  der  Körper  vor  sich  geht,  ist  ein 
Act  von  rein  chemischem  Charakter  und  repräsentirt  zwar  die  all- 
gemeine Bewegung  oder  Regsamkeit  im  System  der  Dinge,  darf  aber 
nicht  mit  dem  specifischen  Leben  im  engeren  Sinne  dieses  Worts 
irgend  confundirt  werden.  Auch  die  unorganische  Welt  ist  ein 
System  sich  selbst  vollziehender  Regungen;  aber  erst  da,  wo  die 
eigentliche  Gliederung  und  die  Vermittlung  der  Circulation  der 
Stoffe  durch  besondere  Canäle  von  einem  innern  Punkte  und  nach 
einem  an  ein  kleines  Gebilde  übertragbaren  Keimschema  beginnt, 
darf  man  im  engem  und  strengern  Sinne  von  eigentlichem  Leben 
zu  reden  unternehmen.  Andernfalls  versteht  es  sich  nämlich  von 
selbst,  dass  der  Ausdruck  Leben  nur  eine  figürhche  Rolle  spielt  und 
nichts  weiter  als  die  Selbständigkeit  aller  Bewegungen  der  Natur 
oder  aber  eine  besondere  Steigerung  irgend  eines  Bewegungsspiels 
bedeuten  kann. 

Das  zur  Empfindung  beanlagte  Leben  wird  sich  in  dieser  Eigen- 
schaft dadurch  bekunden,  dass  die  Anlage  auch  wirklich  mehr  oder 
minder  hervortritt  und  in  subjectiven  Gefiihlsformen  erkennbar  wird. 
Geschähe  dieses  nicht,  so  würde  man  ja  willkürlich  eine  Ursache 
vorausgesetzt  haben,  deren  Wirkung  regelmässig  ausbliebe,  und  die 
Annahme  einer  Anlage  zur  Empfindung,  die  sich  nie  bethätigte, 
wäre  eine  der  willkürlichsten  Phantasieausschweifungen.  Physiolo- 
gisch ist  die  Empfindung  au  das  Vorhandensein  irgend  eines,  wenn 
auch  noch  so  einfachen  Nervenapparats  geknüpft.  Es  ist  daher  das 
Charakteristische  aller  thierischen  Gebilde,  der  Empfindung  d.  h.  einer 


—     142     - 

subjectiv  bewussten  Auffassung  ihrer  Zustände  fähig  zu  sein.  Die 
scharfe  Grenze  zwischen  Pflanze  und  Thier  liegt  da,  wo  der  Sprung 
zur  Empfindung  vollzogen  wird.  Diese  Grenze  lässt  sich  sowenig 
durch  die  bekannten  Uebergangsgebilde  verwischen,  dass  sie  viel- 
mehr grade  durch  diese  äusserlich  unentschiedenen  oder  unentscheid- 
baren  Gestaltungen  erst  recht  zum  logischen  Bedürfniss  gemacht 
wird.  Der  Umstand,  dass  eine  Ellipse  mit  sehr  kleiner  Excentricität 
für  die  sinnenmässige  Auffassung  vom  Kreise  nicht  zu  unterscheiden 
ist,  berechtigt  keinen  streng  denkenden  Mathematiker,  den  begriff- 
lichen Sprung  zu  verkennen,  der  den  völligen  Wegfall  von  dem  Da- 
sein einer  wenn  auch  noch  so  kleinen  und  nach  Belieben  unbeschränkt 
klein  zu  setzenden  Excentricität  trennt.  In  dem  einen  Fall  haben 
wir  den  Kreis,  in  dem  andern  ein  dem  Begriff  nach  gänzlich  ver- 
schiedenes Gebilde,  nämlich  die  Ellipse  mit  ihren  ungleichen  Axen. 
Aehnlich  verhält  es  sich  nun  auch  mit  allen  realen  Gattungen  in 
der  Natur.  Aus  dem  Reich  der  Empfindungslosigkeit  tritt  man  in 
dasjenige  der  Empfindung,  trotz  aller  quantitativen  Allmäligkeit,  nur 
mit  einem  qualitativen  Sprunge  ein,  von  dem  wir,  wenn  wir  uns 
nicht  den  poetischen  Gebrauch  des  Worts  versagt  hätten,  behaupten 
könnten,  dass  er  sich  unendlich  von  der  blossen  Gradation  einer  und 
derselben  Eigenschaft  unterscheide.  Keine  Darwinistische  Halbpoesie 
und  Metamorphosenfertigkeit  mit  ihrer  grobsinnlichen  Enge  der  Auf- 
fassung und  Stumpfheit  der  Unterscheidungskraft  kann  hier  auf  die 
Dauer  die  Wesensverschiedenheit  der  beiden  Gebiete  verhüllen,  und 
man  sollte  sich  doch  erst  an  der  Entstehung  der  Arten  mathema- 
tischer Gebilde  orientiren,  ehe  man  dem  Vorwitz  nachgiebt,  funda- 
mentale Trennungen  in  den  Elementen  der  Gattungen  mit  sinnlichen 
Oberflächlichkeiten  verwischen  und  aus  Allem  Eins  oder  vielmehr 
aus  Allem  Jedes  machen  zu  wollen.  Sicherlich  sind  Leben  und  Em- 
pfindung nur  Combinationen  der  allgemeinen  Naturkräfte,  aber  eben 
solche  Combinationen,  die  derartig  unter  besondem  Bedingungen 
hervortreten,  dass  ihre  specifische  Artung  nicht  mit  den  andern  For- 
men der  Natur  verwechselt  oder  als  blos  quantitative  Variation  eines 
sonst  identischen  Etwas  ausgegeben  werden  darf.  Verwahren  wir 
uns  nicht  gehörig  gegen  diese  leichtfertigen  Metamorphosen  der 
Empfindungslosigkeit  in  Empfindung,  so  könnten  wir  schliesslich 
noch  dazu  gelangen,  uns  die  spiritistische  Wiederaufweckung  der 
Todten  gefallen  lassen  zu  müssen. 


—     143     -- 

Wie  die  lebendige  Anlage  zur  Empfindung  zur  actuellen  Em- 
pfindung werde,  erproben  wir  jeden  Augenblick  an  uns  selbst;  denn 
jede  neue  Empfindung,  die  in  uns  auftaucht,  kann  uns  über  diesen 
Punkt  belehren.  Die  Empfindung  entsteht,  wie  wir  schon  oben  ge- 
sagt haben,  nicht  nothwendig  und  niemals  unmittelbar  aus  einer 
andern  Empfindung,  sondern  aus  unempfimdenen  Productiousfactoren. 
Sie  entspringt  vermöge  eines  Mechanismus,  der  an  sich  selbst  eben 
keine  Empfindung  ist;  aber  dieser  Mechanismus  muss  bereits  objectiv 
das  Leben  enthalten.  Die  Stufenfolge  von  den  letzten  mechanischen 
Kräften  bis  zum  Ergebniss  des  Bewusstseins  muss  daher  eingehalten 
und  die  vegetative  Sphäre  des  Pflanzlichen  eingeschoben  werden, 
wenn  der  thierische  Organismus  entstehen  und  Empfindung  produ- 
cirt  werden  soll.  Die  nächste  Beziehung  aller  Empfindung  auf  einen 
Gegenstand  kann  mithin  nicht  zweifelhaft  bleiben.  Es  sind  die 
Hauptfunctionen  des  pflanzlichen  Lebens,  die  im  thierischen  Orga- 
nismus zur  Selbstwahrnehmung  gelangen  und  gleichsam  in  die  Sprache 
der  Empfindung  übersetzt  werden.  Hieraus  ergeben  sich  nach  Innen 
gekehrte  oder  vielmehr  zunächst  auf  innere  Erregungen  beschränkte 
Gefühle,  die  den  Ernährungszustand  des  betreffenden  Wesens  inter- 
pretiren.  Da  nun  das  rein  Theoretische  hier  immer  zugleich  mit 
dem  Praktischen  verbunden  ist,  so  mischt  sich  in  die  Kunde,  die 
durch  das  Gefühl  von  den  Zuständen  des  objectiven  Lebens  gegeben 
wird,  zugleich  der  Trieb  oder,  genauer  gesagt,  die  Triebempfindung. 
Die  Emährungsverhältnisse  werden  durch  das  Gefühl  von  Hunger 
und  Durst  oder  von  Sättigung  sowie  auch  durch  den  Mangel  solcher 
Empfindungen,  also  durch  die  Indifferenz,  angezeigt.  Ist  in  dem  je- 
weiligen Zustande  des  Bluts  eine  derartige  Störung  der  Mischungs- 
verhältnisse eingetreten,  dass  eine  Ausgleichung  durch  Wasserhaltiges 
objectiv  nothwendig  ist,  so  übersetzt  sich  diese  Tendenz  oder  Span- 
nung in  die  Empfindung  des  Durstes.  So  werden  die  im  Gaumen 
und  auf  der  Zunge  localisirten  und  grade  dort  vornehmlich  in  Em- 
pfindungen subjectivirten  Regungen  gleichsam  zu  Boten,  welche  von 
dem  Gesammtzustand  des  Leibes  Nachricht  geben.  Indessen  sind  es 
nicht  blos  Boten,  sondern  auch  zugleich  thätige  Gewalten,  die  sich 
bei  der  Erledigung  der  von  ihnen  gemeldeten  Angelegenheiten  mit 
Kraft  und  Einsicht  betheiligen.  Sie  spielen  nicht  nur  eine  zu  Hand- 
lungen aufstachelnde  Rolle,  sondern  wenden  die  Kenntniss,  die  sie 
mitbringen,  auch  nach  Aussen,  um  über  die  Zuträglichkeit  der  sich 
darbietenden  Objecte  zu  entscheiden.   In  dieser  Function  specialisiren 


—    144    — 

sie  sich  zu  besondem  und  zwar  vornehmlich  chemischen  Sinnen. 
Geschmack  und  Geruch  sind  Beurtheiler  der  äussern  Objecte,  die  mit 
ihnen  durch  materielle  Absonderung  oder  Zersetzung  in  innige  Be- 
rührung kommen.  Die  Aufnahme  des  zur  Ausgleichung  Passenden 
und  die  Fernhaltung  des  Störenden  sind  hier  in  Rücksicht  auf  die 
intimsten,  nicht  blos  äusserlich  mechanischen  oder  physikalischen, 
sondern  chemischen  Eigenschaften  der  Materie  und  ihrer  individuellen 
Theilchen  die  charakteristischen  Functionen.  Diese  Art  von  Sinnes- 
causalität  enthält  nun  aber  schon  etwas  mehr,  als  die  einheitliche, 
den  Unterschied  des  Innern  und  Aeussern  noch  nicht  besonders  unter- 
scheidende allgemeine  Empfindung. 

6.  Von  der  Empfindung  kann  man  die  Vorstellung  unterscheiden, 
und  alsdann  braucht  man  letzteres  Wort  in  einem  engeren  Sinne  als 
gewöhnlich.  Es  ist  nämlich  das  Auszeichnende  der  eigentlichen  Vor- 
stellung, dass  sie  eine  räumhche  oder  zeitliche  Beziehung  in  bestimmter 
Weise  ausdrückt.  Wir  stellen  die  Körper  vor,  indem  wir  die  blossen 
Empfindungserregungen,  welche  durch  die  Farbe  gegeben  sind,  nicht 
nur  im  Zusammenhang  mit  der  Gestaltung,  sondern  auch  in  be- 
stimmter Lage  und  Entfernung  denken.  Dieser  Act  des  Vorstellens 
beschränkt  sich  keineswegs  auf  äusserliche  Wirklichkeiten,  sondern 
ist  in  ziemlich  gleicher  Weise  auch  bei  der  Erzeugung  der  Traum- 
bilder im  Spiele.  Die  anschauliche  Vorstellung  von  einer  Entfernung 
ist  aber  weit  davon  entfernt,  ein  realer  und  messbarer  Abstand  zu 
sein.  Ebenso  ist  die  Form  des  Anschauens,  die  wir  Vorstellungs- 
raum nennen,  und  in  welcher  sich  uns  die  Traumbilder  gleich  den 
Wirklichkeiten  präsentiren,  nicht  mit  der  mechanischen  Ausdehnung 
der  Materie  zu  verwechseln.  Das  blosse  Bild  der  Materie  und  ihrer 
örtlichen  Verhältnisse  ist  weit  davon  entfernt,  die  Materie  selbst  zu 
sein.  Auch  ist  die  Vorstellung  von  den  mechanischen  Kräften,  also 
z.  B.  die  Widerstandsvorstellung,  wie  wir  sie  ja  auch  im  Traume 
haben  können,  sorgfältig  von  der  objectiven  Realität  mechanischer 
Beziehungen  zu  unterscheiden.  Die  Verwechselung  der  blossen  For- 
men und  Eigenschaften  des  Bewusstseins  mit  derjenigen  Wirklich- 
keit, zu  deren  Ausdruck  in  Bildern  und  Gedanken  sie  wesentlich 
bestimmt  sind,  ist  der  metaphysische  Idealismus.  Jedoch  wäre  die 
Bezeichnung  dieser  höheren  Wahnsinnsgattung  als  Idolismus  besser 
am  Platze;  denn  das  Wort  Idealismus  hat  für  das  praktische  Gebiet 
nicht  nur  einen  zu  guten  Klang,  sondern  auch  thatsächlich  eine  zu 
hohe  Bedeutung,   als  dass  man  den  Missbrauch  und  die  Entehrung 


—     145     — 

desselben   im    theoretischen  Gebiet  der  Wahnmetaphysik   als   etwas 
Gleichgültiges  hingehen  lassen  könnte. 

Man  hat  in  der  Physiologie  der  Sinnes  Werkzeuge  und  in  der 
zugehörigen  innem  Zergliederung  des  Vorgangs  der  Sinnesanschauung 
viel  Gewicht  darauf  gelegt,  dass  die  unmittelbaren  Erregungen^,  die 
sich  zunächst  als  Empfindungen  geltend  machen,  erst  durch  eine  Art 
von  Verstandesthätigkeit  zu  eigentlichen  Vorstellungen  umgearbeitet 
werden  müssen.  Die  blosse  Empfindung  des  Hellen  ergiebt  noch 
keinen  eigentlichen  Gegenstand,  und  man  kann  auch  allenfalls  von 
der  Farbe  sagen,  dass  die  in  ihr  vertretene  Empfindung  noch  nicht 
die  Vorstellung  der  farbigen  Ausdehnung  selbst  sei.  Im  Ton  haben 
wir  das  strengste  Beispiel  von  etwas,  was  sich  der  reinen  Empfin- 
dung als  solcher  am  meisten  nähert,  insofern  es  am  wenigsten  von 
eigentlichen  Vorstellungen,  also  von  Voraussetzungen  über  Oerter 
und  dingliche  Gegenstände  begleitet  zu  sein  braucht.  Unterscheidet 
man  nun  das  innerlich  und  unmittelbar  Empfundene  von  den  be- 
gleitenden Orientirungsmitteln  der  angedeuteten  Art,  so  wird  man 
allerdings  in  den  Fall  kommen,  das  ürtheil  über  die  Räumlichkeit 
auf  einen  besondern  Mechanismus  des  Denkens  zurückfuhren  zu  müs- 
sen. Indessen  hat  man  sich  hier  doch  sehr  ernstlich  vor  der  Ver- 
tauschung von  zwei  äusserlich  leicht  coufundirbaren  Ansichten  zu 
hüten.  Die  Thatsache,  dass  man  in  einem  gewissen  Sinne  sehen 
lernen  und  überhaupt  den  richtigen  Gebrauch  aller  Sinne  erst  durch 
Erfahrung  gleichsam  einschulen  muss,  berechtigt  noch  nicht  im  Ent- 
ferntesten zu  der  Annahme,  dass  in  den  Sinnen  von  vornherein  kein 
Schema  gegeben  sei,  welches  die  wesentlichen  Möglichkeiten  des  Vor- 
stellens  einschliesst.  Es  ist  besonders  die  dritte  Dimension,  die  bei 
der  Anschauung  der  Körper  auf  Rechnung  eines  speciellen  Verstandes- 
actes  gesetzt  wird.  Nun  sind  alle  Schätzungen  der  Raumg  rossen, 
und  zwar  diejenigen  des  Umfangs  ebensogut  als  diejenigen  der  di- 
recten  Entfernung,  im  besondem  Fall  stets  auf  Vergleichungen  und 
irgend  welche  vorgängige  Messungen  bekannter  und  erprobter  Ver- 
hältnisse zurückzuführen.  Allein  die  Beschaffenheit  der  Anschauungs- 
bilder wird  hiedurch  nicht  verändert,  und  diese  Anschauungsbilder 
selbst  sind  zwar  auch  bei  dem  Kinde  nicht  sofort  in  gleicher  Ge- 
stalt fertig,  wie  bei  dem  bereits  weiter  entwickelten  Menschen,  müs- 
sen aber  doch  als  unmittelbare  Erzeugnisse  der  Sinnesbethätigung 
betrachtet  werden.  Es  ist  nicht  erst  ein  Ürtheil  oder  ein  sogenannter 
Schluss,  welcher  uns  von  dem  Dasein  einer  Entfernung  Kunde  giebt ; 

Du  bring,  CurBus  der  Philosophie.  10 


—     146    — 

es  ist  vielmehr  der  Mechanismus  des  sinnlichen  Vorstellens  selbst, 
durch  welchen  die  räumlichen  Verhältnisse  verbürgt  werden.  Nur 
die  Bestimmtheit  der  Messung  oder  Schätzung  hängt  von  der  Aus- 
bildung, Uebung  und  Erfahrung  ab.  Die  Einmischung  des  über- 
legenden Verstandes  ist  etwas  Nachträgliches,  wovon  die  ursprüng- 
liche Entstehung  der  Anschauungsbilder  und  die  Vorstellung  derselben 
nach  drei  Dimensionen  keineswegs  abhängig  ist.  Will  man  nun  etwa 
das  Unwillkürliche  in  den  orientirenden  Eigenschaften  des  Spiels  der 
Sinneskräffce  Verstand  nennen,  so  würde  sich  der  Streit  nicht  mehr 
um  das  Tiefere  der  Sache,  sondern  nur  um  die  Angemessenheit  des 
Wortgebrauchs  bewegen  können.  In  einer  weiteren  Fassung  des  Be- 
griffs haben  wir  ja  selbst  bereits  der  Empfindung  eine  Rolle  zuge- 
schrieben, vermöge  deren  sie  die  Auslegerin  objectiver  Verhältnisse 
ist.  Warum  sollte  diese  Art  Verständniss  nicht  noch  weit  leichter 
in  den  orientirenden  VorsteUungsthätigkeiten  anerkannt  werden?  In 
dieser  Richtung  läge  also  kein  Hindemiss,  die  Anschauung  als  einen 
Vorgang  gelten  zu  lassen,  durch  welchen  die  mechanischen  Aus- 
dehnungsverhältnisse der  Materie  interpretirt  werden.  Jedoch  grade 
in  diesem  scheinbaren  Zugeständniss  liegt  die  Widerlegung  der  un- 
haltbaren Ansicht,  dass  die  räumlichen  Verhältnisse  nicht  durch  die 
Sinne  aufgefasst,  sondern  vermöge  einer  von  den  Sinnen  verschiede- 
nen Macht  erst  zu  der  an  sich  unausgedehnten  ReaUtät  raumloser 
Dinge  hinzugedacht  würden.  Was  die  Physiologie  als  solche  be- 
hauptet, ist  wenigstens  zum  Theil  ohne  Bedenken  annehmbar.  Was 
aber  zu  Gunsten  des  metaphysischen  Idolismus  hinzugefügt  wird, 
hat  mit  den  Erfahrungsnothwendigkeiten  und  mit  den  logischen 
Erfordernissen  der  Sinneserklärung  nichts  zu  schaffen. 

7.  Die  objective  Bedeutung  und  systematische  Beschaffenheit 
der  specialisirten  Gruppe  der  eigenthchen  und  nach  Aussen  gekehr- 
ten Sinne  begreift  sich  leicht,  sobald  man  die  für  das  tiefere  Denken 
unumgängliche  Voraussetzung  macht,  dass  die  eigenthümlichen  Ge- 
staltungen der  einzelnen  Sinnesthätigkeiten  sämmtlich  eine  und  die- 
selbe Grundoperation  einschliessen.  Es  ist  die  Wahrnehmung  irgend 
eines  materiellen  uud  mechanischen  Widerstandes  sowie  der  Grössen- 
änderungen  desselben,  was  wir  auch  da  als  Grundform  der  Sinnes- 
empfindung voraussetzen  müssen,  wo  kein  eigentliches  Muskelgefiihl 
im  Spiele  sein  mag.  Das  Getast  ist  offenbar  die  unterste,  aber  hie- 
mit  auch  zugleich  fundamentalste  Grundform  der  Sinnesbethätigung. 
Es    entspricht    den    grob    und    gleichsam    massenhaft  mechanischen 


—     147     — 

Verhältnissen  der  objectiven  Welt,  insofern  dieselben  durch  unmittel- 
bare Berührung  constatirbar  sind.  Es  gesellt  sich  zu  ihm  aber  als 
gleichartig  alles  das,  was  man  direct  als  mechanischen  Kraftsinn  be- 
zeichnen könnte.  Die  Empfindung  des  Gewichts  und  der  Spannung, 
möge  sie  nun  von  ausserleiblichen  Gegenständen  oder  von  den  Leibes- 
gliedem  und  ihren  Verhältnissen  selbst  herrühren,  ist  in  der  ganzen 
Gattung  eine  wesentliche  Form.  Der  mechanische  Kraftsinn  ist  mit- 
hin die  Grundlage  alles  Tastens,  so  dass  die  Wahrnehmung  der  Figur 
der  Körper  durch  tastende  Umschreibung  ihrer  Oberflächen  und 
schätzende  Bemessung  ihrer  Dimensionen  bereits  als  ein  secundärer 
Act,  nämlich  als  ein  zugehöriges  Vorstellen,  im  engeren  Sinne  dieses 
Worts,  kenntlich  wird. 

In  der  That  wäre  es  auch  ein  arger  Widerspruch,  wenn  der 
Aufbau  und  die  Einrichtung  der  Sinne  nicht  mit  der  Constitution 
der  Welt  in  der  Artung  und  in  den  Be stand theilen  zusammenträfen. 
Wie  die  mechanischen  Verhältnisse  der  Materie  das  durchgängige 
Grundschema  der  objectiven  Existenz  sind  und  wie  alle  besondem 
Kräfte  gleichsam  aus  dem  einen  mechanischen  Kraftfond  schöpfen, 
so  muss  auch  die  mechanische  Widerstandsempfindung  das  letzte 
Element  aller  Sinneswahrnehmung  sein.  Die  Realität  ist  in  ihrer 
letzten  Grundform  eine  mechanische.  Die  Auffassung  dieser  Realität 
muss  sich  dadurch  vollziehen,  dass  eine  mechanische  Wirkung  in 
Empfindung  übersetzt  wird.  Die  mechanische  Gausalität  der  Natur- 
kräfte wird  in  der  Fundamentalempfindung  so  zu  sagen  subjectivirt. 
Die  Thatsache  dieses  elementaren  Subjectivirungsvorgangs  kann  offen- 
bar nicht  weiter  erklärt  werden;  denn  irgendwo  und  unter  irgend 
welchen  Bedingungen  muss  die  bewusstlose  Mechanik  der  Welt  zum 
Gefühl  ihrer  selbst  gelangen.  Es  geschieht  Letzteres  bekanntlich 
vermöge  der  Nerven,  und  Alles,  was  nicht  Nervensystem  ist,  kann 
als  ein  physikalisches  Aussenwerk  zur  Beschaffung  bestimmter  me- 
chanischer Erregungen  betrachtet  werden,  die  im  Nervensystem  selbst 
ihre  letzte,  ebenfalls  mechanische,  aber  sich  mit  Empfindung  ver- 
bindende Form  gewinnen.  Es  giebt  also  kein  Theilchen  des  Leibes, 
welches  nicht  mechanisch  afficirt  würde.  Mit  der  Wirklichkeit  aller 
Dinge  hängt  unser  organisirter  Körper  dadurch  zusammen,  dass  sein 
mechanischer  Zustand  stets  ein  Theilzustand  der  universellen  Mechanik 
des  Kosmos  ist.  Die  Bewegungen  innerhalb  des  grossen  Körpers, 
den  wir  Natur  oder  Welt  nennen,  gestalten  sich  in  dem  kleinen 
Körper,   welcher  der  unmittelbare  Träger  unseres  Bewusstseins  ist, 

10* 


—    148    — 

zu  einer  besondern  Actionsgruppe,  und  die  Zustände  gewisser  Theile 
dieser  letztem  Gruppe  finden  sich  mit  einem  subjectiven  Gefühl  ihrer 
selbst  ausgestattet.  Der  Krafteinheit  muss  nun,  wie  gesagt,  eine 
Sinneseinheit  gegenüberstehen,  und  wie  sich  die  volle  Wirklichkeit 
durch  reale  Kräfte  charakterisirt,  so  wird  auch  die  Wahrnehmung 
des  Wirklichen  nicht  blos  von  dem  finiher  erwähnten  Leitfaden  der 
Materialität,  sondern  direct  von  der  Kette  der  mechanischen  Causa- 
lität  abhängen. 

Diese  letztere.  Nothwendigkeit  drängt  uns  eine  Vorstellungsart 
auf,  die  in  der  Physiologie  bisher  noch  nicht  vertreten  war.  Wir 
müssen  nämlich  auch  bei  den  höchsten  Sinnesoperationen  etwas  dem 
Tasten  Analoges  annehmen  und  in  ihnen  als  Grundform  einen  me- 
chanischen Kraftsinn  in  der  strengsten  Bedeutung  des  Worts  zu- 
lassen. Es  ist  nicht  genug,  dass  man  von  Erzitterungen  der  Nerven- 
enden und  von  deren  Fortpflanzung  rede;  es  ist  nicht  genug,  dass 
man  z.  B.  die  mechanischen  Affectionen  der  Netzhautgebilde  als  Wir- 
kungen der  Aetherbewegung  ansehe;  —  man  muss  auch  in  subjec- 
tiver  Hinsicht  einen  entsprechenden  Schritt  thun  und  sich  vorstellen, 
dass  der  Act  des  Sehens  mit  dem  des  tastenden  Fühlens  gleichartig 
ist  und  eben  nur  über  ein  besonderes  Gebiet  der  universellen  Me- 
chanik Aufschlüsse  ertheilt.  Auch  in  dem  Sehact  ist  die  Widerstands- 
empfindung die  Grundform,  und  der  Umstand,  dass  sie  für  das  Be- 
wusstsein  einen  andern  Charakter  hat,  als  die  Ergebnisse  des  Wagens 
und  der  eigentlichen  Muskelaction,  darf  uns  nicht  überraschen.  Das 
Specifische  der  Sinnesenergien,  auf  welches  sich  einige  Physiologen 
an  Stelle  einer  wahren  Erklärung  der  Zusammensetzung  berufen,  ist 
nichts  als  ein  Ausdruck  der  Unkunde  bezüglich  des  einheitlichen 
Systems,  welches  durch  alle  Sinnesformen  hindurchgeht.  Uebrigens 
beruht  aber  die  wahre  Specification  auf  der  Einrichtung  der  Sinnes- 
organe für  einzelne  materielle  Medien.  Die  Tonempfindung  bezieht 
sich  unmittelbar  auf  Erzitterungen,  die  normaler  Weise  von  der  Luft 
her  übertragen  werden,  oder,  genauer  ausgedrückt,  die  Erzitterungen 
im  Bereich  des  Luftmeeres  sind  der  eigentliche  Gegenstand,  zu  dessen 
Wahrnehmung  das  Gehör  bestimmt  ist.  Hieraus  folgt  unmittelbar 
die  geringe  Tragweite  dieses  Sinnes,  der  für  das  Verständniss  der 
Wesen  unter  sich  und  für  die  Aufmerksamkeit  auf  die  nächste  Um- 
gebung Alles,  übrigens  aber  für  die  umfassendere  Welt  Nichts  ist. 

Die  falsche  physikalische  Vorstellung,  als  wenn  diejenige  Ma- 
terie,   deren  mechanischer  Beweguugszustand  das  Licht  und  dessen 


—     149     — 

kosmische  Allgemeinheit  ergiebt,  etwas  völlig  Eigenartiges  wäre,  was 
den  Gesetzen  der  übrigen  Materie  nicht  unterworfen  werden  dürfte, 
hat  auch  die  Ansichten  über  das  Sehen  nach  der  Seite  des  Idolismus 
hin  gefälscht.  Die  Berkeleyschen  Cruditäten  würden,  ich  will  nicht 
sagen  in  der  Philosophasterei  (denn  dorthin  gehören  solche  Unge- 
reimtheiten nach  altem  und  neuem  Recht),  sondern  in  der  Optik 
keine  Liebhaber  finden,  wenn  nicht  die  physikalische  üeberlieferung 
noch  einigermaassen  an  den  Nachwirkungen  unmaterieller  und  unme- 
chanischer Vorstellungsarten  kränkelte.  Namentlich  ist  es  das  meta- 
physisch etwas  anrüchige  Zwittergebiet  der  physiologischen  Optik, 
was  den  logischen  oder  vielmehr  unlogischen  Pfuschereien  bequeme 
Handhaben  darbietet. 

8.  Besässen  wir  bereits  eine  hinreichende  Kenntniss  von  der 
Stufenfolge  im  Kräftesystem  der  Natur,  so  würden  wir  auch  die  Be- 
sonderheiten in  der  Lagerung  und  Schichtung  der  verschiedenen 
Sinnesgebilde  näher  angeben  können.  Für  jetzt  müssen  wir  uns  mit 
der  Voraussetzung  begnügen,  dass  keine  besondere  Sinnesgattung 
existirt,  der  nicht  eine  Kraftform  oder  materielle  Eigenschaft  in  der 
Natur  entspräche.  Der  umgekehrten  Annahme,  dass  sich  jede  we- 
senthche  Grundform  der  Naturschematik  in  einer  Sinnesgattung  sub- 
jectivirt  finden  müsse,  können  wir  uns  insofern  nicht  entziehen,  als 
vollkommene  Wesen  und  eine  vollkommene  Erkenntniss  in  Frage 
sind.  In  der  That  können  diejenigen  Kräfteformen,  die  sich  in 
einem  universell  erkennenden  Wesen,  wie  es  der  Mensch  ist,  nicht 
mit  besondern  Auffassungsorganen  ausgestattet  finden,  nur  von 
zweiter  Ordnung  und  nicht  von  elementarer  sondern  erst  von  indi- 
recter  Wirksamkeit  sein.  Jedoch  dürfen  wir  in  dieser  Richtung  die 
besondem  Fälle  nicht  zu  rasch  entscheiden  wollen;  denn  wie  wenig 
wissen  wir  z.  B.  über  den  Wärmesinn  in  der  Haut?  Niemand  kann 
bis  jetzt  angeben,  wieweit  die  elektrischen  Kräfteformen  und  Zustände 
der  Natur  in  der  Fundamentalmechanik  der  dumpferen  oder  auch 
der  höheren  und  höchsten  Sinneswahrnehmungen  eine  Rolle  spielen, 
oder  wieweit  überhaupt  das  Grundphänomen  aller  Empfindung  von 
jenen  antagonistischen  Regungen  abhängig  sei. 

Die  Function  der  Sinne  ist  in  der  streng  wissenschaftlichen  Be- 
deutung des  Worts  eine  mechanische  Arbeit.  Die  Vermittlung  der 
Erkenntniss  durch  diese  Arbeit  hängt  davon  ab,  dass  der  ganzen 
objectiven  Schematik  der  Natur  ein  subjectives  Vorstellungssystem 
entspreche,  welches  sowohl  in  den  Elementen  als  in  den  zusammen- 


—    150    — 

gesetzten  Gebilden  mit  der  äussern  Wirklichkeit  in  Beharrung  und 
Veränderung  zusammenstimmt.  Es  braucht  nicht  in  jedem  niedrig- 
sten Wesen  Alles  in  Vorstellung  verwandelbar  zu  sein;  aber  was 
irgendwo  und  irgendwie  in  ein  subjectives  System  übergeht,  muss 
auch  äusserlich  in  der  Natur  eine  in  sich  zusammenhängende  und 
selbstgenugsame  Gruppe  von  Grundlagen  alles  Seins  bilden.  Es  ist 
nicht  ausgeschlossen,  dass  sich  über  diesen  Grundlagen  noch  höhere 
Gebilde  aufrichten,  deren  volles  Wesen  nicht  in  die  Wahrnehmung 
niederer  thierischer  Bewusstseinsformen  eingehen  kann.  Hieraus  folgt 
aber  nur,  dass  der  subjective  Apparat  einer  Steigerung  fähig  ist,  die 
der  Stufenfolge  der  Wirklichkeiten  entspricht.  Im  absolut  Funda- 
mentalen müssen  die  Auffassungen  aller  Wesen  einheitlich  und  ge- 
meinschaftlich sein,  wie  es  die  Natur  selbst  ist.  Die  Schematik  der 
Sinne  wird  daher  stets  ein  Ausdruck  der  Stufenfolge  der  Natur- 
schematik  und  mithin  der  Grundeigenschafteu  aller  wirklichen  und 
möglichen  Existenz  sein  müssen.  Ja  sogar  das,  was  eine  oberfläch- 
liche Beurtheilung  blos  als  willkürliches  Merkzeichen  der  objectiven 
Elemente  ansehen  könnte,  nämlich  die  rein  subjective,  äusserlich 
nicht  noch  einmal  vorhandene,  also  ausschliesslich  empfundene  oder 
vorgestellte  Beschaffenheit  des  Erscheinens  der  einzelnen  Bewusst- 
seinsbestandtheile  darf  nicht  wie  ein  zufälliges  Alphabet  angesehen 
werden,  das  sich  in  andern  Wesen  mit  einer  fundamental  abweichen- 
den Schreibart  vertauscht  finden  könnte.  Wie  Lust  und  Schmerz  in 
der  Innerlichkeit  der  Empfindung  überall  und  durchgängig  die  näm- 
Hchen  Gefühlsbestimmungen  sind,  und  wie  es  thöricht  sein  würde, 
das  leere  Wort  und  die  völlig  hohle  Begriffschaale  einer  andern 
Empfindungsspaltung  oder  eines  andern  fundamentalen  Gefühl sinhalts 
für  eine  Einsicht  oder  auch  nur  für  die  Anweisung  auf  eine  mög- 
liche Einsicht  ausgeben  zu  wollen,  so  ist  es  auch  eine  arge  Gedanken- 
losigkeit, zu  meinen,  die  subjective  Vorstellung  von  der  Bewegmigs- 
erscheinung  oder  von  einem  Sinneseindruck  könnte  in  audera 
Subjectivitäten  durch  beliebige,  für  uns  unbestimmbare  Mittel  der 
Bewusstseinsgestaltung  ersetzt  werden.  Wie  uns  zu  Muthe  ist  und 
wie  uns  die  Dinge  erscheinen,  kann  freilich  in  der  Specialisiruug 
des  Bewusstseins  anderer  Wesen  für  die  besondem  Züge  und  Zu- 
sammensetzungen nicht  unmittelbar  maassgebend  sein;  allein  die 
Elemente  alles  innerlichen  Befindens  und  aller  Beschaffenheiten  des 
subjectiven  Vorstellens  müssen  sich  als  einerlei  erweisen.  Fehlt  ims 
auch    in    der  bisherigen   Wissenschaft  noch  das   allgemeine  Gesetz, 


—     151     — 

nach  welchem  der  reale  Vorgang  unter  bestimmten  Bedingungen 
zur  Bildung  der  Subjectivität  und  der  einzelnen  subjectiven  Elemente 
führt,  so  ist  doch  die  zwingende  Nothwendigkeit  offenbar,  um  der 
einheitlichen  Systematik  willen  das  Reich  des  Subjectiven  nicht  blos 
in  sich  überall  mit  sich  selbst  analog,  sondern  auch  als  eine  einheit- 
liche Hervorbringung  aus  dem  allgemeinen  Natursein  zu  denken. 
Diese  einheitliche  Hervorbringung  muss  nun  aber  das  Sein  vollständig 
decken,  und  dies  wäre  nicht  möglich,  wenn  es  noch  einen  zweiten 
Weg  der  Natur  gäbe,  zur  Selbstempfindung  ihrer  Elemente  zu  ge- 
langen. Der  Unterschied  zwischen  zwei  Arten,  denselben  elemen- 
taren und  schematischen  Vorgang  in  ein  Bewusstseinselement  zu 
verwandeln,  würde  nur  darauf  beruhen  können,  dass  für  das  eine 
Mal  etwas  subjectiv  weggelassen  wäre,  was  in  dem  andern  Fall  zum 
Ausdruck  gelangt  ist.  Eine  solche  Voraussetzung  widerspräche  aber 
der  absoluten  Einfachheit,  die  wir  für  das  objective  wie  für  das  sub- 
jective  Element  angenommen  haben  und  die  in  dem  Begriff  des  Ele- 
mentes selbst  liegt.  Es  kann  sich  also  zu  dem  elementaren  Schema 
der  Wirklichkeit  auch  nur  ein  einziges  Elementargebilde  der  Sub- 
jectivität gesellen.  Diese  elementare  Verbindung  selbst  muss  aber 
als  Fundamentalthatsache  gleich  einem  realen  Axiom  gelten. 


Z-^^eites   Oapitel- 
Triebe  und  Leidenschaften. 

Wenn  die  Sinneswerkzeuge  vornehmlich  auf  die  Vermittlung 
der  Erkenntniss  eingerichtet  sind,  so  hat  das  System  der  Triebe 
und  Leidenschaften  in  seiner  äussern  Bestimmung  wesentlich  solche 
Functionen,  die  auf  das  Handeln  abzielen.  Die  theoretische  und  die 
praktische  Verrichtung  mischen  sich  indessen  in  irgend  einem  Ver- 
hältniss  in  jeder  Empfindung.  Es  giebt  nämlich  unter  den  im  Be- 
wusstsein  vorhandenen  Gattungen  keine  einzige,  welche  uns  nicht 
Etwas  über  bestimmte  reale  Beziehungen  unseres  eignen  oder  des 
Körpers  der  Welt  lehren  könnte,  oder  mit  welcher  sich  nicht  auch 
irgend  eine  treibende  Kraft  zu  irgend  einer,  sei  es  blos  organischen 
oder  nach  Aussen  gerichteten  Thätigkeit  verbunden  finden  müsste. 
In  den  eigentlichen  Sinnen,  wie  z.  B.  im  Sehen,  kann  ein  Trieb  zur 


—     152     — 

Bethätigung  derselben  nicht  geleugnet  werden,  und  mit  den  eigent- 
lichen Triebempfindungen  ist  zugleich  in  einem  und  demselben  Ge- 
fühl die  Erkenntniss  von  einem  Mangel  und  von  dem,  was  natur- 
gemäss  sein  soll,  innig  verbunden.  Man  könnte  in  der  letzteren 
Beziehung  nicht  etwa  blos  behaupten,  dass  in  den  Trieben  ein  ge- 
wisses Maass  unmittelbarer,  nicht  auf  Ueberlegung  beruhender  Ver- 
nunft sei,  sondern  sogar,  dass  die  Vernunft  in  ihren  höheren 
Steigerungen  gar  keine  andere  Grundlagen  und  für  ihren  Inhalt 
keinen  andern  Ausgangspunkt  habe,  als  die  triebförmigen  Noth- 
wendigkeiten.  Die  letzteren  sind  nun  allerdings  nie  ohne  innere 
oder  äussere  Reize  vorhanden,  und  so  muss  man  denn  sagen,  dass 
die  Energie  der  Sinne,  die  nach  Bethätigung  verlangt,  nur  an  und 
mit  den  Reizen  wahrnehmbar  werde.  Hören  diese  Reize  völlig  auf, 
so  muss  das  Spiel  der  Sinne  auf  die  Dauer  ebenfalls  zurücktreten, 
gleichsam  einschlafen  und  schliesslich  absterben.  Die  Functionen 
sind  es  also,  vermöge  deren  das  ganze  System  der  Fähigkeiten,  auf 
die  Natur  zu  wirken  und  deren  Verhältnisse  zu  deuten,  in  leben- 
diger Leistungsfähigkeit  erhalten  wird.  Sinne,  die  nicht  gehörig 
bethätigt  werden,  müssen  mit  der  Zeit  verkümmern  und  in  der  Ab- 
folge der  Generationen  fast  zu  einem  Nichts  einschrumpfen.  Triebe 
und  Leidenschaften,  für  welche  keine  objective  Erregungen  statt- 
haben, werden  im  Laufe  der  Zeit  nicht  blos  in  den  Hintergrund  ge- 
drängt, sondern  gradezu  entwurzelt  werden  müssen. 

Nun  haben  allerdings  die  äussern  oder  innem  Reize,  die  nichts 
als  eine  Art  der  allgemeinen  Naturcausalifcät  sind,  ihre  unverbrüch- 
liche Gesetzmässigkeit  und  ein  gewisses  Maass  normalen  Bestandes. 
Auch  die  Einrichtung  der  die  Triebe  empfindenden  Wesen  ist  so  be- 
schaffen, dass  deren  wesentliche  Natur  selbst  untergehen  müsste, 
wenn  das  System  der  erforderlichen  triebförmigen  Determinationen 
verschwinden  sollte.  Es  ist  mithin  dafür  gesorgt,  dass  die  objective 
Welt  mit  ihren  Reizen  und  die  subjective  Welt  mit  ihfer  Vielheit 
strebender  Wesen  stets  einen  gemeinsamen  Bestand  an  Erregungen 
und  Erregbarkeiten  aufweisen.  Was  innerhalb  dieses  Bestandes  an 
Wandlungen  mit  der  allgemeinen  Constitution  der  Welt  und  den 
maunichfaltigen  Ichbildungen  verträglich  ist,  mag  sich  in  der  Ent- 
wicklung vollziehen  und  sowohl  in  Ausmerzungeu  als  in  Bereiche- 
rungen von  Triebformen  und  Leideu Schaftsgattungen  zeigen.  Wir 
dürfen  aber  hieraus  nicht  den  Schluss  ziehen,  dass  wir  ganze  Classen 
von  Trieben  und  Leidenschaften,    die  von   einer   kurzsichtigen  und 


—     153     — 

beschränkten  Moral  in  scheinheiliger  Weise  geächtet  werden,  aus 
der  menschlichen  Natur  verbannen  oder  aus  irgend  einer  analogen 
Wesensform  im  Kosmos  wegdenken  könnten,  ohne  die  unumgäng- 
lichen Nothwendigkeiten  alles  Lebensspieles  zu  verleugnen. 

Die  Triebe  sind  nichts  weiter  als  Triebkräfte,  zu  denen  sich 
eine  Empfindung  und  zwar  derartig  gesellt,  dass  diese  Empfindung 
selbst  das  Mittel  wird,  durch  welches  die  Natur  zu  einer  bestimmten 
Function  antreibt.  Als  Grundlage  mag  man  sich  also  immerhin 
einen  bewusstlosen  Mechanismus  denken;  die  eigentliche  Leitung  der 
weiteren  Thätigkeit  wird  trotzdem  durch  das  rein  Subjective  des  Ge- 
fühls bewirkt.  Hierin  liegt  die  Kluft  zwischen  der  Nacht  eines  aus- 
schliesslich objectiven  Vorgangs  und  dem  Licht  einer  subjectiv  be- 
wussten  Thätigkeit.  Das  Empfindungsgefuhl  hat  selbst  alle  diejenigen 
Eigenschaften,  durch  welche  die  Wesen  zu  dem  ihrer  Natur  ent- 
sprechenden Thun  augetrieben  werden.  Der  Antrieb  liegt  also  in 
der  Empfindung  und  nicht  vor  der  Empfindung;  denn  diejenige 
Triebkraft,  welche  vor  der  Empfindung  ins  Spiel  gesetzt  wird,  um 
die  noch  nicht  vorhandene  Empfindung  oder  den  noch  erst  hinzu- 
zuftigenden  Bestandtheil  derselben  hervorzubringen,  gehört  dem  rein 
objectiven  Mechanismus  an  und  unterscheidet  sich  ftmdamental  in 
nichts  von  den  motorischen  Mitteln  unserer  Maschinenmechanik, 
lieber  die  Art,  wie  der  gesammte  Naturmechanismus  zu  denken  sei, 
ohne  nach  der  Analogie  unserer  Maschinen  die  Hineinlegung  eines 
ft-emden  Verstandes  voraussetzen  zu  müssen,  lässt  sich  bei  dieser  Ge- 
legenheit in  Kürze  an  nichts  weiter  erinnern,  als  dass  ohne  Empfin- 
dung dennoch  in  den  Dingen  eine  Selbstbestimmung  zur  mechani- 
schen Action  vorhanden  sein  müsse.  Wenn  sich  ein  bewusstes  Ding 
vermöge  der  Empfindung  zu  bestimmten  Bewegungen  angetrieben 
findet,  so  kann  bei  dem  bewusstlosen  Dinge  eine  in  der  Form  über- 
einstimmende aber  nicht  durch  Empfindung  vermittelte,  trotzdem 
aber  aus  ihm  selbst  oder  überhaupt  aus  dem  System  der  Dinge  ent- 
springende mechanische  Action  völlig  rationell  vorausgesetzt  werden. 
Wenn  die  Welt  oder  das  Ganze  des  Seins  nicht  etwa  als  eine  schliess- 
lich ablaufende  und  in  das  absolute  Nichts  mündende  und  sich  selbst 
sammt  ihrem  Material  zerstörende  Maschine  gedacht  werden  soll, 
was  eine  offenbare  Absurdität  sein  würde,  so  muss  nicht  blos  das 
heutige  Dasein,  sondern  der  ursprünglich  mit  keinem  zählbaren 
Wechselspiel  behaftete  Zustand  der  Materie  die  Kräfte  in  sich  ge- 
tragen   haben,    vermöge    deren    die    zeitliche  Abfolge  mechanischer 


—     154    — 

Rhythmen  zur  SelbstvoUziehung  gelangt  ist.  Uebrigens  würde  zu 
einer  absoluten  Selbstzerstörung,  die  das  Material  mitbeseitigte,  nicht 
weniger  eine  ursprünglich  und  radical  eigne  Kraft  der  einzelnen 
Dinge  und  ihres  Systems  gehören,  als  zu  der  ähnlichen  Widersinnig- 
keit einer  absoluten  Selbstschöpfung  aus  Nichts.  Die  den  Dingen 
eigne  Selbstmechanik,  die  von  ausserhalb  des  Systems  nichts  bedarf, 
geht  über  die  bisherigen  Analogien  der  menschlichen  Maschinen- 
mechanik hinaus  und  muss  dies  auch,  da  jede  Construction,  die  wir 
entwerfen,  in  ihrer  Möglichkeit  nur  darauf  beruht,  dass  sie  ein  Theil 
in  dem  universellen  System  ist,  in  welchem  sowohl  die  gewöhnlichen 
Naturkräfte  als  unser  technischer  Verstand  die  Rolle  von  blossen 
Mitteln  spielen.  Wir  legen  also  den  individuellen  Theilchen  der 
Materie  vor  allen  übrigen  Actionen  auch  die  Trägerschaft  aller  me- 
chanischen Beziehungen  und  die  Eigenschaft  bei,  der  zureichende 
Ausgangspunkt  eines  universellen  Selbstmechanismus  zu  sein,  der  in 
den  empfindenden  Wesen  auch  diejenigen  Triebkräfte  liefert,  die  wir, 
insofern  sie  von  Empfindung  begleitet  sind,  im  eigentlichen  Sinne 
des  Worts  Triebe  nennen. 

Bei  der  Besprechung  der  Empfindung  und  der  Sinne  konnte 
uns,  da  es  sich  mit  Rücksicht  auf  die  Sinne  zunächst  um  Erkennt-- 
niss  handelte,  die  Naturmechanik  nur  insoweit  eine  Aufklärung  ver- 
schaffen, als  sich  auch  im  Subjectiven  der  durchgängige  Antagonis- 
mus von  Kräften  als  Grundgestalt  zeigte.  Jetzt  haben  wir  es  mit 
einem  Gegenstand  zu  thun,  welcher  der  praktischen  Mechanik  weit 
näher  liegt,  da  nicht  blos  die  Erkenntniss  sondern  die  Wirksamkeit 
in  Frage  kommt.  Was  die  Wesen  nach  Maassgabe  ihrer  Empfin- 
dungen thun  können  and  müssen,  das  wird  durch  die  triebförmigen 
Anregungen  bestimmt.  Wir  bedürfen  also,  wie  schon  bei  Erörterung 
des  Darwinismus  angeführt  wurde,  nicht  der  nebelhaften  Vorstellun- 
gen von  sogenannten  Instincten ;  sondern  es  wird  im  Gegentheil  jede 
Erklärung  illusorisch  werden,  die  sich  auf  Instincte  benift,  wenn 
der  mit  diesem  Wort  verbundene  Begriff  sich  nicht  klar  und  deut- 
lich in  objectiven  Mechanismus  und  in  eine  ausserdem  vermittelnde 
Triebempfindung  subjectiv  bekannter  Art  auflösen  lässt. 

2.  Solange  man  zwischen  Thier  und  Mensch  die  Gemeinschaft^ 
lichkeit  eines  Grundschema  in  der  Einrichtung  des  Bewusstseins 
leugnete,  war  es  eine  Art  Fortschritt,  wenn  man  eine  instinctive 
Thätigkeit  auch  bei  dem  Menschen  anzuerkennen  anfing.  Das  Thema 
von  dem  Instincte  im  Menschen  war  in  der  That  sehr  geeignet,  über 


—     155     — 

den  unterbau  des  überlegenden  Verstandes  zu  erheblichen  Auf- 
schlüssen zu  fuhren.  Vollständig  können  aber  derartige  Einsichten 
erst  werden,  wenn  man  die  thierischen  Instincte,  die  man  im  Men- 
schen nachgewiesen  hat,  nun  auch  selbst  wiederum  aus  dem  mensch- 
lichen Wesen  deuthcher,  und  hiemit  die  unbestiromten  Vorstellungen, 
die  sich  bisher  an  das  Wort  Instinct  und  an  die  entsprechende  Gruppe 
von  Thatsachen  geknüpft  haben,  ganz  und  gar  entbehrlich  macht. 
Die  Wirkungen  aller  Instincte,  seien  es  eigentliche  Kunsttriebe, 
blosse  Wahrnehmungen  oder  sonstige  Anregungen  des  Verhaltens, 
müssen  darauf  beruhen,  dass  in  einer  Empfindung,  also  in  der  Ge- 
stalt eines  Reizgefühls,  Richtung  und  Weg  der  Thätigkeit  unmittel- 
bar vorgeschrieben  werden.  Die  Unmittelbarkeit  dieser  Anregungen 
zu  einem  bestimmten  Verhalten  wird  darin  bestehen,  dass  die  Ver- 
mittlung durch  ideelle  Conceptionen  fehlt,  die  sich  in  der  Form  des 
überlegenden  Verstandes  auf  etwas  in  der  Zukunft  oder  in  räum- 
licher Entfernung  Liegendes  beziehen.  So  kann  das  sogenannte 
Wittern  einer  Wetterveränderung,  die  z.  B.  erst  nach  einem  Tage 
oder  einer  Anzahl  Stunden  eintritt,  offenbar  nicht  als  eine  Vorweg- 
nahme des  Zukünftigen  nach  Art  der  Voraussicht  durch  Anschauungs- 
vorstellungen, also  nicht  durch  eine  auf  Erfahrung  beruhende  Ver- 
knüpfung ideeller  Conceptionen,  sondern  nur  als  eine  Auslegung 
gegenwärtiger  meteorologischer  Vorgänge  erklärt  werden.  Das  Zu- 
künftige wird  hier  gar  nicht  erschlossen,  weil  es  überhaupt  selbst 
nicht  den  Gegenstand  bildet,  der  in  Empfindung  übersetzt  wird.  Es 
sind  nur  die  Vorbereitungen  des  zukünftigen  Zustandes,  die  sich  in 
den  subjectiven  Erregungen  ankündigen.  Es  sind  die  ersten,  übrigens 
nicht  weiter  wahrnehmbaren  Einleitungen  einer  sich  später  vervoll- 
ständigenden Veränderung,  durch  welche  die  Sphäre  der  allgemeinen 
Empfindung  oder  besondere  animale  Organe  in  Mitlei deuschaft  ver- 
setzt werden.  Auch  der  Antrieb,  den  die  Zugvögel  empfinden,  die 
Klimate  regelmässig  zu  vertauschen,  ist  als  ein  Empfindungsreiz  zu 
denken.  Wieviel  Antheil  hiebei  die  bewusste,  auf  Erfahrung  be- 
ruhende Vorstellung  habe,  kann  dahingestellt  bleiben;  denn  selbst 
die  Auflösung  dieses  Instinctes  in  eine  Vergesellschaftung  von  Er- 
fahrungsanschauungen würde  die  Grundwahrheit  nicht  umstossen. 
Diese  fundamentale  Wahrheit  besteht  in  dem  Satze,  dass  es  stets 
nur  das  unmittelbar,  nämlich  zeitlich  und  räumlich  Gegenwärtige 
ist,  was  den  Reiz  ausübt  und  in  eine  Empfindung  übersetzt  wird. 
Eine  Wirkung   aus   der  Zukunft  in   die  Gegenwart  wäre  die  wider- 


—     156     — 

sinnigste  Ungereimtheit,  und  dennoch  verfallen  diejenigen,  welche 
die  Vorgefühle  in  roher  und  leider  noch  immer  populärer  Weise 
auffassen  und  auslegen,  regelmässig  in  jene  Absurdität.-  Das  Zu- 
künftige muss,  um  für  ein  empfindendes  Wesen  in  der  vorwegnehmen- 
den Anschauung  dasein  zu  können,  erst  aus  einer  Wirkung,  die  sich 
in  der  Gegenwart  vollzieht,  als  Vorstellung  construirt  werden.  Es 
kann  daher  keinen  Verkehr  mit  der  Zukunft  geben,  der  nicht  aus 
einer  Anregung  stammte,  die  bereits  zum  Theil  vergangen  sein  muss, 
ehe  sich  daran  eine  Voraussicht  knüpfen  kann.  Das  Vorstellen  ist 
es  also,  was  uns  die  möglichen  Züge  der  Zukunft  erschliesst,  indem 
es  mit  den  Bildern  nicht  blos  der  thatsächlichen  Vergangenheit, 
sondern  auch  mit  den  Elementen  dieser  Bilder  operirt.  Die  Phan- 
tasie reicht  mithin  in  die  Zukunft,  indem  sie  das  leitende  Empfin- 
dungsmaterial aus  der  Gegenwart,  die  entsprechenden  Elementarbilder 
aber  auch  aus  der  Vergangenheit  entnimmt.  Sieht  man  von  der 
bewussten  Vorstellung  ab,  so  bleibt  die  vorstellungslose  Wirklichkeit 
übrig,  und  diese  ist  an  sich  selbst  und  fär  uns  stets  nur  eine  Gegen- 
wart. Alle  Causalität  und  mithin  auch  diejenige,  aus  welcher  die 
Vorstellungen  entspringen,  muss  in  einem  solchen  Gegenwartspunkte 
concentrirt  sein;  denn  wäre  sie  dies  nicht,  so  würde  sie  überhaupt 
gar  nicht  etwas  Reales  sein  können.  Ja  selbst  das  Ideelle,  welches 
seinem  Gegenstande  nach  eine  Beziehung  auf  die  Zukunft  oder  Ver- 
gangenheit hat,  wurzelt  an  sich  selbst  in  einer  unmittelbar  gegen- 
wärtigen Erregung,  die  als  solche  eine  volle  Wirklichkeit  hat,  wäh- 
rend das  Zukünftige  oder  Vergangene  stets  nur  den  Charakter  einer 
phantasiemässigen  Vorstellungswelt  aufweisen  kann.  In  den  soge- 
nannten Instincten  kann  hienach  nie  etwas  hegen,  was  nicht  in  der 
Form  der  Gegenwärtigkeit  verursacht  oder  motivirt  wäre.  Es  ist 
eine  superstitiose  Einbildung,  wenn  man  eine  reale  Wirkung  aus 
zeitlicher  Ferne  annimmt.  Die  Vermittlung  durch  die  Vorstellungs- 
bildung ist  der  einzige  Weg,  auf  welchem  sowohl  das  Reich  der 
ideellen  Rückerinnerung  als  die  Sphäre  der  Zukuuftsanticipationen 
zu  Stande  kommt. 

In  der  Bewusstseinslehre  können  besondere  Instincte,  die  sich 
nicht  auf  die  schematischen  Elemente  aller  Empfindung  und  Vor- 
stellung zurückführen  lassen,  nur  als  willkürliche  Einbildungen  gelten, 
die  sich  bei  strengerer  Untersuchung  als  unmögliche  Ungereimtheiten 
erweisen.  Die  Sphäre  unserer  inneni  Gefühle  ist  der  Schlüssel  für 
alle  Elemente   animalischer  Subjectivität.     Was  sind   nun  die  sog©- 


—     157     — 

nannten  Instincte  in  uns  selbst?  Offenbar  nur  Anregungen  in  Trieb- 
form oder,  wenn  es  sich  um  das  instinctive  Wissen  handelt,  solche 
Wahrnehmungen,  deren  Inhalt  und  Bedeutung  nicht  wesentlich  von 
der  gewöhnlichen  Sinnesauffassung  und  verstandesmässigen  Ueber- 
legung  herzurühren  scheint.  Sobald  wir  die  sinnenmässigen  En*e- 
gungen  in  ihrer  ganzen  Weite  und  Feinheit  genauer  untersuchen, 
werden  wir  stets  finden,  dass  es  in  uns  keine  Antriebe  oder  Erkennt- 
nissformen giebt,  die  räthselhafter  wären,  als  Hunger  und  Geschlechts- 
trieb oder  als  Sehen,  Hören  und  Lust-  oder  Schmerzgefühl.  Was 
man  sich  als  dämonisches  Element  unbestimmbaren  und  dunklen 
Ursprungs  vorgestellt  hat,  ist  nichts  weiter  als  das  Ergebniss  einer 
schwerer  bioszulegenden  Zusammensetzung  bekannter  Triebe  uad 
Affecte.  Auch  die  dunklen  Regungen  von  scheinbar  grundlosen  und 
oft  mystisch  gedeuteten  Sympathien  und  Antipathien  lassen  sich  in 
entlegene  Verknüpfungen  von  Empfindungen  und  in  einen  Trieb- 
schematismus auflösen,  der  uns  in  seinen  gröberen  Gestalten  völHg 
geläufig  und  kein  Gegenstand  superstitioser  Verwunderung  oder  Ge- 
heimnissthuerei  zu  sein  pflegt.  Neigung  und  Widerwille  sind  meist 
vorhanden,  ohne  dass  man  sie  in  ihre  Bestandtheile  zergliedert,  auf 
ihre  besondern  Theilursachen  zurückfuhrt  und  sich  ein  mit  Unter- 
schieden bereichertes  Bewusstsein  davon  bildet.  Wenn  man  die  Ab- 
neigung gegen  eine  Person  oder  die  Besorgniss  vor  der  Einlassung 
auf  eine  bestimmte  Handlung  instinctiv  nennt,  so  kann  man  ratio- 
neller Weise  hiemit  nichts  Anderes  sagen  wollen,  als  dass  man  im 
Bereich  der  Gefühle  einen  Antagonismus  verspürt,  dessen  besondere 
Mechanik  zu  verwickelt  und  dessen  constitutive  Bestandtheile  zu  ge- 
mischt und  verhüllt  sind,  um  für  das  unmittelbare  Bewusstsein  ohne  Wei- 
teres in  den  Einzelheiten  und  Gründen  verständlich  werden  zu  können. 
3.  Es  giebt  im  animalischen  Wesen  überall  und  durchgängig 
einen  Unterbau  von  nothwendigen  Trieben,  über  dem  sich  die  Affecte 
als  eine  besondere  Gruppe  von  Gebilden  aufgeführt  finden.  Jenes 
Fundament  zeigt  zwei  Hauptgestalten,  nämhch  einerseits  die  Triebe, 
welche  das  Ernährungsbedürfniss  ausdrücken,  und  andererseits  jene 
Reizempfindung,  durch  welche  zur  Fortpflanzung  angeregt  wird. 
Hunger  und  Durst  sowie  der  Geschlechtstrieb  bilden  die  unumgäng- 
Hchen  Attribute  aller  uns  innerlich  in  ihrer  Empfindung  verständ- 
lichen Animalität.  Die  hohe  Veredlung,  deren  besonders  die  Ge- 
schlechtsempfindungen  in  dem  höher  entwickelten  Menschenwesen 
fähig  sind,    darf  uns  auf  der  untersten  Stufe  der  Werthschätzung 


—     158    — 

nicht  irre  machen.  Auch  Angesichts  der  leidenschaftlichen  Geschlechts- 
liebe haben  wir  es  dem  Kerne  nach  mit  jenem  fundamentalen  Triebe 
zu  thun,  und  selbst  der  Enthusiasmus,  mit  welchem  die  am  edelsten 
gestalteten  Geschlechtsaffecte  auftreten,  ist  nur  eine  Form,  in  welcher 
die  auf  die  idealere  Seite  des  Menschlichen  gerichteten  Geschlechter- 
beziehungen empfunden  und  vorgestellt  werden.  Wenn  schon  zwi- 
schen Trieb  und  Trieb  in  der  rein  animalen  Bedeutung,  also  nament- 
lich in  den  Variationen  und  Veredlungen  des  unmittelbaren  Lust- 
gefühls, ein  gewaltiger  Unterschied  herrscht,  so  müssen  die  dem 
Geschlechtsact  femerliegenden  Affectionen  um  so  mehr  die  mannich- 
faltigsten  Schattirungen  annehmen  und  die  wichtigsten  Bereicherun- 
gen durch  idealere  Erregungen  erfahren  können.  Die  Compositions- 
methode,  welcher  hier  die  Natur  in  der  Hervorbringung  der  höchsten 
Lebensgefühle  folgt,  lasst  sich  zwar  noch  nicht  anatomisch  sichtbar 
machen,  ist  aber  in  ihren  Ergebnissen  hinreichend  angedeutet.  Der 
blosse  Trieb  in  seiner  untersten  Gestaltung  bildet  immer  die  Grund- 
lage, mit  deren  Wegziehung  auch  alles  Uebrige  zusammenfällt. 

Wir  betrachten  die  Triebe  meistens  als  Veranstaltungen  der 
Natur  zur  Sicherung  solcher  Thätigkeiten ,  deren  Bewerkstelligung 
den  Weg  durch  ein  Bewusstsein  nehmen  und  von  dem  Wollen  eines 
empfindenden  Wesens  abhängig  werden  soll.  Nun  lassen  sich  Er- 
nährung und  Vermehrung,  wie  das  Pflanzenreich  zeigt,  auch  ohne 
eigentlichen  und  mithin  empftindenen  Trieb  sehr  wohl  vermitteln. 
Hieraus  folgt,  dass  nicht  blos  das  Empfinden  überhaupt,  sondern 
auch  speciell  das  Empfinden  der  Triebe  um  seiner  selbst  willen  vor- 
handen ist.  Wäre  nämlich  nur  die  Erzielung  einer  äussern  Ver- 
richtung, wie  des  Stoffwechsels  oder  der  Vervielfältigung,  der  ent- 
scheidende Grund  zu  den  Einrichtungen,  so  hätte  sich  die  Natur 
den  Luxus  der  Triebempfindungen  erlassen  können,  zumal  mit  dieser 
neuen  Schöpfung  des  Subjectiven  auch  die  lästige  Nothwendigkeit 
eintritt,  in  die  zu  empfindenden  Antriebe  zu  einem  wesentlichen 
Theil  unangenehme  Erregungen  aufzunehmen.  Wir  können  daher 
mit  aller  Bestimmtheit  davon  ausgehen,  dass  die  Triebempfindungen 
nur  nebenbei  auch  zu  Mitteln  für  einen  sonst  auch  ohne  sie  erreich- 
baren Zweck  gemacht,  in  der  Hauptsache  aber  um  der  Befriedigung 
willen  geschaffen  worden  sind,  die  mit  ihrem  Spiel  verbunden  ist. 
Die  mit  ihnen  verbundene  Lust  ist  der  offenbare  Selbstzweck  und 
die  sie  begleitende  Unlust  muss  als  ein  unumgänglicher  Bestand  theil 
der  nothwendigen  Verfassung  einer  solchen  Empfindungssphäre  an- 


—     159     — 

gesehen  werden,  wie  sie  sich  unter  Voraussetzung  des  zu  Grunde 
liegenden  empfindungslosen  Schematismus  der  Dinge  construiren 
liess.  Warum  aber  dieser  Schematismus  und  die  Natur  überhaupt 
den  antagonistischen  Charakter  haben  und  ein  Stufensystem  des 
Mangels  darstellen  musste,  dafür  dürfte  wiederum  der  Schlüssel  weit 
leichter  in  dem  nofch wendigen  Wesen  der  Triebempfindung  selbst, 
als  irgendwo  anders,  gefunden  werden.  Die  Reize  eines  Lebens- 
spieles lassen  sich,  wie  wir  unsere  Phantasie  und  unser  Denken  auch 
wenden  mögen,  nie  und  nirgend  anders  hervorgebracht  denken,  als 
durch  die  entsprechende  Schöpfung  von  Bedürfnissen  und  Befriedi- 
gungskräften. In  den  empfundenen  Antrieben  haben  wir  nun  die 
Grundlage  von  Beidem;  wir  haben  den  Mangel  und  den  Sporn  zur 
ausgleichenden  Thätigkeit.  Bedürfniss  und  Arbeit  gehen  Hand  in 
Hand ;  denn  schon  die  Functionen  der  Organe,  die  den  Stoff  aneignen 
und  umbilden,  können  als  Leistungen  von  Arbeit,  nämlich  von  phy- 
siologischer Arbeit,  angesehtn  werden.  Weiterhin  darf  man  aber 
nicht  bei  dieser  ersten  Verbindung  des  Bedürfnisses  mit  der  Arbeit 
stehen  bleiben,  sondern  muss  von  dem  Grundgerüst  der  gemeinsten 
Triebe  aus  die  Arbeits-  und  Machtentfaltungen  verfolgen.  Die  Natur 
hat  es  in  ihrem  grossen  Arbeitssystem  überall  auf  die  Ueberwindung 
von  Hindernissen  abgesehen,  die  Befriedigungen  und  Genüsse  aber 
offenbar  nicht  ohne  die  vorgängigen  Bedürfhisse  und  diese  wiederum 
nicht  ohne  das  Dazwischentreten  eben  jener  Hindernisse  und  Tren- 
nungen erzeugen  können. 

4.  Wenn  die  Triebe  um  der  sie  begleitenden  Empfindung  willen 
hervorgebracht  sind,  so  folgt  hieraus  keineswegs,  dass  ihre  Bezie- 
hungen zu  den  ausser  ihnen  liegenden  Naturzwecken  nur  eine  geringe 
Bedeutung  haben.  Die  Natur  ist  eine  Art  Kreissystem.  Sie  entwirft 
die  gegenständlichen  und  empfindungslosen  Vorbedingungen  einer 
empfindenden  Wesensgruppe.  Sie  vollzieht  gleichsam  den  Bau  der 
gegenständlichen  Welt,  um  in  gewissen  Körpern  empfindende  Punkte 
und  ein  subjectives  Reich  aufleuchten  zu  lass'en.  Wenn  nun  auch 
dieses  letztere  ihr  höchster  Zweck  ist,  so  muss  sie  doch  immer  wieder 
von  Neuem  die  gegenständhche  Welt  in  Ordnung  halten,  und  dies 
kann  nicht  anders  geschehen,  als  indem  auch  die  Empfindungen 
selbst  den  äusseren  Zwecken  durch  Anregung  bestimmter  Verrich- 
tungen dienstbar  werden.  Die  Aeusserlichkeit  der  Erfolge  ist  hiebei 
nur  ein  Durchgangspunkt,  um  die  innere  Welt  der  Empfindung  zu 
fördern.   Die  Triebe  sind  daher  im  Allgemeinen  nur  Mittel  für  solche 


—     160   .— 

Zwecke,  die  wiederum  Mittel  zur  Bereicherung  der  Empfindungswelt 
werden.  Man  muss  sich  daher  des  Vorurtheils  entäussern,  als  wenn 
Hunger  und  Durst  oder  Geschlechtstrieb  nur  dazu  dawären,  das  che- 
mische Gleichgewicht  der  Blutmischung  oder  die  Forterhaltung  der 
Art  zu  sichern.  Man  darf  jedoch  mit  der  Ablegung  dieses  Vorurtheils 
nicht  etwa  wähnen,  über  die  hochwichtigen  Zweckbeziehungen  hin- 
wegsehen zu  können,  vermöge  deren  jeder  besondere  Trieb  nach 
Aussen  eine  entscheidende  Function  zu  üben  hat.  Angesichts  der 
Einheit  und  Einstimmung  des  objectiven  und  subjectiven  Systems 
wird  man  sogar  die  Natürlichkeit  der  Triebgestaltung  nach  der  Art 
und  dem  Grade  beurtheilen  können,  in  welchem  die  äusseren  Natur- 
zwecke gesichert  sind.  Man  wird  diejenigen  Triebgebilde  als  Ver- 
irrungen  bezeichnen,  bei  denen  eine  Entfernung  von  dem  Naturzweck 
unverkennbar  ist,  wie  z.  B.  bei  dem  Cultus  von  Geschlechtsempfin- 
dungen und  entsprechenden  Leidenschaftsregungen  zwischen  Personen 
desselben,  sei  es  des  männlichen,  sei  e»  des  weiblichen  Geschlechts. 
Der  tiefere  Grund  für  die  Verwerf Hchkeit  solcher,  sogar  selbst  in 
einem  gewissen  Sinne  naturwüchsiger  Triebgebilde,  liegt  jedoch 
keineswegs  in  ihrer  gegenständlichen  Nutzlosigkeit;  vielmehr  ist 
diese  Nutzlosigkeit  oder  Schädlichkeit  nur  ein  Merkmal,  dass  von 
derjenigen  Ordnung  der  Dinge  abgewichen  ist,  die  allein  dauernd 
auch  die  subjective  Befriedigung  der  Empfindung  sichern  kann.  Die 
Technik  der  Natur  würde  an  sich  selbst  eine  theilweise  Störung  ver- 
tragen ;  aber  es  stehen  hier  höhere  Interessen  auf  dem  Spiele,  indem 
die  Harmonie  der  Empfindungen  selbst  durch  solche  fehlerhafte  Ab- 
schweifungen beeinträchtigt  und  schliesshch  in  unerträglichen  Wider- 
streit verwandelt  werden  muss.  Allerdings  sind  die  fraglichen,  vor- 
zugsweise als  griechisch  und  antik  bekannten,  übrigens  aber  bei 
allen  Völkern  und  zu  allen  Zeiten  mehr  oder  minder  vorgekomme- 
nen eingeschlechtigen  Regungen  offenbar  selbst  sehr  begreifliche 
Naturerzeugnisse;  aber  eben  hieraus  können  wir  die  Compositions- 
schwächen  oder,  mit  andern  Worten,  die  Nothwendigkeitsschranken 
in  den  Operationen  der  Natur  um  so  besser  kennen  lernen.  Die 
Ablenkung  des  Geschlechtstriebes  in  seinen  niedern  Gestaltungen 
sowie  der  leidenschaftlichen  Geschlechtsaffecte  in  ihren  höheren  enthu- 
siastischen Formen  auf  Individuen  gleichen  Geschlechts  lässt  sich 
rein  ursächlich  als  eine  Wirkung  der  gewöhnlichen  geschlechtlichen 
Anordnungen  der  Natur  erklären.  Die  Triebempfindung  musste  an 
bestimmte  äussere  Reize  geknüpft  werden,  und  es  war  nicht  zu  ver- 


—     161     - 

meiden,  dass  sich  etwas  den  normalen  Reizen  Gleichartiges  unter 
besondem  Umständen  für  die  körperliche  und  geistige  Beschaffen- 
heit beider  Geschlechter  verwirklichte,  zumal  wenn  man  die  Unter- 
schiede der  Altersstufen  und  der  Charaktere  in  Anschlag  bringt. 
Auch  die  Verzerrungen,  die  in  diesem  Gebiet  entstehen,  sind  als 
Fehlgriffe  anzusehen,  die  der  Natur  selbst  nicht  völlig  fremd  bleiben. 
Schliesslich  ist  die  Natur  selbst  in  ihrem  Gesammtentwurf  auch  die 
entferntere  Ursache  aller  Ab-  und  Ausschweifungen,  und  wo  wir 
vom  Widernatürlichen  reden,  haben  wir  uns  schon  einen  normalen 
Typus  gebildet,  der  allerdings  den  allgemeinen  Verfahr ungsarten 
der  Natur  entspricht,  aber  wohlgemerkt  derjenigen  Natur,  die  schon 
durch  unsem  Verstand  von  zufälligen  und  missliebigen  That Sachen 
entkleidet  und  aus  dem  Gesichtspunkt  des  harmonischen  Wollens 
aufgefasst  ist. 

Diejenigen  Triebe,  von  denen  in  der  Menschen  weit  die  wichtig- 
sten Geselligkeitsbeziehungen  ausgehen,  erinnern  uns  auch  am  leb- 
haftesten an  die  Irrthümer  und  Fehlgriffe,  die  sich  in  ihrem  Reiche 
vollziehen.  Wollten  wir  nun  diese  falschen  Ausgriffe  ausschliesslich 
dem  menschlichen  Wesen  zuschreiben  und  die  äussere  Natur  ge- 
wohntermaassen  von  aller  Fehlbarkeit  lossprechen,  so  würden  wir 
die  einheitliche  Systematik  des  Gesammtreichs  aller  Dinge  verleugnen. 
In  einem  gewissen  Sinne  ist  die  Fehlbarkeit  eine  Mitgift  aller  Stufen 
der  Existenz.  Im  Menschen  ist  sie  nur  darum  grösser,  weil  er  ein 
zusammengesetzteres  und  voUkommneres  Wesen  ist,  als  die  sonstigen 
Bestandtheile  und  Einrichtungen  des  Daseins.  Die  Natur  im  Men- 
schen und  die  Natur  ausser  dem  Menschen  sind  nicht  zwei  so  un- 
gleichartige Dinge,  um  ein  völlig  verschiedenes  Princip  haben  zu 
können.  Ein  bewusstes  Fehlgreifen  gehört  nur  den  thierischen  Ge- 
bilden und  unter  ihnen  im  höheren  Grade  dem  Menschen  an;  aber 
eine  Verwirklichung  des  Unzweckmässigen  oder  ein  Nichterreichen 
der  angelegt  gewesenen  schematischen  Ordnurjg  ist  in  der  ganzen 
Natur  überall  da  erkennbar,  wo  man  überhaupt  die  Uebereinstim- 
mung  oder  den  Widerstreit  innerlich  und  gegenständlich  zu  beur- 
theilen  vermag.  Mit  demselben  Recht,  welches  uns  gestattet,  die 
eigentlichen  Missgeburten  als  falsche  Compositionen  zu  betrachten, 
dürfen  wir  auch  überhaupt  fehlgreifende  Synthesen  der  Natur  in 
allen  Richtungen  annehmen ,  wo  eine  gehörige  Zusammenstimmung 
der  Theile  bewirkt  oder  verfehlt  werden  kann.  Der  Mensch  ist  nicht 
das   einzige  Ding,   welches  irrt;   er  ist  nur  dasjenige,   welches  auch 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  11 


—     162     — 

mit  deutlichem  Bewusstsein  und  eben  durch  dieses*  Bewusstsein  in 
einem  höheren  Grade  und  in  einer  besondem  Ai*t  zu  irren  vermag. 
Wenn  daher  seine  Triebe  noch  stärker  und  verkünstelter  in  die  Irre 
gerathen,  als  dies  bei  den  Tendenzen  der  bewusstlosen  Natur  der 
Fall  zu  sein  pflegt,  so  müssen  wir  diese  Eigenschaft  als  eine  beson- 
dere Ausstattung  unserer  Vollkommenheit,  aber  nicht  als  ein  hassens- 
werthes  Privilegium  ansehen.  Wir  können  uns  in  dem  System  un- 
serer Triebe  getrost  als  einig  und  gleichartig  mit  der  übrigen  Natur 
betrachten ;  wir  können  diese  Einigkeit  und  Gleichartigkeit  im  Guten 
und  Schlimmen,  im  Erreichen  und  Verfehlen,  in  Wahrheit  und  Irr- 
thum  voraussetzen.  Es  giebt  keine  Grenze,  wo  etwa  die  Unfehlbar- 
keit und  der  völlige  Maugel  eines  Irrthums,  im  gegenständlichen 
Sinne  dieses  Worts,  für  die  aussermenschhche  oder  auch  für  die 
nichtbewusste  menschliche  Natur  beginnen  müsste.  Wir  werden  der 
Natur  keine  Vorstellungen  unterlegen;  aber  wir  werden  uns  an  die 
Thatsachen  halten  und  uns  hüten,  mit  der  Existenz  unserer  Triebe 
die  allgemeine  Gleichartigkeit  im  Stufensystem  des  Weltbaues  zu 
unterbrechen  und  den  Widerstreit  des  Zutreffenden  und  Unpassenden 
erst  in  uns  beginnen  zu  lassen.  Die  Würde  des  Menschen  steigt 
durch  diese  Betrachtuugsart;  der  letzte  Rest  falscher  Naturverehrung 
weicht  zurück,  und  auch  die  Gesammtanschauung  wird  nicht  ge- 
schädigt; denn  es  ist  mit  der  allgemeinen  Thatsächlichkeit  des  frag- 
lichen Gegensatzes  die  Idee  nicht  ausgeschlossen,  dass  jenes  objectiv«^ 
und  subjective  Verfehlen  selbst  sich  als  eine  nothwendige  und  heil- 
same Einrichtung,  ja  sich  gleichsam  als  ein  in  der  Gesammt Verfassung 
des  Seins  Gewolltes  und  als  unumgängliches  Mittel  zum  Zwect  des 
mannichfaltigen  und  losgebundenen  Lebensspieles  erweisen  müsse. 

5.  Wo  die  Natur  in  dem,  was  sie  anlegt,  rückständig  oder  un- 
zulänglich bleibt,  kann  eine  mannichfaltige  Elntwicklung  des  die 
Empfindungen  mit  Bewusstsein  sichtenden  und  veredelnden  Menschen 
eine  wichtige  Ergänzung  oder  auch  bisweilen  eine  Berichtigung 
schaffen.  Wir  sind  selbst  Natur  und  haben  die  endgültige  Ent- 
scheidung grade  über  das  Letzte  und  Höchste,  was  allen  Vorstufen 
des  niedrigeren  Seins  der  Folge  und  dem  Range  nach  überlegen  ist. 
Wir  sind  in  unserm  Empfindungsleben  oder,  wenn  das  Wort  besser 
zusagt,  in  unserm  allgemeinen  ästhetischen  Verhalten  derartig  eine 
beurtheilende  und  gestaltende  Macht,  dass  wir  die  Bestrebungen  der 
Natur,  die  sich  in  uns  Ijethätigen,  zwar  als  gesetzgebend,  al)er  nicht 
als    den   Inbegriff   aller  Gesetzgebung  und  auch  nicht  als  in  jeder 


—     163     — 

Beziehung  unabänderlich  zu  betrachten  und  zu  behandeln  haben, 
unsere  Vollkommenheit  soll  sich  über  diejenige  der  Natur  um  eine 
neue  Entwicklungsstufe  erheben,  und  mit  dem  Spielraum  für  diese 
Erhebung  ist  eben  auch  das  tiefere  Versinken  unter  bestimmten 
Voraussetzungen  unvermeidlich  gemacht.  Dem  Ideal  gegenüber  findet 
sich  die  Verzerrung  und  Verkünstelung,  welche  tief  unter  das  Niveau 
des  naiv  Natürlichen  gehört  und  der  Zurückrufung  zur  einfachen 
Natur  eine  Berechtigung  und  einen  Reiz  verleiht,  der  sonst  nicht 
begreiflich  wäre.  Wie  verschränkt,  verzwickt  und  verkünstelt  müssen 
nicht  die  menschlichen  Empfindungen,  die  den  Abirrungen  de5*  Cultur- 
geschichte  und  dem  Raffinement  ihr  eigenthümhches  Dasein  ver- 
danken, in  der  That  geworden  sein,  ehe  der  Natürlichkeitsenthu- 
siasmus nach  Art  eines  Rousseau  einen  hohen  Werth  erhalten  und 
an  Stelle  kühnerer  Ideale  die  erdrückte  Menschlichkeit  befriedigen 
kann!  Wir  wollen  uns  vor  nichts  niederwerfen  und  mithin  auch 
nicht  vor  jener  Natur,  die  in  ihrem  Stufensystem  von  mechanischen, 
physikalischen  und  physiologischen  Einrichtungen  eben  nur  das  Pie- 
destal  für  unsere  eigne  überragende  Wirklichkeit  bildet. 

Wenden  wir  unsern  allgemeinen  Gedanken  m  bestimmterer 
Richtung  auf  die  Triebe  an,  so  werden  wir  uns  über  deren  Fehl- 
barkeit  ebensowenig  wie  über  die  gelegentlichen  Vergreifungen  der 
thierischen  Instincte  wundern.  Mit  dem  Vermögen  zur  Wahrheit 
ist  auch  immer  dasjenige  zum  Irrthum  in  irgend  einem  Maass  ver- 
bunden, und  alle  gegenständliche  Bedeutung,  welche  das  im  Triebe 
enthaltene  Urtheil  in  Anspruch  nehmen  kann,  ist  so  gut  wie  die 
Fähigkeit  zur  mathematischen  Einsicht  mit  jenem  Gegensatz  behaftet. 
Die  Emährungstriebe,  also  Hunger  und  Durst,  zeigen  uns  einen 
innem  Zustand  an,  der  sich  verschiedentlich,  besonders  aber  chemisch 
kennzeichnen  lässt.  Ein  Mangel  an  Flüssigkeit  bei  der  nothwendigen 
Mischung  des  Bluts  und  der  andern  Säfte  wird  auf  der  Zunge  durch 
einen  eigenthümlichen  Reiz  verkündet,  und  die  treibende  Kraft  dieser 
Spannungsempfindung  setzt  die  Sinne  und  den  Vorstellungsapparat 
sowie  die  dienstbaren  Thätigkeiten  in  Bewegung,  um  die  Gegenstände 
zu  erkennen  und  anzueignen,  welche  die  Ausgleichung  der  Spannung 
bewirken  können.  Wenn  sich  Hunger  und  Durst  vereinigen,  pflegt 
der  letztere  derartig  zu  überwiegen,  dass  er  erst  befriedigt  sein  muss, 
ehe  die  auf  feste  Nahrung  gerichtete  Bedürfnissempfindung  stärker 
hervortritt.  Dies  hat  seinen  Innern  Grund;  denn  die  hydrodynamische 
Ordnung  ist  in  der  Oekonomie  des  Emährungsprocesses  die  Vorrtus- 

11* 


—     164    — 

Setzung  von  allem  Andern.  Eine  bedeutendere  Störung  derselben 
will  daher  auch  zuerst  ausgeglichen  sein. 

Die  Triebe  sind,  unbeschadet  der  uns  stets  offenstehenden  Kritik, 
bald  in  roherer  bald  in  feinerer  Weise  unsere  Lehrmeister  und  zwar 
nicht  blos  im  Allgemeinen,  sondern  auch  im  Besondem  und  Ein- 
zelnen. Sie  zeigen  uns,  was  wir  anzustreben  und  was  wir  zu  fliehen 
haben,  und  der  hiebei  mögliche  Irrthum  ist,  wie  schon  vorher  ge- 
sagt, allen  Mitteln  der  Erkenntniss  und  allen  Motiven  der  Thätigkeit 
von  dem  niedrigsten  bis  zum  höchsten  gemeinsam.  Die  Appetite 
sind  in  ihrer  unverkünstelten  oder  überhaupt  wohlgeordnd;en  Ge- 
staltung vortreffliche  Verkünder  von  dem,  was  dem  Körper  der  Regel 
nach  sowie  in  besondern  Zuständen  zuträglich  ist.  Es  ist  nicht  Bru- 
talität, sondern  mehr  als  das,  nämlich  ein  unter  das  Thier  sinkendes 
Verhalten,  wenn  die  feineren  oder  roheren  Anzeigen,  welche  die  ge- 
wöhnlichen oder  durch  Ausbildung  wohl  gar  besonders  urtheilsfähig 
gemachten  Appetite  liefern,  in  Gesundheit  und  Kj*ankheit  völlig 
verachtet  und  nicht  einmal  einer  Prüfung  werth  gehalten  werden. 
Die  Verbindung  dieser  Art  von  Fingerzeigen  mit  der  gegenständ- 
lichen Beurtheilung  kann  Ausserordentliches  leisten.  Ein  Mangel  an 
den  Eisenbestandtheilen  des  Bluts  wird  sich  durch  Vorliebe  für  eisen- 
haltige Nahrungsmittel  verrafchen.  Ein  Theil  der  Heilmittel,  der 
ursprünglich  in  Volksmitteln  bestand,  muss  zuerst  auf  irgend  welche 
Appetitgestaltungen  hin  versucht  und  erprobt  worden  sein.  Auch 
die  besondern  Appetite  der  Schwangern  lassen  sich  ähnlich  auffassen 
wie  das  Kalkverzehren  der  Hennen,  deren  Neigung  sich  aus  dem 
Bedürfniss  von  Material  zur  Bildung  der  Eierschaale  erklärt. 

Zu  der  vorläufig  nur  das  innere  Bedürfniss  ausdrückenden  Trieb- 
empfindung tritt  die  Beurtheilung  und  Messung  des  Gegenstandes 
auf  seine  befriedung versprechenden  Eigenschaften.  Der  Sinn  und  die 
Vorstellung,  die  mit  dem  Triebe  verbunden  sind,  wägen  die  Wir- 
kungen im  Voraus  ab,  und  diese  Vorwegnahme  durch  die  Empfin- 
dung ist  eines  der  wichtigsten  Hülfsraittel  der  Erhaltung  und  För- 
derung des  eignen  Wesens.  Wo,  wie  bei  dem  Geschlechtstriebe,  ein 
zweites  Wesen  mit  seinem  Urtheil  in  Frage  kommt,  ist  grade  diese 
Doppelseitigkeit  des  Gefählsurtheils  von  der  grössten  Bedeutung; 
denn  sie  allein  kann  die  Ebenmässigkeit  und  Zuträglichkeit  der  Be- 
ziehungen sichern.  Die  Mannichfaltigkeiten ,  die  schon  ohnedies  im 
Gebiet  der  Geschlechtsaffectionen  herrschen,  werden  hiedurch  noch 
gesteigert.     Der  Geschlechtstrieb  ist  schon  an  sich  selbst  und  ein- 


—     165     — 

seitig  vieler  Variationen  fähig,  und  man  könnte  in  dieser  Beziehung 
seine  Natur  sogar  mit  den  gewöhnlichen  Appetiten  vergleichen.  Die 
Mannichfaltigkeit  liegt  aber  hier  weniger  sichtbar  in  den  Zuständen 
des  Subjects,  als  in  der  individuellen  Vielheit  der  Objecte.  Fügt 
man  hiezu  noch  jene  Doppelcombination,  so  wird  die  passende  Her- 
stellung des  Gleichgewichts  eine  Angelegenheit,  die  von  Seiten  der 
Natur  mehr  Subtilität  erforderlich  macht,  als  man  gewöhnlich  zu- 
gesteht. 

6.  Eine  Veränderung,  Gewöhnung  und  Entwicklung  der  Triebe 
ist  in  geringerem  Grade  für  das  Einzelleben  und  in  bedeutendem 
Umfang  für  die  Geschlechterabfolgeu,  am  meisten  aber  für  das  ganze 
Menschengeschlecht  vorhanden.  Die  Phantasie  ergeht  sich  hier  zwar 
allzu  leichtfertig  in  der  Nichtachtung  wesentlicher  Schranken;  aber 
die  Bestimmung  des  Spielraums,  innerhalb  dessen  sich  die  mensch- 
hchen  Antriebe  umzugestalten  und  zu  veredeln  vermögen,  mag  lieber 
zu  weit  als  zu  eng  vorgestellt  werden;  denn  der  letztere  Irrthum 
ist  dem  Ideal  hinderlicher,  als  der  erstere.  Die  Kritik  der  Triebe 
nach  dem  Wohlthätigen  oder  Unzuträglichen  ihrer  thatsächlichen 
und  äusserlich  verkörperten  Wirkungen  ist  nur  indirect  und  jeden- 
falls nicht  das  ausschliessliche  oder  letzte  Maass  ihres  Werthes.  Wie 
sollen  wir  aber  die  Wahrheit,  Berechtigung  oder  Schönheit  der  Em- 
pfindung durch  die  Empfindung  selbst  feststellen?  Hierauf  giebt  es 
nur  eine  einzige  Antwort,  die  aber  den  Vortheil  hat,  uns  ein  ähn- 
liches Licht  wie  in  den  strengsten  Wissenschaften  in  einem  Gebiet 
zu  schaffen,  wo  man  das  Dunkel  natürlich  findet  und  wohl  gar  von 
der  täppischen  Bauernregel  ausgeht,  dass  sich  über  den  Geschmack 
nicht  streiten  lasse.  Wären  die  Empfindungen  und  Gefühle  voll- 
kommen einfach,  so  müsste  über  sie  durch  unmittelbares  axiomati- 
sches  Urtheil  in  verwandter  Art  entschieden  werden,  wie  über  einen 
mathematischen  Grundsatz  oder  über  den  Schöuheitseindruck  einer 
reinen  Spectralfarbe.  Die  Art  von  Beifall  oder  Einstimmung,  die 
eine  völlig  einfache  Erregung  mit  sich  brächte,  würde  eben  auch 
eine  nicht  missverständliche  Thatsache  sein  und  in  ihrem  Gebiet 
ebenso  gelten  müssen,  wie  eine  geometrische  oder  physikalische  Noth- 
wendigkeit.  Nun  aber  sind  die  Empfindungen  und  Gefühle  nicht 
einfach,  sondern  mannichfaltig  nach  Art  und  Grösse  zusammengesetzt. 
Schon  das  Mehr  und  Minder  beruht  auf  einer  Composition  von  Ele- 
menten; der  Gattung  nach  ist  aber  schon  die  Mischung  der  Lust 
mit  dem  in  irgend  einem  Maasse  Peinlichen  ein  Ausgangspunkt  von 


—     16(J     — 

Mannichfaltigkeiten.  Der  gelinde  Anreiz,  der  Stachel  und  die  grau- 
samste Pein  oder  überhaupt  der  ausschliessliche  Schmerz  auf  der 
einen  Seite  und  die  Skala  der  unser  Wesen  bejahenden  Lust  oder 
Freude  auf  der  andern  Seite  ergeben  in  ihrer  Verbindung  äusserst 
verschiedene  Ausprägungen  des  Gesammtgefähls.  Hiezu  kommt  noch, 
dass  auch  die  Specialformen  der  Triebempfinduugen  noch  nicht  so- 
fort als  einfach  angesehen  werden  dürfen.  Mindestens  muss  man  in 
der  Zergliederung  hier  ebensoweit  gehen,  wie  wenn  man  Töne  und 
Farben  oder  überhaupt  Gehör-  und  Gesichtsein  drücke  in  ihre  Be- 
standtheile  sondert.  Wird  nun  ein  unmittelbares  Empfindungsurtheil 
über  die  Empfinduugselemente  oder  reinen  Empfindungsgattungen 
als  solche  zugestanden,  so  beruht  alle  Wahrheit  sowie  aller  Irrthum 
auf  der  richtigen  oder  falschen  Würdigung  der  CoUectivgebilde,  und 
diese  Würdigung,  die  zunächst  fertig  und  unwillkürlich  in  der  Wahr- 
nehmung des  vorherrschenden  Charakters  des  Empfindungsgebildes 
zu  Tage  tritt,  kann  durch  nähere  Aufinerksamkeit  auf  die  ßestand- 
theile  bestimmter  geprüft  und  durch  Vergleichung  mit  andern  oder 
auch  blos  variirten  Empfindungszu ständen  rein  subjectiv  geschätzt 
werden.  Im  letzten  Grunde  sind  es  offenbar  die  einfachen  der  Ver- 
fassung unseres  Strebens  und  Vorstellens  angehörigen  Elemente,  die 
sich  an  sich  selbst  als  souverain  geltend  macheu.  Da  indessen  das, 
was  befriedigt  und  wohlthätig  oder  das  Gegentheil  davon  ist,  überall 
in  der  ganzen  empfindenden  Natur  den  Grundbestandtheilen  nach 
dasselbe  sein  muss,  so  haben  die  Empfiudungs-  und  Gefühlsurtheile 
eine  ernsthaft  wissenschaftliche  Tragweite,  und  ihre  Verrufung  rührt 
einerseits  von  der  Unkenntniss  ihres  Wesens,  andererseits  aber  aucli 
von  der  verhältnissmässigen  Rohheit  und  Ungenauigkeit  her,  mit 
welcher  sie  sich  zunächst  wegen  der  vielfachen  Zusammengesetztheit 
ihres  Materials  behaftet  finden.  Jedoch  sind  sie  auch  häufig  genug 
äusserst  fein  und  ausgebildet,  ohne  dass  deswegen  mit  ihnen  auch 
die  Fähigkeit  verknüpft  zu  sein  brauchte,  vermöge  deren  sich  das 
urtheilende  Individuum  der  Entscheidungsgmnde  deutlich  bewusst 
werden  und  zur  Rechenschaftsableguug  darüber  oder  zur  systemati- 
schen Anwendung  des  Erkamiten  im  Stande  sein  müsste. 

Wenn  wir  auf  die  eben  angegebene  Weise  die  edle  von  der 
unedlen  Compositiou  unterscheiden  lernen  und  sogar  dazu  gelangen, 
dem  Empfindungs-  und  Gefiihlsgebiet  eigentliche  Ideale  oder,  mit 
andern  Worten,  vollkommnere  Constructionen,  die  dem  besseren  und 
schöneren  Typus  entsprechen,  nach  und  nach  abzugewinnen,  so  sind 


—     167     — 

hier  offenbar  wiclitige  Hebel  zur  Gestaltung  des  innem  und  äussern 
Lebens  einzusetzen.  Wie  die  Musik  eben  in  der  subjectiven  Ton- 
empfindung ihre  Werthschätzung  erfährt  und  wie  überhaupt  jede 
Kunstgattung  zunächst  auf  die  Unmittelbarkeiten  der  den  Eindruck 
messenden  und  wägenden  subjectiven  Gesammtaffection  angewiesen 
ist,  so  muss  auch  die  Ausbildung  des  Trieb-  und  Gefühlslebens  die 
nächsten  energischen  Förderungen  von  der  freien  Bethätigung  der 
eignen  Elemente  erwarten.  Solange  sich  hier  das  freie  Spiel  durch 
Vorurtheile  und  falsche  Einschränkungen  gehemmt  findet,  ist  an  eine 
edlere  Meuschhchkeit  in  diesem  Bereich  nicht  zu  denken. 

Die  ganz  gewöhnlichen  Triebe  bieten  für  die  Veredlung  oder 
für  die  Fernhaltung  der  Verzerrungen  soviel  Stoff  dar,  dass  man 
über  die  Wüstheiten  und  Thorheiten  dieses  Gebiets  erstaunen  müsste,* 
wenn  man  sich  nicht  erinnerte,  dass  es  Jahrtausende  dem  herrschen- 
den Vorurtheil  entsprochen  hat,  die  sinnlichen  Triebkräfte  als  un- 
würdige Gegenstände  in  Verachtung  zu  bringen  und  dadurch  erst 
recht  eine  Verwilderung  oder  Verfälschung  dieser  sittlichen  Mächte 
zu  befördern.  Man  hat  in  den  Trieben  die  Gnmdlagen  der  mensch- 
lichen Natur  mit  Füssen  getreten,  und  es  darf  daher  nicht  über- 
raschen, wenn  wir  in  der  höheren  Cultur  der  Triebempfindungen 
jetzt  wieder  einen  neuen  Anfang  zu  machen  haben.  Die  alte  Frucht 
der  Ausschweifungen  und  des  Ekels,  nämlich  die  Aechtung  der 
ganzen  Sinnlichkeit,  ist  jetzt  glücklich  bei  den  letzten  Stadien  der 
Fäulniss  angelangt  und  wird  uns  nicht  mehr  mit  ihren  raffinirten 
Ueber-  und  Widersinnhchkeiten  an  die  Welt-  und  Lebenshallucina- 
tionen  des  Fieberwahns  der  Religionen  überliefern.  Mit  der  Zer- 
sprengung  dieser  Ketten  ist  nun  aber  auch  der  Freiheit  eine  neue 
und  edle  Aufgabe  gestellt.  Sie  hat  die  Verirrungen  auszumerzen, 
denen  die  Triebe  unter  dem  alten  Regime  verfallen  sind.  Nicht  blos 
die  Unnatur  der  künsthchen  Unterdrückungen  mit  ihren  widerwär- 
tigen Folgen,  sondern  auch  der  Mangel  positiver  Gestaltung  und 
wahrhaft  edler  Zucht  ist  auszugleichen.  Die  Unsitte,  Betäubung 
\md  Rausch  aller  Art,  sei  es  durch  Narkose,  sei  es  durch  die  will- 
kürliche Steigerung  niederer  oder  höherer  Affectionen  jeglicher  Rich- 
tung hervorzubringen,  muss  nicht  nur  als  Beeinträchtigung  des  in- 
dividuellen und  gesellschaftlichen  Wohlseins,  sondern  auch  als  Ver- 
derberin  der  Gattung  und  des  Typus  angesehen  werden.  Die  Triebe 
haben  nicht  nur  ihre  Naturgesetze,  vermöge  deren  die  maasslosen 
Empfindungen   zum   Gegentheil  und  überhaupt   der  falsche  Lebens- 


—    168    — 

genuss  zum  ebenso  verkehrten  Lebensüberdruss  führt,  sondern  sie 
sind  auch  der  harmonischen  Composition  zugänglich.  Sie  und  ihre 
Voraussetzungen  können  sich  nach  dem  Guten  oder  Schlimmen  hin 
umgestalten,  und  die  Menge  von  thörichten,  recht  unästhetischen 
und  oft  grob  schädlichen  Bedürfüissen ,  welche  die  Völker  in  sich 
künstlich  erzeugt  und  gepflegt  haben,  ist  ein  Beweis  für  den  grossen 
Spielraum  der  Veränderlichkeit  dieses  Gebiets.  Sicherlich  werden 
bestimmte  Grundverhältnisse  immer  bestehen  bleiben,  und  die  Un- 
gereimtheit, den  Geschlechtstrieb  einmal  in  der  Zukunft  physiologisch 
abstellbar  zu  wähnen,  ist  nicht  geringer,  als  diejenige,  eine  Ab- 
schaffung des  Essens  und  Trinkens  zu  gewärtigen.  Dennoch  ist  jene 
Voraussetzung  wenigstens  annähernd  in  wissenschaftlichen  Raisonne- 
ments  gemacht  worden.  Man  hat  geglaubt,  dass  die  geistigen 
Functionen  in  dieser  Richtung  absorbirend  wirken  und  sogar  in  der 
Breite  der  Gesellschaft  die  Bevölkerungsvermehrung  hindern  könnten. 
Regelwidrige  Ausnahmefälle,  die  sich  immerhin  auf  ganze  Gruppen 
erstrecken  mögen,  sind  allerdings  denkbar;  übrigens  muss  die  Natur 
aber  mit  allgemeinen  Entwürfen  und  Gesetzen  operiren,  dergestalt 
dass  ihr  eine  Abweichung  von  dem  Schema  nur  aus  besondern  oder 
vereinzelt  hinzutretenden  Ursachen  durch  eine  Art  Hemmung  der 
sonst  statthabenden  Wirkungen  möglich  werden  kann.  Sie  muss 
entweder  die  Fortpflanzung  aufheben  oder  ihr  Schema,  welches  mit 
Nothwendigkeit  alle  Individuen  dazu  treibt,  bestehen  lassen.  Ein 
Drittes  ist  nicht  möglich,  und  diese  Gebundenheit  der  Natur  an  die 
Systematik,  die  in  der  unumgänglichen  Herrschaft  des  Allgemeinen 
und  des  durchgängig  Gesetzlichen  liegt,  verbietet  jede  weitergreifende 
Construction,  die  einen  Widerspruch  oder  Verfassungsfehler  enthielte. 
Ein  solcher  Fehler  würde  aber  jener  Traummensch  sein,  der  seine 
Gattung  fortpflanzen,  aber  mit  einem  Triebe  behaftet  sein  sollte, 
der  nicht  nach  einem  allgemeinen  Gesetz  treibt  und  keine  Bürg- 
schaft der  durchschnittlichen  und  collectiven  Unwiderstehlichkeit  der 
entsprechenden  Functionen  bietet.  Ueberhaupt  ist,  ganz  abgesehen 
von  diesem  besondem  Fall,  die  Lehre  von  Wichtigkeit,  dass  die 
Natur  bei  der  Geltendmachung  von  Regeln  und  allgemeinen  Vor- 
kehrungen dazu  genöthigt  wird,  nicht  nur  allerlei  nutzlose  Wirkun- 
gen mit  in  die  allgemeine  und  schematische  Thätigkeit  einzuschliesseu, 
sondern  auch  Vielerlei  positiv  einzurichten,  wozu  nur  die  nun  einmal 
für  andere  Effecte  angenommene  Wirkungsweise  nebenbei  zwingt. 
In  den  Pflanzen   vollziehen  sich   der  Stoffwechsel  und  mithin  auch 


—     169    — 

die  Ausscheidungen  ohne  Empfindung.  Sobald  aber  bei  den  thieri- 
schen  Wesen  die  Triebempfindung  um  ihrer  selbst  willen  eingeführt 
ist,  können  auch  einige  Ausscheidungsfunctionen  nicht  ganz  der  Will- 
kür und  der  Vermittlung  durch  eine  lästige  Empfindung  entzogen 
bleiben.  Nun  ist  die  letztere  Art  von  Triebempfindungen  wahrlich 
nicht  danach  geartet,  einen  Genuss  zu  ergeben,  aber  sie  ist  eine 
Consequenz,  die  als  Mitgift  der  an  Bedingungen  und  Hindernisse 
gebundenen  Systematik  der  Natur  gleichsam  mit  in  den  Kauf  ge- 
nommen werden  muss.  Erinnern  wir  uns  noch  schliesslich,  dass 
auch  alles  Peinliche  oder  dem  Peinlichen  auch  nur  entfernt  Ver- 
wandte, was  sich  in  die  Lust  der  Triebe  mischt,  insoweit  unvermeid- 
lich ist,  als  eine  treibende  Kraft,  die  das  Wollen  naturgesetzlich 
und  im  Allgemeinen  unwiderstehlich  bestimmen  soll,  selbst  als  schein- 
bar reinste  und  positivste  Lockung  etwas  enthalten  muss,  was  in 
höheren  Steigerungen  die  Nichterreichung  des  Ziels  unleidlich,  ja 
unerträglich  macht.  Eine  Natur,  die  so  antriebe,  dass  sie  im  All- 
gemeinen ihre  Wirkungen  verfehlen  könnte,  wäre  eine  Stümperin, 
und  die  wirkliche  Natur  hat  dafür  gesorgt,  dass  keiner  ihrer  Trieb- 
kräfte jener  unumgänglich  nothwendige  Reiz  oder  Stachel  fehle,  ohne 
den  das  ganze  System  für  die  reale  Ordnung  jeder  Bedeutung  er- 
mangeln würde.  Diese  Zugabe  aber  ist  eine  constitutive  Nothwendig- 
keit,  und  wir  dürfen  sie  daher  nicht  als  direct,  sondern  nur  als  in- 
direct  gewollt  ansehen.  Diese  und  andere  Nothweudigkeiten  schreiben 
nun  auch  der  Culturentwicklung  manche  Bahn  vor,  an  die  sich  einiger 
Zwang  heftet;  aber  sie  schliessen  die  systematische  Fortsetzung  der 
Arbeit  der  Natur  in  der  Gestaltung  des  Reichs  der  Triebe  nicht 
aus,  sondern  gestatten  sogar  einen  so  weiten  Spielraum,  dass  die 
Jahrhunderte  und  Jahrtausende  in  ihm  genug  zu  schaffen  haben 
werden. 

7.  üeber  den  gemeinen  Trieben  liegt  gleichsam  eine  höhere  Re- 
gion von  Erregungen,  die  man  Affecte,  Leidenschaften  oder  auch 
wohl  überhaupt  Gemüthsbewegungen  nennt.  In  diesem  Bereich  zeigt 
sich  die  ganze  Ohnmacht  der  bisherigen  sogenannten  Psychologie. 
Nicht  einmal  eine  der  wichtigsten  Eintheilungen  ist  zu  ihrem  Recht 
gelangt.  Es  findet  sich  nämlich  ein  durchgreifender  Unterschied 
zwischen  denjenigen  Affectionen,  die  der  Mensch  ohne  Beziehung 
auf  Seinesgleichen  und  blos  der  willenlosen  Natur  gegenüber  haben 
kann,  und  denen,  die  ein  gleichartiges  Wesen  als  Gegenstand  oder 
L^rsache  voraussetzen.    Freude  und  Trauer  sowie  Hoffuuug  und  Furcht 


—     170     — 

können  den  Menschen  als  völlig  isolirtes  Subject  mannichfaltig  be- 
wegen, während  Liebe  und  Hass,  Dankbarkeit  und  Rache,  Mitleid 
und  Neid,  Wohlwollen  und  Eifersucht  offenbar  Gemüthszustände 
sind,  die  sich  auf  ein  wirkHches  oder  blos  vorgestelltes  gleichsam 
intersubjectiv  zu  nennendes  Verhältniss  beziehen  und  daher  auch 
kurzweg  als  interhuman  bezeichnet  werden  können.  Selbstverständ- 
lich ist  die  menschliche  Natur  auch  in  ihrer  Vereinzelung  auf  alle 
diese  Affecte  angelegt  und  kann  von  denselben  nicht  blos  in  der 
Traiunvorstellung  und  Erinnerung,  sondern  auch  auf  innere  Reize 
hin  bewegt  werden,  ohne  dass  ein  anderer  Mensch  jedesmal  that- 
sächlich  die  Ursache  sein  müsste.  Dieser  Sachverhalt  beeinträchtigt 
aber  den  Werth  unserer  Unterscheidung  so  wenig,  dass  er  ihn  viel- 
melu*  erhöht;  denn  wir  können  durch  dieselbe  um  so  besser  die 
blossen  Erdichtungen  eines  Willens  oder  gleichartiger  Wesen  durch- 
schauen, die  man  den  Naturthätigkeiten  in  falscher  Poesie  unterl^, 
um  sich  dann  gegen  diese  Fictionen  in  Liebe  und  Hass  sowie  über- 
haupt in  allen  Erregungsarten  des  menschlichen  Herzens  zu  ergehen. 
Die  Ausmerzung  der  persönlich  doppelseitigen  Affecte  aus  der  Natur- 
auffassung ist  sogar  für  die  einst  zu  entwickelnde  rationellere  Poesie 
geltend  zu  machen.  Auch  die  Dichter  haben  kein  Recht,  kindische 
Albernheiten  für  alle  Entwicklungsstufen  des  Menschengeschlechts 
festzuhalten.  Das  Gemüth  oder,  mit  andern  Worten,  die  Gruppe 
der  Affecte  bietet  auch  für  die  wahre  Auffassung  Spielraum  genug, 
und  die  schöpferische  Poesie  hat  ihre  Stärke  in  der  Sichtbarmachung 
eines  besseren  Typus  der  Leidenschaften  und  mithin  in  der  Mitarbeit 
an  deren  Veredlung  oder  Idealisiruug  zu  suchen.  Es  wird  einst  als 
Merkmal  des  Mangels  an  eigner  naturwüchsiger  Kraft  gelten,  die 
Aufstutzung  mit  den  Fictionen  abgestorbener  Welt-  und  Lebens- 
vorstelluugen  in  der  Kunst  nicht  entbehren  zu  können.  Lassen  wir 
es  jedoch  hier  bei  dieser  Andeutung  bewenden,  die  nur  die  Trag- 
weite unserer  Unterscheidung  erläutern  sollte. 

Ein  anderer  Gegensatz,  nämlich  der  zwischen  Erregungen,  die 
ausschliesslich  in  der  Förderung  unseres  Ich  aufgehen,  und  solchen, 
die  wie  das  Mitleid  und  die  aufopfernde  Liebe  ihren  Schwerpunkt 
in  einem  fremden  Wesen  haben,  ist  weniger  für  die  Bewusstseins- 
lehre  an  sich  selbst  als  für  die  Anwendung  in  der  Moral  von  Wichtig- 
keit. Bereits  als  antike  Eiueicht  an  den  Namen  des  Auniceris  ge- 
knüpft, ist  er  in  der  Gegenwart  von  August  (.'omte  und  mir  wieder 
selbständig  in  den  Vordergnmd  gebracht  worden. 


—     171     — 

Die  Leidenschaften  sind  die  Hauptquelle  für  Wohl  und  Wehe 
der  Menschennatur,  und  die  sich  schon  im  Wort  verrathende  Wahr- 
heit, dass  wir  uns  in  ihnen  weniger  thätig  als  leidend  verhalten, 
entscheidet  über  eJaien  grossen  Theil  unseres  Schicksals.  Die  Be- 
wegungen des  Gemüths  werden  uns  vielfach  auferlegt,  wie  das  Er- 
zittern einem  Saitenspiel.  Auch  die  Stimmungen  entspringen  da, 
wo  sie  vornehmlich  von  Innen  stammen,  meistens  aus  einem  Gebiet, 
das  unserer  Herrschaft  fast  ebensowenig  unterworfen  ist,  wie  der 
pflanzenartige  Theil  unserer  Lebensfanctionen.  Diese  verhältniss- 
mässige  Ohnmacht  verschuldet  nun  vielleicht  grade  jene  theoretischen 
Ausschweifungen,  die  uns  in  verschiedenen  Epochen  der  Menschheit 
belehren  wollten,  dass  unsere  Willkür  völlige  Meisterin  der  Gemüths- 
bewegungen  sei.  Der  letzte  ebenso  ausgezeichnete  als  thörichte  Ver- 
such in  dieser  Richtung  ist  von  dem  sonst  in  diesem  Gebiet  hoch- 
verdienten Spinoza  gemacht  worden.  Seine  Voraussetzung,  dass  eine 
genaue  Kenntniss  des  Wesens  der  Leidenschaften  die  Gewalt  über 
dieselben  verschaffe,  ist  nicht  nur  metaphysisch  umnebelt,  sondern 
auch  in  ihren  verständlichen  Theilen  völUg  vei-fehlt.  Auch  die  Natur- 
gesetze der  Leidenschaften  lassen  sich  zutreffend  nur  unter  Berück- 
sichtigung des  Mehr  und  Minder  der  Affectionen  vorstellen,  und  die 
meisten  allgemeinen  Schlüsse,  die  man  rein  qualitativ  über  die  Me- 
chanik der  Affecte  versucht  hat,  sind  entweder  unzulässig  oder  vor- 
eihg,  indem  ihnen  stillschweigende  Quantitätsvoraussetzungen  zu 
Grunde  liegen,  die  in  ihrer  Wesentlichkeit  hätten  erkannt  und  aus- 
gesprochen werden  müssen. 

Steht  einmal  die  allgemeine  Gesetzmässigkeit  aller  Vorgänge  bis 
zu  den  Gedanken  hinauf  in  allen  Stufen  des  Seins  fest,  so  hat  die 
besondere  Bemühung  um  die  Nachweisuug  der  Naturgesetzlichkeit 
des  Spiels  der  Leidenschaften  nur  noch  ein  Detailinteresse.  Indem 
wir  daher  davon  ausgehen,  dass  die  Gegenregung  auf  eine  Reizung 
mit  der  rein  mechanischen  Rückwirkung  auf  eine  Einwirkung  die 
Unverbrüchlichkeit  des  an  gegebene  Bedingungen  geknüpften  Er- 
folges gemeinhat,  bekümmern  wir  uns  weiter  nicht  um  die  üblichen 
unwissenschaftlichen  Einwürfe,  sondern  wenden  uns  einer  Lehre  zu, 
mit  der  wir  glauben,  noch  einen  bedeutenderen  Schritt  über  die 
alten  Vorurtheile  hinauszuthun  und  auch  in  einigem  Maass  die  Ge- 
staltungsgründe der  künftigen  Schicksale  der  Gesellschaft  zu  erreichen. 
Die  Nebelhaffcigkeiten  einer  weder  tief  noch  scharf  angelegten  Moral 
haben    es  verschuldet,    dass  namentlich  die  Plattheiten   der  Schule 


—     172     — 

ohne  Widerspruch  eine  Menge  von  Affecten  als  reine  Schlechtigkeiten 
zu  brandmarken  vermochten.  Rache,  Neid  und  Eifersucht  sind  als 
Dinge  angesehen  worden,  die  nicht  im  Entferntesten  ein  Recht  zur 
Existenz  hätten  und  nur  zu  den  Uebelständen  der  menschlichen 
Natur  gehörten,  die  man  wohl  gar  auf  Rechnung  einer  verworfenen 
Sündhaftigkeit  setzen  sollte.  Aber  nicht  nur  die  neuere  Zeit  sondern 
auch  das  in  der  naturalistischen  Denkweise  weniger  gehemmte  Alter- 
thum  hat  sich  nicht  zu  der  Idee  zu  erheben  vermocht,  dass  in  der 
Oekouomie  der  Natur  alle  Leidenschaften  auf  nützliche  Verrichtungen 
angelegt  sind  und  im  Haushalt  der  Gesellschaft  ihre  Rollen  zu  spielen 
haben.  So  ist  der  von  mir  aufgestellten  Lehre  zufolge  die  Rache 
die  naturwüchsig  rohe,  aber  auch  in  alle  feinem  Organisationen  ein- 
gegangene Hüterin  der  Gerechtigkeit,  durch  welche  die  verübten 
Verletzungen  nicht  nur  signalisirt  sondern  auch  verfolgt  werden. 

8.  Der  Nachweis  wichtiger  Verrichtungen  für  bisher  einseitig 
verworfene  und  als  hässlich  in  Missachtung  gebrachte  Erregungen 
schliesst  nicht  aus,  dass  sich  überhaupt  in  der  menschlichen  Natur 
verwerfliche  und  zur  Vernichtung  bestimmte  Gemüthsbestandtheile 
finden.  Viele  Thiercharaktere  mit  der  ihnen  entsprechenden  Gestal- 
tung der  Begierden  und  Affecte  stehen  in  Widerspruch  mit  dem 
höheren  Typus  eines  veredelten  Wesens.  Blutdurst  und  Mordgier, 
die  offenbar  im  thierischen  Reich  vielfach  nicht  blos  im  Literesse 
der  Ernährung  sondern  offenbar  auch  als  Gestalten  des  Selbsigenusses 
der  damit  verbundenen  Empfindungen  entwickelt  und  gesteigert  wor- 
den sind,  können  sich  auch  im  menschlichen  Wesen  als  Mischungs- 
bestandtheile  verkörpert  finden,  und  mit  ihnen  ist  natürlich  ein  un- 
eingescliräukter  Vernichtungskrieg  zu  fuhren,  der  zur  Ausmerzung 
der  Eigenschaften  und,  wo  diese  sich  von  den  Personen  oder  vielmehr 
die  letztem  von  den  (jrstern  nicht  trennen  wollen,  auch  zur  Unschäd- 
lichmachung der  Träger  solcher  ungeheuerlichen  Attribute  führen 
muss.  Ein  verwandtes  Beispiel  ist  die  mit  Päderastie  oder  andern 
geschlechtlichen  Raffinements  gepaarte  Schlächterwollust,  die  ihre 
Opfer  auch  noch  verstümmeln,  zerlegen  und  überhaupt  in  ihren 
höchsten  Steigerungen  mit  besonderer  Grausamkeit  morden  muss, 
um  die  Bestandtheile  zu  dem  niederträchtigen  Gemisch  von  Kitzel 
zu  gewinnen,  der  ihren  ungeheuerlichen  und  meist  verlebten  Trägem 
allein  noch  zusagt.  Diese  scheusslichen  Gebilde  der  Corraption  kön- 
nen natürlich  kein  Recht  geltend  machen,  in  der  Oekonomie  der 
Natur  auch  nur  als  Gifte  einen  Platz  zu  behalten.    Sie  sind  in  dem 


—     173    — 

Spiel  der  Naturgesetze  den  Missgeburten  zu  vergleichen,  und  ihre 
Thaten  rauben  ihnen  das  Recht  auf  Existenz.  Wo  ähnliche  Miss- 
gebilde auch  nur  in  schwacher  Annäherung  vorhanden  sind,  müssen 
wir  die  irrende  Natur  verbessern;  aber  es  wäre  eine  Thorheit,  vor- 
auszusetzen, dass  die  Natur  im  Grundgerüst  der  wichtigsten  Leiden- 
schaften, wie  in  der  Rache,  dem  Neide  und  der  Eifersucht  völlig 
fehlgegrifiFen  und  verkehrte,  bedeutungslose  Gefuhlsfanctionen  ge- 
schaffen hätte,  die  noch  überdies  ihrem  Träger  peinlich  sind.  Der 
Stachel,  den  diese  Affecte  enthalten,  spielt  im  Haushalt  der  gegen- 
seitigen Beziehungen  von  Mensch  und  Mensch,  ja  zum  Theil  schon  in 
demjenigen  der  Thiere,  eine  auf  die  Selbsterhaltung  gerichtete  Rolle. 
Die  Rache  ist  eine  Rückwirkung  auf  wahre  oder  vermeintliche  Ver- 
letzungen. Die  geschlechtliche  Eifersucht  ist  ein  Hass  gegen  die  mit 
der  eignen  Affection  in  Widerspruch  stehende  Einmischung  eines 
zweiten  Geschlechtsverhältnisses  und  drückt  ebenfalls  irgend  eine 
wahre  oder  vermeinthche  Verletzung  besonderer  Art  aus.  Die  na- 
türlichen Bedingungen  des  Neides  sind  da  gegeben,  wo  in  Wirklich- 
keit oder  einer  falschen  Vorstellung  nach  die  in  Anspruch  genom- 
mene Gleichheit  oder  Verhältnissmässigkeit  verletzt  ist  und  daher 
etwas  begehrt  oder  missgönnt  wird,  was  der  Andere  besitzt,  aber 
nicht  besitzen  sollte.  Es  ist  also  auch  in  der  zweideutigen  Regung, 
welcher  der  sprachbildende  Verstand  einen  ebenfalls  bisweilen  ütc- 
führenden  Namen  gegeben  und  der  er  ungleichartige  Ideen  associirt 
hat,  etwas  von  dem  Triebe  zur  ausgleichenden  Gerechtigkeit  anzu- 
treffen. Die  plumpe  Thatsächlichkeit ,  mit  welcher  die  Natur  die 
Bedingungen  dieser  Affection  in  ihrer  rohen  Gestalt  zunächst  an  die 
blosse  Wahrnehmung  der  Unterschiede  und  des  Voraushabens  ge- 
knüpft hat,  verschuldet  es,  dass  der  gemeine  Neid  in  seiner  Rich- 
tung auf  persönliche  Naturvorzüge  oder  mühevoll  erworbene  Eigen- 
schaften nicht  blos  regelmässig  als  ein  elender  Bursche  von  nieder- 
trächtiger Gesinnung  auftritt,  sondern  es  auch  wirklich  im  tiefsten 
Grunde  seiner  Erzeugung  ist.  Hier  hat  der  Schematismus  der  Natur 
keine  erträglichere  Einrichtung  treffen  können,  und  man  muss  diesen 
üebelstand  um  der  bessern  Functionen  willen  gelten  lassen,  die  sich 
sonst  ergeben  und  auch  in  den  unwillkürlich  schlimmer  gestalteten 
Fällen  auf  Grund  richtiger  Einsichten  oder  durch  Kreuzung  mit  an- 
dern Affecten  entwickelt  werden  können.  Ein  Stück  Nemesis,  welches 
in  den  berechtigten  Gestaltungen  des  Neides  vertreten  wird,  ist  die 
Seite,  die  wir  sozusagen  als  Oekonomie  der  socialen,  wesentlich  auf 


—     174    — 

Gleichheit  angelegten  Natur  erkennen  und  als  nützliche  Triebkraft 
vor  der  unterschiedslosen  Verurtheilung  in  Schutz  nehmen,  üebri- 
gens  mag  man  mit  vollem  Recht  den  gemeinen  Neid  auf  gerecht- 
fertigte Vorzüge  als  das  Merkmal  und  die  Frucht  einer  doppelten 
Schlechtigkeit  betrachten.  Zu  dem  eignen  Mangel  der  bessern  Eigen- 
schaften und  zu  dem  Steckenbleiben  im  Gemeinen  gesellt  sich  noch 
die  positive  Niedertracht,  welche,  unfähig  zur  Anerkennung,  zur 
Sympathie  oder  gar  zur  Verehrung,  nur  den  Koth  voraussetzt  und 
sieht,  in  dem  sie  selbst  heimisch  ist,  und  daher  Alles  zu  ihrem 
Pfiitzendaseiu  hinabzuzerren  und  die  Welt  ausschliesslich  mit  ihrer 
Sumpfexistenz  einzunehmen  sucht. 

9.  Die  Reue  ist  das  Beispiel  einer  Gemüthsbeweguug,  deren 
Doppelgestaltigkeit  grosse  Bedeutung  hat.  Entweder  bezieht  sie  sich 
auf  eine  Handlung,  die  ausschliesslich  das  eigne  Wesen  betrifft,  oder 
sie  erfolgt  auf  eine  Schädigung  Anderer.  Im  letztem  Falle  kann  sie 
sich  weit  peinlicher  steigern,  als  im  erstem,  weil  der  intersubjective 
Schmerz  und  die  Verletzung  interhumaner  Beziehungen  die  Lebens- 
gefühle weit  schlimmer  angreifen,  als  es  die  Folgen  des  Schaltens 
mit  dem  eignen  Ergehen  jemals  vermögen.  Was  man  ausschliesslich 
gegen  sich  selbst  gethan  hat,  büsst  man  zugleich  auch  selbst,  und 
der  ünmuth  über  das  aus  eigner  Schuld  Verfehlte  kann  hier  zwar 
sehr  stark  werden,  aber  doch  nicht  in  jene  eigenthümlich  quälende 
Art  übergehen,  die  nur  eine  Wirkung  des  Bewusstseins  einer  Dnthat 
gegen  Andere  zu  sein  vermag.  Die  besondem  Vorbedingungen  der 
Reue  in  beiderlei  Gestalt  zu  erörtern,  würde  hier  zu  weit  fuhren. 
Dagegen  dürfen  Scham  und  Stolz  nicht  gänzlich  mit  Stillschweigen 
übergangen  werden.  Die  erster e  setzt  ein  Verhältniss  von  Mensch 
zu  Mensch  voraus,  während  der  letztere  nicht  blos  relativ  ist,  son- 
dern auch  absolut  in  der  völligen  Vereinsamung  mit  der  leblosen 
Natur  als  gesteigertes  Selbstgefühl  der  Kräfte  empfunden  werden 
kann.  Ueberhaupt  sind  die  nur  auf  die  Vergleichung  des  eignen 
Seins  mit  demjenigen  Anderer  gerichteten  Affecte  stets  auf  ihre  ab- 
solute Grundlage  zurückzuführen;  denn  dort  ist  erst  das  R«cht  und 
Maass  für  die  Selbsterhebung  oder  Selbstunterordnung  anzutreffen. 
Die  Bewunderung  ist  ohne  den  Eindruck  eines  gewaltigen  Unter- 
schiedes und  ohne  die  affective  Hingebung  an  eine  gleichsam  erhabene 
Thatsache  oder  Macht  nicht  denkbar.  Das  blosse  Staunen  der  Ueber- 
raschung,  die  Verwundemng  oder  das  Befremden  sind  sicherlich  mit 
jener  besondern  Form  der  Begeisterung,  die  von  einem  überlegenen 


—     175     — 

Gegenstaude  ausgeht,  uiclit  zu  verwechseln.  Das  Beispiel  des  Ehr- 
geizes kann  uns  ganz  besonders  lehren,  wie  die  Leidenschaften, 
welche  die  Steigerung  des  Lebensgefühls  auf  die  Erhebung  über  an- 
dere Wesen  bauen  und  sich  vorzugsweise  auf  den  erzielten  unter- 
schied stützen,  ihre  Kehrseite  in  feindlichen  Affecten  haben  müssen. 
Die  Einstimmung  ist  nämlich  nur  von  der  absoluten  Grundlage  aus 
möglich,  und  um  diese  kümmert  sich  die  eigentliche  Ambition,  möge 
sie  im  Keinen  oder  Grossen  hausen,  so  gut  wie  gar  nicht.  Ja  sie 
weiss  meistens  kaum  davon,  dass  die  Ehre,  d.  h.  der  Beifall  Anderer, 
Dur  dann  berechtigt  ist,  wenn  auch  nach  absolutem  Maasse  und  ab- 
gesehen von  aller  Relativität  und  Differenz  etwas  Gutes  als  Gegen- 
stand der  Schätzung  zu  Grunde  liegt,  üebrigens  ist  der  Affect  als 
Thorheitsgebilde  trotz  aller  seiner  gewaltigen  Realität  zu  verwerfen, 
und  die  im  Neide  enthaltene  Nemesis  folgt  ihm  alsdaun  mit  Recht 
auf  jedem  Schritte  und  glücklicherweise  nicht  als  blosser  Sc];iatten 
nach.  Wenn  das  Streben  auf  etwas  Heilsames  oder  an  sich  selbst 
Vorzügliches  gerichtet  ist  und  hiebei,  ohne  die  blosse  Erzielung  eines 
günstigen  Unterschiedes  gegen  Andere  zum  Beweggrund  zu  haben, 
ganz  von  selbst  eine  vor  andern  hervorragende  Gestalt  erzeugt,  so 
ist  dies  nicht  mehr  jener  oberflächliche  und  gemeine  Ehrgeiz,  son- 
dern die  Bethätigung  einer  direct  auf  den  werthvollen  Gegenstand 
gerichteten  Leidenschaft,  bei  welcher  die  Rücksicht  auf  echte  und 
begründete  Ehre  immerhin  eine  Rolle  zweiter  Ordnung,  aber  nie  die 
Hauptrolle  spielen  darf.  Da  die  Gefühle  zwischen  Mensch  und  Mensch 
die  höhere  Gattung  sind,  so  kann  auch  in  allen  Dingen  der  Hinblick 
auf  das  Urtheil  der  Menschen  ein  edles  Motiv  sein;  aber  es  muss 
sich  alsdann  um  jenen  naturgesetzlichen  und  ausserdem  wahren  Bei- 
fall handeln,  der  selbst  auf  einer  richtigen  Würdigung  der  persön- 
lichen Eigenschaften  oder  des  sachlich  Geschehenen  beruht.  Nun 
wird  aber  eine  solche  Würdigung  meist  schon  zuvor  die  Sache  des- 
jenigen sein,  der  sich  auf  eine  nachträglich  rühmenswerthe  Bestre- 
bung einlässt,  und  er  wird  daher  vom  eignen  Urtheil  abhängig  sein. 
In  der  That  ist  alles  tiefgegründete  und  nicht  blos  abgeleitete  Stre- 
ben keine  Wirkung  einer  Rechnung  mit  den  Chancen  der  Ehre  imd 
mithin  keines  Ehrgeizes  im  engern  und  gewöhnlicHen  Sinne  dieser 
Leidenschaft.  ♦ 

Die  Mannichfaltigkeit  der  Gemüthsbewegungen  lässt  sich  nicht 
so  einfach  ordnen,  wie  diejenige  der  niedriger  belegenen  Triebe.  Im 
Gebiet  der  letzteren  hatten  wir  die  Ernährung  und  Vervielfältigung, 


—     176     — 

also  in  einem  gewissen  Sinne  das  ausschliessliche  Eigenleben  auf  der 
einen  und  das  Gattungsleben  auf  der  andern  Seite  zu  leitenden  Ge- 
sichtspunkten. Auch  bei  den  Leidenschaften  konnten  wir  einen  ähn- 
lichen Unterschied  machen,  der  jedoch  keine  Verzweigungen  von 
derselben  leichten  Anschaulichkeit  lieferte.  Dennoch  kann  es  fiir 
das  tiefere  Verständniss  nicht  zweifelhaft  bleiben,  dass  die  Gemüths- 
bewegungen  Grundgestalten  des  hohem  Lebensgefuhls  sind  und  keine 
andere  Function  haben,  als  den  Werth  der  Lebensbeziehungen  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Es  ist  schwierig,  die  natürlichen  Ausgangs- 
punkte und  Grundgestalten  dieser  höheren  Erregungen  völlig  sicht- 
bar zu  machen,  weil  ihre  Specialformen,  wie  namentlich  unsere 
letzten  Beispiele  zeigten,  künstlich  mit  den  Lebenslagen  und  gesell- 
schaftlichen Verhältnissen  verwachsen  sind.  So  denkt  man  bei  dem 
Ehrgeiz  nicht  sofort  an  die  Trennung  und  Ausscheidung  der  ihm  zu 
Grunde  liegenden  natürlichen  Affectbestandtheile,  sondern  nimmt  ihn, 
wie  er  sich  unmittelbar  giebt.  Hiemit  entfernt  man  sich  aber  bereits 
von  dem  Boden  des  Einfachen  in  den  Anlagen  der  Menschennatur. 
Man  darf  sich  daher  nicht  wundern,  wenn  die  Hauptäste,  in  die  sich 
das  Lebensgefiihl  spaltet,  nicht  auf  den  ersten  Blick  erkennbar  wer- 
den. Mit  der  blossen  Unterscheidung  des  Bejahens  und  Verneinens 
ist  nicht  viel  gethan ;  denn  sie  ist  schon  für  die  allgemeine  Empfin- 
dung, die  auch  noch  nicht  entfernt  das  besondere  Wesen  der  Leiden- 
schaft deckt,  ein  ziemlich  leerer  Gesichtspunkt,  dem  gegenüber  der 
Antagonismus  der  Kräfte  bereits  ungleich  mehr  sagt.  Förderung 
und  Verletzung,  unmittelbar  auf  die  menschlichen  Bedürfnisse  be- 
zogen, sind  dagegen  viel  vollere  Vorstellungen,  und  wenn  man  mit 
Rücksicht  auf  dieselben  wiederum  das  Eigenleben  und  das  Gattungs- 
leben unterscheidet,  so  gewinnt  man  eine  Art  Stammbaum  für  die 
vereinzelten  oder  gepaart  aufzufassenden  Affecte.  Die  der  Selbst- 
erhaltung dienstbaren  Rückwirkungen  beziehen  sich  stets  auf  wahre 
oder  vermeintliche  Verletzungen;  die  positiv  gearteten  Regungen 
drücken  aber  einen  Ueberschuss  von  wohlthätigen  Einwirkungen 
aus,  der  über  die  blosse  Erhaltung  der  Unverletztheit  des  Wesens 
hinausreicht.  In  den  verschiedenen  Gestalten  der  Begeisterung  gipfelt 
die  Positivität  'der  Gemüthsbewegungen ,  und  das  höchste  Lebens- 
gefiihl, welches  eine  Mannichfaltigkeit  von  Gentüthserhebungen  und 
entsprechenden  Affectformen  unter  der  Vorherrschaft  einer  bestimmten 
Richtung  in  eine  Einheit  zusammenfasst ,  ist  auch  nichts  weiter  als 
ein  natürlicher  und  universeller  Aflfect.   Dem  ganzen  Sein  gegenüber 


—     177     — 

ist  nun  freilicli  die  falsche  Poesie  des  persönlich  doppelseitigen  Affects 
abzulegen;  dies  schliesst  aber  nicht  aus,  dass  ohne  die  Einmischung 
einer  Personification  der  Natur  erhebende  und  niederdrückende  Ge- 
müthsbewegungen  statthaben.  Der  universelle  Affect  kann  sich  in 
seinen  rohen  Formen  optimistisch  und  pessimistisch  spalten;  in  Wahr- 
heit und  durch  umfassendere  Einsicht  bestimmt,  kann  er  jedoch  nur 
das  Gepräge  der  Ausgleichung  und  Befriedigung  an  sich  tragen.  Er 
kann  nichts  Anderes  sein,  als  die  sich  erhaltende  Einheit  in  einer, 
mit  einem  theilweisen  Gleichgewicht  verbundenen  Bewegung  der 
Gemüthsverfassung.  Auch  er  hat  eine  gegenständliche  Bedeutung; 
denn  er  nimmt  das  Wesen  der  Welt  in  sich  auf  und  hängt  in  seiner 
Harmonie  von  der  allseitigen  Erkenntniss  ab.  Für  seine  haltbare 
Gestaltung  und  Gewöhnung  wird  mehr  Einsicht  und  Wissenschaft 
erfordert,  als  für  diejenige  irgend  einer  besondern  Leidenschaft. 

Die  vorangehende  Wüi'digung  einer  universellen  Gestaltung  des 
Systems  der  Leidenschaften  zu  emer  Auffassungsform  der  Welt  und 
des  Lebens  bestätigt  sich,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  Gemüths- 
bewegungen  von  der  Natur  als  nächster  unmittelbarster  Ausdruck 
des  thierischen  und  menschlichen  Lebensinhalts  geschaffen  und  schliess- 
lich zu  einem  alles  Wohl  und  Wehe  in  sich  aufaehmenden  höchsten 
Empfinden  aller  Daseinsbeziehungen  gesteigert  worden  sind.  Dieses 
Empfinden  wird  nun  durch  die  geringere  oder  grössere  Tragweite 
der  Einsicht  mehr  oder  minder  und  ausserdem  je  nach  Wahrheit 
und  Lrthum  mannichfaltig  in  einer  auf  die  Dauer  haltbaren  oder 
unhaltbaren  Richtung  angeregt,  und  hiemit  erwächst  die  Nothwendig- 
keit,  die  Einwirkungen  der  gesammten,  sei  es  unmittelbaren  oder 
erworbenen  Yerstandeseinsicht  auf  die  einzelnen  Leidenschaften  oder 
auf  das  ganze  Gemüth  in  Anschlag  zu  bringen.  Die  Affecte  ent- 
springen nicht  aus  dem  Verstände  und  ergeben  ihr  animales  Spiel 
auch  bei  einer  geringen  Dosis  von  rein  thierischer  Erkenntniss ;  aber 
sie  gelangen  zu  ihren  höchsten  Functionen  erst  durch  die  richtende 
Kraft  jener  hohen  Intelligenz,  welche  ihrer  ursprünglichen  Blindheit 
und  ihrem  Streit  mit  der  Klarheit  einer  freien  Ordnung  zu  Hülfe 
kommt  und  so  ihre  naturwüchsige  Unzulänglichkeit  zu  heilsamen 
Schöpfungen  vollendet. 


Du  h ring,  Curgus  der  Philosophie.  12 


—     178    — 

IDrittes  Oapitel- 

Verstand  und  Vernunft. 

Das  Vermögen  der  rationellen  Einsicht  wird  am  besten  Vei-stand 
genannt,  während  die  Bethätigung  des  Verstandes  in  Handlungen 
gewöhnlich  Vernunft  heisst.  Hienach  sind  nicht  zwei  Arten  der  In- 
telligenz, sondern  wesentlich  nur  eine  einzige  Einsichtsform  anzu- 
nehmen. Das  Erkennen  der  Gründe  und  das  Handeln  nach  Gründen 
bilden  zusammen  die  Gesammtäusserung  unserer  höheren  Einsicht. 
Im  Theoretischen  noch  eine  besondere  Vernunft  annehmen,  die  vom 
Verstände  unterschieden  wäre,  ist  unzulässig.  Empfindung  und  Sinne 
bilden  gleichsam  den  Unterbau  des  Verstandes,  während  Triebe  und 
Leidenschaften  den  Gegenstand  and  Inhalt  für  die  Vernunft  d.  h.  für 
die  Anwendung  des  Verstandes  auf  das  Praktische  abgeben.  Die 
Vernunft  entspringt  aus  jener  Freiheit,  die  in  der  Fähigkeit  der 
Selbstbestimmung  durch  bewusste  Vorstellungen  enthalten  ist.  Die 
Capacität  zu  Vorstellungen,  die  im  Bewusstsein  verglichen  werden 
können,  ist  die  Vorbedingung  zu  jedem  Grad  von  Verstandeseinwir- 
kung auf  die  Handlungen.  In  der  Vernunft  ein  Vermögen  zu  Schlüs- 
sen, zu  Schlussreihen  und  zu  abschliessenden  Zusammenfassungen 
der  Gedankenbestandtheile  sehen  wollen,  ist  ein  ganz  müssiges  Unter- 
fangen; denn  warum  sollen  die  einmahge  und  die  wiederholte  Ver- 
standesthätigkeit  auf  eine  Gedankenmacht  verschiedener  Qualität 
zurückgeführt  werden,  oder  warum  soll  die  vollständige  und  ab- 
schliessende Einsicht,  welche  die  Kette  der  Elemente  durchläuft,  in 
der  erzeugenden  Function  anders  geartet  sein,  als  die  partielle?  Es 
ist  schädliche  Scholastik,  derartige  Unterscheidungen,  die  weder  für 
die  Geistesfanctionen  nachweisbar,  noch  für  die  gegenständlichen  und 
als  Ergebnisse  wahrnehmbaren  theoretischen  Bethätigungen  einen 
zutreffenden  Sinn  haben,  zu  pflegen  und  dabei  noch  den  Anspruch 
zu  machen,  etwas  über  das  Wesen  unserer  Geisteskräfte  festzustellen. 
Weder  die  bisherige  Untersuchung  des  Gehirns  noch  die  unmittel- 
bare Prüfung  des  Bewusstseins  ergiebt  irgend  eine  Sonderung,  die 
uns  zu  einer  vom  Verstände  unterschiedenen  Vernunft  als  einer  be- 
sondem  Function  des  theoretischen  Erkennens  zu  verhelfen  vermöchte. 
Wohl  aber  können  wir  in  den  Antrieben  aller  Art  die  Wurzeln  eines 
praktischen  Verständnisses  und  Verstandesgebrauchs  antreffen,  dem 
wir  mit  Fug  und  Recht  den  besondern  Namen  Vernunft  beilegen 


—     179     — 

mögen.  Die  Vernunft  könnte  hienach  sogar  als  die  durch  den  Ver- 
stand erzeugte  Einheit  der  Triebe  und  Leidenschaften  angesehen 
werden,  so  dass  sie  die  Einigung  des  mannichfaltigen  Strebens  zu 
einem  nach  bewussten  Gründen  bestimmten  Wollen  wäre. 

Prüft  man  die  gewöhnlichen  Rechenschaften  über  die  Verrich- 
tungen unserer  Einsichtsthätigkeit,  so  findet  man,  dass  nur  wenig 
gesagt  wird,  was  über  die  Fingerzeige  des  Sprachgebrauchs  der  ein- 
schlagenden Wörter  hiuausreichte.  Ja  die  üebereinstimmung  mit 
den  Ueberlieferungen  der  sprachlich  fixirten  Vorstellungsverbindungen 
ist  noch  ein  günstiger  Fall ;  denn  häufig  haben  die  Abwege  der  Ver- 
schulung  zu  den  launenhaftesten  Aufstellungen  willkürHcher  Verzwickt- 
heiten geführt.  Man  hat  alle  Ursache,  in  diesem  Gebiet  bescheiden 
zu  sein;  denn  an  sich  selbst  kann  man  den  Verstand  in  dem  Rahmen 
des  Bewusstseins  kaum  sichtbar  machen,  und  mittelbar  in  seinen 
gegenständlichen  Aeusserungen  kann  man  zwar  die  Gattungen  seiner 
Ergebnisse  sondern,  aber  hiemit  noch  nicht  seine  ursprüngHche 
Functionsgliederung  biosiegen.  Um  Letzteres  zu  können,  reicht  es 
nicht  hin,  das  innere  Bewusstsein  zu  befragen,  sondern  man  muss 
die  körperlich  sichtbare  Organisation  des  Organs  zum  Führer  nehmen 
können.  Nun  geben  aber  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehirns 
bis  jetzt  einen  sehr  unzulänghchen  Führer  ab.  Das  einzige  Erheb- 
liche, was  sie  in  dieser  Richtung  geleistet  haben,  ist  die  Flourenssche 
Nachweisung,  dass  ohne  die  grossen  Hemisphären  keine  anschauliche 
Vorstellung  und  mithin  auch  keine  willkürliche  Selbstbestimmung 
nach  Motiven  vollzogen  werden  kann.  So  werthvoU  diese  Erkennt- 
niss  nun  auch  ist,  so  hefert  sie  doch  keine  Speciahsirung^der  Ver- 
standesthätigkeit.  Sie  gewährt  nur  die  Ueberzeugung,  wie  das  Vor- 
stellungsvermögen hinter  der  Stirn  sein  Werkzeug  hat  und  ohne 
diese  Gehirntheile,  welche  bei  dem  Menschen  die  obere,  den  ganzen 
Vorderkopf  einnehmende  Masse  formiren,  nicht  von  Statten  geht. 
Dies  ist  nicht  viel,  aber  doch,  wie  wir  nachher  sehen  werden,  genug, 
um  wenigstens  von  der  psychologischen  Freiheit  einen  richtigen  Be- 
griff zu  gewinnen. 

2.  Der  Verstand  erkennt  das  Einerlei  und  die  Veränderungen; 
er  bezieht  sich  mithin  auf  Gattungen  und  Ursachen,  die  jedoch  beide 
in  einem  einheitlichen  Grunde  ihren  Halt  haben.  Die  Gattung  in 
den  Dingen  ist  nichts  als  ein  Beharrliches  oder  eine  Regel  der  Com- 
position  der  Gebilde.  Hiemit  weist  sie  aber  auf  eine  ursächliche 
Gestaltungskraft  hin,  welche  in  der  Mannichfaltigkeit  der  Gebilde 

12* 


—     180    — 

die  Theile  nach  einem  Gesetz  zusammenhält.  Das  Wesen  der  Gat- 
tung ist  also  auch  ein  Gesetz,  wie  man  sich  ja  mit  grösster  Klar- 
heit an  den  selbstgebildeten  Gattungen  geometrischer  Gestalten  an- 
schaulich machen  kann.  Wenn  nun  die  Gattung  nur  die  gleichzeitige 
Sichtbarkeit  und  Nebenordnung  des  eine  Mannichfaltigkeit  beherr- 
schenden Gesetzes  ist,  so  wird  das  Wesen  des  Verstandes,  nämlich 
seine  letzte  und  tiefgreifendste  Function,  überall  und  durchgängig 
im  Erkennen  der  Gründe  oder,  mit  andern  Worten,  in  der  Wahr- 
nehmung des  Zusammenhangs  bestehen.  Die  Art  der  Verknüpfung 
der  Wirklichkeitsbestandtheile  wird  in  seinen  niedrigen  wie  in  seinen 
hohen  Bethätigungen  der  entscheidende  Gegenstand  bleiben.  Die 
Zurüstung  der  Sinne  und  Antriebe  wird  zu  dieser  Verrichtung  bereits 
eine  erhebliche  Vorbereitung  liefern;  denn  über  das  Allgemeine  wird 
schon  durch  die  sinnliche  Auffassung  und  durch  die  triebförmige 
Bestimmung  eine  vorgängige  Entscheidung  getroffen.  Die  Phantasie, 
die  schon  im  blossen  Aufnehmen  der  Bilder  eine  gestaltende  Thätig- 
keit  aus  sich  selbst  übt,  wird  vollends  in  ihrem  freien  und  absicht- 
lichen Spiel  zu  einer  construirenden  Macht,  von  welcher  das  allge- 
meine Gepräge  der  Erscheinungen  nach  Maassgabe  der  wirklichen 
Eindrücke  und  Zusammenhänge  entworfen  wird.  Sie  findet  sich  von 
den  Antrieben  beherrscht,  und  die  Gewohnheit  d.  h.  die  beharrliche 
Wiederkehr  der  einmal  oder  öfter  fixirten  Ansätze  zum  Vorstellen 
nach  Maassgabe  irgend  einer  Periodicität  spielt  auch  in  der  Imagi- 
nation eine  bedeutende  Rolle. 

Das  Gedächtniss,  welches  gewöhnlich  nur  beschrieben,  aber 
nicht  in  seiner  Allgemeinheit  erkannt  wird,  ist  nichts  als  der 
Inbegriff  der  zur  Wiedererzeugung  hinreichend  fixirten  Vorstel- 
Inngen.  Es  sind  nicht  die  Ideen,  Bilder  oder  Begriffe  selbst,  son- 
dern die  Fertigkeiten  und  Materialien,  die  zu  ihrer  Wiederhervor- 
bringung  dienen,  was  erworben  und  bei  der  Erinnerung  zu  wei- 
terem Gebrauch  für  die  construirende  Phantasie  verfugbar  wird. 
Wie  man  sich  die  Fähigkeit  zu  besondem  Bewegungen  der  GHeder 
aneignet,  so  gelangt  man  auch  zu  den  Fertigkeiten  der  Vorstellungs- 
organe. Es  sind  also  nicht  die  Ideen  selbst,  sondern  nur  die  Fähig- 
keiten zu  ihrer  Bildung  in  uns  mehr  oder  minder  fixirt.  Eine  Vor- 
stellung als  solche  ist  stets  nur  mit  ihrer  jedesmaUgen  Erzeugung 
im  Bewusstsein  vorhanden,  so  dass  Alles,  was  in  den  Rahmen  des 
Bewusstseins  wahrnehmbar  eintreten  soll,  durch  innere  oder  äussere 
Reize  gleichsam  erst  erweckt  und  in  der  neuen  eigentlichen  Bewusst- 


—     181     — 

seinsform  sogar  erst  geschaffen  werden  muss.  Die  ursprünglichen 
allgemeinen  Anlagen  znr  entsprechenden  Bewegung  müssen  daher 
in  den  Yorstellungsorganen  vorhanden  sein,  ehe  die  äusseren  Reize 
das  Bewusstsein  ins  Leben  rufen  und  durch  einmalige  oder  wieder- 
holte Erregungen  den  Erwerb  der  Begriffe  oder  die  Uebungen  und 
Gewohnheiten  begründen,  auf  denen  unsere  unwillkürlichen  Erinne- 
rungen und  Vorwegnahmen  des  Geschehens  beruhen. 

Die  sogenannte  Vergesellschaftung  der  Vorstellungen  bezieht  sich 
auf  Bewusstseinselemente  aller  Art  und  wurzelt  selbstverständlich  in 
jenem  Bereich,  aus  welchem  heraus  die  Bewusstseinsgebilde  bei  den 
einzelnen  Gelegenheiten  erst  erzeugt  werden  müssen.  In  der  That 
ist  die  Ideenassociation  bei  Thier  und  Mensch  die  Grundlage  und 
hiemit  die  erste  Stufe  des  Verstandes  selbst.  Die  äusserlichen  Typen 
der  Verknüpfung,  um  die  man  sich  im  Gebiet  der  zufälligen  und 
unwillkürlichen  Gesellung  und  Gruppirung  der  Gedanken  am  meisten 
gekümmert  hat,  sind  von  geringerer  Bedeutung,  als  die  tieferen  Ur- 
sachen und  letzten  Gesetze  des  ganzen  Spieles.  Man  hat  die  Aehn- 
lichkeiten  und  Contraste  als  Verknüpfangsgründe  hingestellt;  man 
hat  auch  den  Zusammenhang  der  vorbildlichen  Wirklichkeiten  als 
maassgebend  für  die  Verbindung  ihrer  Vorstellungsbilder  anerkannt; 
aber  man  hat  sich  durch  das  Blinde  und  Wüste,  was  die  sich  selbst  über- 
lassene  Ideenassociation  in  Vergleichung  mit  einem  völlig  geordneten 
Gedankengange  aufweist,  zu  einer  Verkenuung  der  unverbrüchlichen 
Herrschaft  der  Naturgesetze  und  zwar  besonders  zur  Uebersehung 
derjenigen  Gesetze  verleiten  lassen,  welche  trotz  aller  verhältniss- 
mässigen  Verworrenheit  dennoch  auf  Zucht  und  Regel  hinarbeiten. 
Die  Vorstellungsgeselluug  vollzieht  sich  in  einem  Rahmen,  in  wel- 
chem die  Grund  Verfassung  aller  Phantasie,  nämlich  eine  räumliche 
Grappirung,  eine  zeitliche  Abfolge,  die  gegenseitige  Anziehung  des 
Gleichartigen  sowie  die  Unterordnung  unter  einen  Trieb  oder  Affect 
maassgebend  ist.  Indem  der  Zusammenhang  der  Vorstellungen  durch 
die  Verbindung  der  Wirklichkeitsreize  der  äussern  oder  innern  Natur 
bestimmt  wird,  vollzieht  sich  grade  in  der  gleichsam  geselligen  Grup- 
pirung der  verwandten  Gedankenkeime  eine  Annäherung  an  die  that- 
sächliche  und  logische  Systematik.  Auch  diejenigen  Verknüpfungen, 
welche  einen  völlig  äusserlichen  Zusammenhang  wirklicher  Eindrücke 
für  die  Wiederhervorbringung  festhalten,  schliessen  Wahrheit  ein, 
wie  sie  der  Erinnerung  nicht  verloren  gehen  darf,  wenn  überhaupt 
noch    das  Einzelne   Gegenstand   der  Erkenntniss  bleiben   soll.     Ein 


—    182    — 

Wissen  aber  und  ein  Verstand,  die  nur  auf  das  Allgemeine  gingen, 
könnten  weder  praktisch  noch  theoretisch  für  vollständig  oder  brauch- 
bar gelten.  Wehren  wir  uns  daher  nicht  gegen  die  Anerkennung 
der  Fundamente,  die  in  der  aniraalen,  zugleich  unwillkürhchen  und 
willkürlichen  Yorstellungsgesellung  anzutreffen  sind,  aus  Rücksichten 
einer  falschen  Yomehmheit.  Ohne  dieses  Piedestal  würde  der  Ver- 
stand keinen  Boden  unter  den  Füssen  haben. 

3.  Es  ist  leicht,  den  Verstand  nach  seinen  Ergebnissen  zu  be- 
messen; aber  diese  Bestimmungsart,  welche  uns  z.  B.  ein  mathema- 
tisches Denken  oder  eine  Fähigkeit  zur  Vollziehung  der  logischen 
Operationen  liefert,  belehrt  uns  nur  über  gewisse  Grundgestalten  der 
Ausübung  der  allgemeinsten  Verstandeskräfte,  jedoch  nicht  über  das 
volle  Wesen  der  Sache  in  ihrer  ganzen  Reichhaltigkeit.  Der  Ver- 
stand bethätigt  sich  in  und  mit  den  Sinnen  sowie  in  und  mit  den 
Trieben  und  Affecten.  Er  ist  weit  davon  entfernt,  sich  mit  blos 
abstracten  Thätigkeiten,  also  etwa  mit  der  Orientirung  im  Räume 
und  in  der  Zeit  nach  Maassgabe  regelnder  Grundbegriffe  zu  er- 
schöpfen. Wir  brauchen  nur  an  den  Traum,  in  welchem  der  Ver- 
stand nicht  gänzlich  abwesend  ist,  mit  einiger  Ueberlegung  zu  den- 
ken, um  einzusehen,  dass  es  auf  die  Art  und  den  Umfang  ankommt, 
in  welchem  die  leitenden  und  ordnenden  Begriffe  zur  Bethätigung 
gelangen.  Mit  der  blossen  Möglichkeit,  eine  ursächliche  Beziehung 
vorzustellen,  ist  das  Verständniss  noch  keineswegs  gesichert;  denn 
an  dem  Denken  ursächlicher  Beziehungen  und  sogar  an  einem  theil- 
weise  geordneten  Zusammenhang  braucht  es  auch  im  Traume  nicht 
zu  fehlen.  Nicht  blos  die  spielende  sondern  auch  die  construirende 
Thätigkeit  der  Phantasie  ist  den  Zuständen  des  Träumens  und 
Wachens  geraeinsam,  und  es  fehlt  im  Traume  nur  an  der  Unter- 
scheidung des  durch  innere  Reize  Hervorgebrachten  von  einer  Vor- 
stellungswelt, die  nur  auf  äussere  Reize  hin  entstehen  kann.  Bei 
der  Hallucination  ist  diese  Unterscheidung  ausfuhrbar;  denn  jene  ist 
nichts  Anderes  als  ein  Traumbild,  welches  sich  in  den  übrigens  wachen 
Zustand  einmischt.  Es  heisst  also  noch  verstandesmässig  verfahren, 
wenn  man  die  Hallucination  d.  h.  das  sich  in  seiner  Vereinzelung 
gleichsam  gespenstisch  ausnehmende  blosse  Gehimbild  inmitten  der 
regelrechten  Vorstellungen  als  rein  subjective  Projection  erkennt. 
Die  ekstatischen  Zustände  schliessen  den  Verstand  auch  nicht  völlig 
aus,  und  die  Fieberphantasien  können  als  Steigerungen  eines  allge- 
meinen Phantasierausches  angesc^hcn  werden,  wie  er  sich  in  geringem 


—     183     — 

Graden  und  mannichfaltigen  Gestaltungen  in  übrigens  regelrechte 
Zustände  des  Denkens  und  Vorstellens  einmischt.  Die  Phantastik 
einer  falschen  Poesie  oder  eines  irregehenden  Enthusiasmus  mag  den 
Verstand  in  einer  einseitigen  Richtung  beherrschen,  hebt  ihn  aber 
nicht  auf.  Die  geistigen  Berauschungen,  namenthch  die  Ausschwei- 
fungen in  der  ursprünglichen  oder  nachbildenden  Erzeugung  und 
Wiederholung  von  Affecten,  beeinträchtigen  ebenfalls  das  regelrechte 
Spiel  der  Y erstandeskräfte ,  lähmen  aber  doch  noch  weit  mehr  die 
natürlichen  Gemüthsf ähigkeiten ,  als  dass  sie  die  Wurzeln  des  Den- 
kens selbst  berührten.  Sogar  die  Trunkenheit  im  eigentlichen  Sinne 
des  Worts  lässt  in  einigen  ihrer  Stadien  noch  immer  einen  ziem- 
lichen Spielraum  für  die  gehörige  Ordnung  der  Vorstellungen  und 
für  die  üeberlegung  offen. 

Auch  der  Wahnsinn  löst  uns  das  Räthsel  des  Verstandes  nicht; 
denn  er  ist  nur  ein  theilweiser  Gegensatz  zu  ihm.  Erst  der  eigent- 
liche Blödsinn  spricht  deutlich;  denn  er  lehrt  uns  die  Abstumpfung 
oder  den  Mangel  der  Unterscheidungskräfte  kennen.  Die  Abwesen- 
heit des  Inbegriffs  der  unterscheidenden  Fähigkeiten  ist  daher  das 
Merkmal  der  eigentlichen  Verstandesschwäche.  Im  Wahnsinn  sind 
es  dagegen  oft  nur  die  falschen  Vor  Stellungsmaterialien,  welche  den 
übrigens  richtig  fungirenden  Verstand  in  irgend  einer  Beziehung 
fehlgreifen  lassen.  Viel  Wahnwitz  ist  oft  genug  mit  viel  Verstand 
gemischt,  und  wie  sogar  für  die  gemeineren  Angelegenheiten  des 
Lebens  das  Irrenhaus  keineswegs  eine  zuverlässige  Scheidelinie  zwi- 
schen gesundem  und  gestörtem  Verhalten  bildet,  so  ist  dies  noch 
viel  weniger  für  die  poetischen,  philosophischen  und  wissenschaft- 
lichen Geistesbethätigungen  der  Fall.  Hier  kann  sich  die  krankhafte 
Gesfcörtheit  ungenirter  als  im  gemeinen  Geschäftsleben  ergehen,  und 
bisweilen  gelingt  es  ihr  sogar,  sich  mit  dem  Heiligenschein  des  Ge- 
nies zu  verherrüchen.  Die  Möglichkeit  dieser  letzteren  Vorgänge 
beruht  auf  dem  Schutz,  den  die  Vorzüglichkeit  in  irgend  einer  Rich- 
tung auch  dem  Verkehrten  und  offenbar  Wahnsinnigen  dadurch  ver- 
schafft, dass  sie  dasselbe  theils  beschattet  theils  für  die  Menge  un- 
glaublich macht.  Der  Unerfahrene  sieht  alsdann  über  die  ärgsten 
Thorheiten  absichtlich  hinweg  und  glaubt  in  ihnen  nur  nebensäch- 
liche Sonderbarkeiten  oder  wenigstens  nur  misslungene  Mitergebnisse 
der  dem  hohen  Fluge  nun  einmal  anhaftenden  Ueberschwenghch- 
keiten  vor  sich  zu  haben. 

Das  Wesen    des  Wahnsinns    könnte  uns  über  das  Wesen  des 


-     184    — 

Verstandes  auch  dann  nicht  viel  Aufschluss  geben,  wenn  jenes  selbst 
besser  ergründet  wäre,  als  es  wirklich  ist.  Man  kann  allerdings  da- 
von ausgehen,  dass  schon  der  gelinde  Wahnsinn  in  seinen  gering- 
fügigsten Spuren  eine  Unterbrechung  der  Stetigkeit  im  Fluss  der 
Vorstellungen  und  in  deren  gegenseitigem  Verkehr  verräth.  Die  so- 
genannten fixen  Ideen  beginnen  mit  jeder  solchen  Verrückung  der 
Aufmerksamkeit,  die  dauernd  ein  freies  Ablenken  ausschliesst  und 
so  dem  Bewusstsein  einen  Zwang  auferlegt.  Im  übrigens  gesundesten 
Zustande  sind  die  Ideen,  die  sich  ausschliesslich  geltend  machen, 
nicht  weichen  und  gleichsam  fest  werden  wollen,  bereits  bedenkliche 
Anzeichen  und  können  sich  in  eigentliche  Wahnfixirungen  verwan- 
deln. Die  allseitige  Freiheit  in  dem  Spiel  der  Kräfte  ist  auch  hier 
das  Grundgesetz  der  Gesundheit.  Keine  erhebhche  Gleichgewichts- 
störung des  Bewusstseinsinhalts  darf  den  Charakter  der  Beharrlichkeit 
annehmen,  sondern  muss  durch  Bewegungen  in  anderer  Richtung 
abgelöst  werden,  wenn  nicht  eine  unzuträgliche  Stauung  und  viel- 
leicht gar  nach  und  nach  eine  bedrohliche  Fixirung  eintreten  soll. 
Der  freie  Fluss  der  Ideen,  welcher  der  Willensrichtung  ohne  Schwie- 
rigkeit folgt,  ist  in  der  That  das  Merkmal  eines  normal  thätigen 
Verstandes. 

Die  Phantasie  ist  jene  grosse  Macht,  durch  die  wir  so  viel  ver- 
mögen, aber  auch  in  entsprechendem  Maasse  irren.  Ihre  freie  Ge- 
staltungskraft kann  mit  den  Wirklichkeiten  der  Natur  mehr  als  blos 
Schritt  halten.  Die  wirklichen  Gebilde  und  die  ideellen  Entwürfe 
entstammen  einer  und  derselben  Macht,  so  dass  die  Phantasiethätig- 
keit  zugleich  eine  Parallele  und  eine  Fortsetzung  der  schaffenden 
Natur  wird.  Das  souveraine  Wesen,  welches  die  untern  Stufen  der 
Natur  zum  Fussgestell  hat  und  in  sich  alle  Arten  der  Wirklichkeit 
vereinigt,  setzt  mit  seiner  Phantasie  auch  mehr  oder  minder  Ver- 
stand ins  Spiel.  Die  verhältnissmässige  Losgebundenheit  der  Ima- 
gination, deren  Deutsche  Bezeichnung  als  Einbildungskraft  fiir  den 
Geist  der  Urheber  dieses  schielenden  Wortgebrauchs  nicht  schmeichel- 
haft ist  und  selbst  wenig  Phantasie  verräth,  —  diese  imaginative 
Freiheit,  die  in  allen  bedingungsweise  vorstellbaren  Möglichkeiten 
zu  schweifen  vermag,  liefert  den  Spielraum  für  ein  umfassendes  Reich 
von  Wahrheit  und  Irrthum.  Die  Neutralität  wird  hier  am  meisten 
durch  die  Triebe  und  Leidenschaften  aufgehoben,  welche  in  der  Rich- 
timg ihrer  Erregungen  diejenigen  Möglichkeiten  oder  Wahrscheinlich- 
keiten am  meisten  nahe  bringen,  welche  dem  jedesmal  vorherrschen- 


—     185     — 

den  Affect  eine  verstandesmässige  Ausstattung  gewähren.  Furcht 
und  Hoffnung  sowie  Hass  und  Liebe  lenken  die  Phantasie  in  ihrem 
Dienst,  und  der  Verstand,  der  auf  eben  diese  Phantasie  als  auf  sein 
Werkzeug  und  auf  die  von  ihr  beschafften  Materialien  als  Rohstoffe 
hingewiesen  ist,  wird  in  seinen  Ergebnissen  Einseitigkeiten  und 
Combinationsfehler  zeigen  müssen,  von  denen  er  sich  allerdings  im 
Allgemeinen,  wenn  auch  nicht  jedesmal  in  dem  besondem  Fall,  durch 
nachträgliche  Veranschlagung  der  Affectwirkungen  befreien  kann. 
Ungeachtet  dieses  theilweisen  Widerstreits  zwischen  Verstand  und 
Phantasie  darf  man  aber  nicht  vergessen,  dass  grade  die  Phantasie 
ein  unentbehrliches  und  überdies  schöpferisches  Organ  des  Verstandes 
bleibt.  Die  schematischen  Entwürfe  zu  einfachen  räumlichen  und 
zeitlichen  Gebilden  beruhen  auf  der  Verbindung  der  verstandes- 
mässigen  Regel  mit  der  Durchmessung  der  phantasiemässigen  Mög- 
lichkeiten. Aehnlich  verhält  sich  nun  die  Geistesthätigkeit  in  allen 
Gebieten,  und  so  wird  es  klar,  dass  ohne  die  theils  nachbildende 
theils  frei  entwerfende  Imagination  kein  ürtheil  und  kein  Schluss 
über  die  Beziehungen  thatsächlicher  oder  möglicher  Gebilde  gewon- 
nen werden  könnte.  Die  Ausschweifungen  der  Phantasie  sind  daher 
eine  begreifliche  Mitgift  der  in  ihr  verwirklichten  Freiheit.  Auch 
für  den  Verstand  ist  durch  kein  anderes  Mittel  die  Entbindung  von 
der  Pflege  einer  beengten  Thatsächlichkeit  und  die  Befähigung  zu 
bedeutenden  Vorwegnahmen  eines  zukünftigen  Geschehens  möglich. 
Die  Natur  componirt  die  Elemente,  die  Phantasie  thut  dasselbe  mit 
den  elementaren  Ideen  und  zugehörigen  Functionen.  Die  Zeugungs- 
fahigkeit  des  Verstandes  würde  nie  zur  Frucht  gelangen,  wenn  sie 
nicht  ihre  Kräfte  im  Schoosse  der  Phantasie  bethätigen  könnte. 

4.  Das  Vorstellungsspiel  oder  überhaupt  die  Bewusstseinsthätig- 
keit  ist  im  Verhältniss  zu  allen  bewusstlosen  Wirkungen  etwas  Freies. 
Vergleichen  wir  die  Vorgänge  im  Zustande  des  tiefsten  Schlafs  oder 
einer  das  Bewusstsein  völHg  verdunkelnden  Ohnmacht  mit  derjenigen 
Thätigkeitsart ,  die  im  wachen  und  regelrechten  Zustande  durch  die 
Bewusstseinselemente  vermittelt  wird,  so  sehen  wir  ohne  Weiteres 
die  Kluft  zwischen  der  rein  mechanischen  oder  bewusstlos  physiolo- 
gischen Wirksamkeit  der  Reize  und  den  Handlungen  unseres  die 
Beziehungen  der  Aussen  weit  spiegelnden  Vorstellungsvermögens. 
Hiemit  erkennen  wir  auch  zugleich  den  Sinn  der  sogenannten  psy- 
chologischen Freiheit,  die  in  der  That  nichts  weiter  ist,  als  die  Em- 
pfänglichkeit für  Bewusstseinsmotive  oder,   mit  andern  Worten,  die 


—     186    — 

Bestimmbarkeit  durch  Gründe  d.  h.  durch  vorgestellte  Ursachen. 
Wenn  Flourens  seinen  Tauben  die  obem  Schichten  der  grossen  He- 
misphären des  Gehirns  abgetragen  hatte,  so  war  hiemit  die  durch 
das  Yorstellungsvermögen  vermittelte  Bestimmbarkeit  und  zugleich 
das  freiwilHge  Spiel  der  bewussten  Selbstbestimmung  ausgeschlossen. 
Das  Leben  gestaltete  sich  fast  pflanzenartig,  und  nur  die  unmittel- 
baren Rückwirkungen  auf  Reize,  wie  die  Flügelbewegung  bei  dem 
Werfen  in  die  Luft  oder  die  Flüssigkeitseinnahme  bei  dem  Eintauchen 
des  Schnabels,  bekundeten  noch  die  niedern  Stufen  der  animalen 
Regsamkeiten.  Die  Erhaltung  eines  solchen  Lebenszustandes  durch 
Wochen  beweist  die  verhältnissmässige  Unabhängigkeit  der  leben- 
digen Mechanik  von  der  Vermittlung  durch  Ideen  und  von  der 
Unterstützung  durch  bewusste  und  mithin  eigentliche Willensthätigkeit. 
Von  einem  bewusstlosen  Wollen  kann  man  nur  vergleichungsweise 
oder  bildlich  reden,  und  grade  hier,  wo  wir  die  selbständige  und  in 
diesem  Sinne  freie  Erhebung  des  Vorstellungsbereichs  über  den  nie- 
dern Stufen  der  sonstigen  Naturgesetzlichkeit  ins  Auge  fassen,  dürfen 
wir  das  vorstellungsmässige  Wollen  nicht  mit  jedem  beliebigen  Stre- 
ben zusammenfallen  lassen. 

Das  Wort  Wille  hat  häufig  zu  einer  falschen  Verdinglichung 
verleitet.  In  Wahrheit  giebt  es  nur  ein  Wollen,  und  dieses  ist  ein 
Erzeugniss  der  Zusammensetzung  der  antreibenden  Kräfte  des  in  den 
Trieben  und  Leidenschaften  enthaltenen  Strebens  mit  den  verstandes- 
mässigen  Richtungsbestimmmigen.  Die  Rolle  des  Bewusstseins  ist 
für  das  eigentliche  Wollen  entscheidend;  denn  je  mehr  die  verstandes- 
mässige  Orienfciruug  und  richtende  oder  hemmende  Einwirkung  zurück- 
tritt, um  so  weniger  findet  sich  die  Grenze  des  unwillkürlichen  und 
dunkeln  Waltens  der  lebendigen  Mechanik  überschritten.  Die  Ver- 
nunft besteht  daher  recht  eigentlich  in  dieser  Combination  der  all- 
gemeinem, durch  Verstandesvorstellungen  erweiterten  Beweggründe 
mit  denjenigen  Antrieben,  die  uns  unwillkürlich  erregen.  Wie  sich 
nun  aber  die  doppelseitige  Ursächlichkeit  in  der  g^enseitigen  Ein- 
wirkung von  Verstandesantrieben  und  unmittelbaren  Triebbestimmun- 
gen zu  irgend  einem  Ergebniss  entscheide,  lehrt  die  besondere  Er- 
fahnmg.  Im  Allgemeinen  lässt  sich  nur  soviel  behaupten,  dass  die 
Natur  keine  triebförmige  Bestimmung  ohne  die  Macht  gelassen  hat, 
sich  der  Regel  nach  durchzusetzen,  und  dass  der  Vernimft  die  Rolle 
zugefallen  ist,  sich  trotz  der  Unterwerfung  unter  jene  Noth wendig- 
keit in  der  besondem  Anordnung  und  Anbequemung  der  Triebthätig- 


—     187    — 

keiten  zu  Gunsten  der  höheren  Verstandeseinsicht  geltend  zu  maclien. 
Die  Stärke  der  Erregungen  wird  auch  in  den  meisten  besondem 
Fällen  darüber  entscheiden,  ob  eine  verstandesmässige  Hemmung 
durch  eine  allgemeinere  Vorstellung  wirksam  eingreifen  werde  oder 
nicht.  Dem  quälenden  Hunger  wird  durch  eine  Menge  von  Gründen, 
die  einem  geringem  Grade  des  Triebes  gegenüber  eine  Ausschreitung 
verhindern  würden,  nun  nicht  mehr  die  Waage  gehalten,  und  sogar 
der  cPTÖsste  Abscheu  vor  einem  kannibalischen  Verhalten  wird  unter 

o  

der  Allmacht  jenes  grausamen  Stachels  überwunden.  Selbst  die  Vor- 
stellung des  nahen  und  gewissen  Todes  würde  hier  die  Macht  des 
Augenblicks  nicht  aufwiegen,  und  es  giebt  keinen  Grad  der  Furcht, 
der  im  Allgemeinen  solchen  Naturkräften  gewachsen  wäre.  Es  soll 
hiemit  die  moralische  Kraft  edler  Gesinnung  nicht  geleugnet  werden ; 
aber  der  hochgesinnte  Mensch  wird  in  solchen  Fällen  die  übermäch- 
tige Natur  meistens  nur  durch  das  rechtzeitig  angewandte  Mittel  der 
Selbstvemichtung  zur  Ruhe  bringen  können.  Von  krankhaften  Zu- 
ständen, in  denen  ein  selbstgewähltes  Verhungern  eintritt,  ist  natür- 
hch  nicht  die  Rede;  denn  in  diesem  Fall  stellt  sich  der  quälende 
Stachel  mit  der  ganzen  Macht  seiner  rohen  Naturwüchsigksit  gar 
nicht  ein.  Die  Vernichtung  geht  unter  dieser  Voraussetzung  vom 
Gemüth  aus  und  vollzieht  sich  gleichsam  stetig  durch  eine  allseitige 
Störung  der  wesenthchen  Lebensfunctionen.  Der  Ernährungsmecha- 
nismus selbst  wird  angegriffen,  und  unter  dem  furchtbaren  Druck, 
der  auf  dem  Gemüth  lastet,  versiegen  allmälig  auch  alle  Quellen  des 
physiologischen  Lebensspiels. 

An  die  Stelle  aller  falschen  Freiheifcstheorien  hat  man  die  er- 
fahrungsmässige  Beschaffenheit  des  Verhältnisses  zu  setzen,  in  wel- 
chem sich  rationelle  Einsicht  auf  der  einen  und  triebförmige  Bestim- 
mungen auf  der  andern  Seite  gleichsam  zu  einer  Mittelkraft  ver- 
einigen. Die  Grundthatsachen  dieser  Art  von  Dynamik  sind  aus  der 
Beobachtung  zu  entnehmen  und  für  die  Vorausbemessung  des  noch 
nicht  erfolgten  Geschehens  auch,  so  gut  es  gehen  will,  im  Allge- 
meinen nach  Eigenschaft  und  Grösse  zq  veranschlagen.  Hiedurch 
werden  die  albernen  Einbildungen  über  die  innere  Freiheit,  an  denen 
Jahrtausende  gezehrt  und  genagt  haben,  nicht  nur  gründlich  weg- 
geräumt, sondern  auch  durch  etwas  Positives  ersetzt,  was  sich  für 
die  praktische  Einrichtung  des  Lebens  brauchen  lässt.  Der  thörichte 
Scheinkampf  mit  Antrieben,  die  ihre  überlegene  Gewalt  dem  Ver- 
stände doch  immer  wieder  von  Neuem  beweisen,   wird  auf  Grund 


—     188    — 

der  bessern  Einsicht  mit  einer  rationellen  Ausgleichung  und  der 
unerlässlichen  Anbequemung  an  die  Forderungen  der  Natur  ver- 
tauscht. Die  frivole  Leichtfertigkeit  aber,  mit  welcher  die  falsche 
Anwendung  der  Nothwendigkeitslehre  sich  über  die  wirklichen  Mächte 
der  höheren  Einsicht  und  Gesinnung  täuscht,  wird  ebenfalls  unmög- 
lich gemacht;  denn  es  wird  erfahrungsmässig  erkannt,  wie  das  Wal- 
ten der  Bewusstseinskräfte  neben  den  im  Allgemeinen  heilsamen 
Schranken  auch  eine  bedeutende  positive  Macht  habe,  auf  die  man 
sich  berufen  und  der  man  mit  moralischen  Zumuthungen  beikommeu 
kann.  Uebrigens  entspringt  auch  in  anderer  Richtung  aus  der  Er- 
kenntniss  der  Macht  der  Affecte  die  grosse  Lehre,  dass  wir  häufig 
grade  dadurch  am  edelsten  handeln,  dass  wir  uns  Leidenschaften 
hingeben,  in  deren  Bethätigung  wir  oft  genug  das  Eigenleben  fiir 
das  Heil  des  allgemeineren  Daseins  opfern.  Das  Grosse,  welches  aus 
der  Leidenschaft  entspringt,  ist  eine  übergreifende  Handlung  jener 
Naturmacht,  der  sich  die  nüchterne  Vernunft  ihrem  Wesen  nach  so 
gern  widersetzt.  Sein  wir  also  zufrieden,  dass  jene  Ausgeburten 
einer  überschwenglichen  innem  Willkür  nichts  als  metaphysische 
Fabelwesen  von  obenein  unlogischer  Art  sind. 

5.  Die  Ansichten  über  Verstand  und  Vernunft  sind  häufig  durch 
den  Hinblick  auf  die  Sprache  verwirrt  worden.  Wie  sich  Logik  und 
Grammatik  bis  heute  noch  nicht  gehörig  auseinandergesetzt  haben, 
so  gilt  auch  das  blosse  Werkzeug  der  Gedankenmittheilung  noch 
häufig  genug  für  die  Vorbedingung  des  Denkens  selbst.  Allerdings 
ist  in  der  Sprache  viel  Verstand  verkörpert,  und  die  Vernunft,  als 
praktische  Anwendung  des  Verstandes,  würde  vereinsamt  und  ziem- 
lich unentwickelt  geblieben  sein,  wenn  sie  ihren  Verallgemeinerungen 
und  Anschauungen  nicht  sprachliche,  zur  Festigung  und  Ueber- 
licferung  des  Vorgestellten  und  Gewollten  geeignete  Zeichen  zu  geben 
vermocht  hätte.  Hieraus  folgt  aber  das  völlige  Gegen th eil  von  der 
Annahme,  dass  die  Sprache  eine  wesentliche  Vorbedingung  des  Den- 
kens an  sich  selbst  sei.  Es  ist  vielmehr  umgekehrt  das  Denken  eine 
unerlässliche  Vorbedingung  der  Spracherzeugung.  Der  Verstand  ge- 
staltet auf  Grundlage  der  Triebe  und  Gemüthsbewegungen  die  Laute, 
die  sich  mit  den  Empfindungen  und  Anschauungen  nach  Maassgabe 
der  verfügbaren  Sprech  Werkzeuge  und  der  jedesmaligen  Umstände 
der  Auffassung  verknüpfen  sollen.  Weiss  auch  Niemand,  wie  sich 
die  anscheinend  zufallige  und  willkürliche  Bestimmtheit  der  Ur- 
bezeichnungen  grade  so  und  nicht  anders  gebildet  habe,   so  dürfen 


—    189     — 

wir  doch  voraussetzen,  dass  die  heute  in  der  grössten  Mannichfaltig- 
keit  auseinandergehenden  Sprachen  keine  geringere  Gemeinschaft 
hinter  sich  haben,  als  der  Typus  Mensch  mit  seinen  Racen,  Natio- 
nalitäten und  Stammesunterschieden.  Da  überdies  die  Sprache  ihrem 
Wesen  nach  eine  Verallgemeinerung  ist  und  sich  durch  den  Verkehr 
erst  zu  derjenigen  Gleichmässigkeit  entwickelt,  mit  welcher  sich  eine 
grössere  Tragweite  für  viele,  sonst  in  Mundart  oder  gar  Einzel- 
gestaltung abweichende  Gruppen  verbindet,  so  hat  man  ein  Recht 
anzunehmen,  dass  die  ursprüngliche  Beschaffenheit  der  Sprach  Werk- 
zeuge zusammen  mit  den  verschiedenartigen  Anregungen  der  Um- 
gebung und  unter  dem  Eindruck  der  ebenfalls  noch  ungebunden 
schweifenden  Gemüthsantriebe,  in  strengster  Naturgesetzlichkeit  und 
ohne  Dazwiscbenkuaft  einer  launenhaften  Willkür  oder  überlegten 
Absichtlichkeit,  die  den  Zuständen  entsprechenden  Wortgestalten  er- 
zeugt habe.  Das  auf  üebereinkunft  Beruhende  muss  einer  spätem, 
bedeutend  höhern  Entwicklungsstufe  angehört  haben ;  denn  diese  Art 
der  Fortbildung  setzt  schon  die  sprachliche  Mittheilbarkeit  des  Ver- 
standes in  einem  hohen  Grade  voraus.  Doch  geht  uns  hier  die  Fern- 
haltung der  voreiligen  Neigungen,  das  unwillkürlich  Schaffende  vor 
der  bewussten  Einwirkung  zu  bevorzugen,  nicht  weiter  an.  Man 
wird  von  dieser  Thorheit  des  Jahrhunderts  ablassen,  sobald  man  für 
das  Verstandesmässige  wieder  selbst  mehr  Verständniss  zur  Ver- 
fügung hat. 

Wir  können  die  strengsten  Schlüsse  über  räumhche  Verhältnisse, 
über  Zahlenbeziehungen  und  sogar  über  fremde  Empfindungszustände 
machen,  ohne  dass  uns  dabei  irgend  ein  Wort  dieser  oder  jener 
Sprache  als  Leitfaden  behülflich  zu  sein  brauchte.  Die  Blitzesschnelle, 
mit  welcher  der  Gedanke  seine  Bahn  durchläuft,  ist  nicht  von  den 
Erschütterungen  abhängig,  in  denen  er  sich  nachträglich  eine  laute 
Kundgebung  verschafft.  Auch  der  stummen  Wortbilder  bedarf  man 
zum  Denken  nicht  wesenthch,  und  wenn  sie  auch  immerhin  als  will- 
konunene  Erleichterungsmittel  für  einen  schwerfälligen  Verstand 
dienen  mögen,  so  leisten  sie  doch  nicht  im  Entferntesten  das,  was 
man  dem  geordneten  Gebrauch  der  schriftlichen  Zahlenbilder  für  das 
Rechnen  zu  verdanken  hat.  Wer  nur  an  der  Hand  der  Sprache  zu 
denken  vermag,  hat  noch  nie  erfahren,  was  abgesondertes  und  eigent- 
liches Denken  zu  bedeuten  habe.  Gewohnheitsmässig  übersetzen  sich 
uns  die  Gedanken  wohl  auch  zur  Unzeit  in  sprachliche  Formen,  und 
dies  ist  ein  sicheres  Zeichen,  dass  wir  in  der  Anspannung  und  Un- 


—     190     - 

mittelbarkeit  des  Verständnisses  nachlassen.  Wir  greifen  alsdann  zu 
einer  Stütze,  die  nur  für  die  Mittheilung  geschaffen  ist  und  allen- 
falls noch  einen  Sinn  hat,  wenn  es  sich  um  ein  aus  der  Leidenschaft 
stammendes  Selbstgespräch  handelt.  Üebrigens  ist  die  Einmischung 
der  stillen  Wortvorstellungen  in  die  mit  sich  selbst  beschäftigte  Ver- 
standesthätigkeit  nur  eine  Belästigung,  die  man  freilich  nicht  immer 
gänzlich  verscheuchen  wird,  weil  die  Gewohnheiten  des  Verkehrs  die 
fraglichen  Verknüpfungen  gewisser  Vorstellungen  mit  ihrer  Wort- 
einkleidung uns  geläufig  und  gleichsam  zur  zweiten  Natur  gemacht 
haben. 

In  der  immittelbarsten  und  vertrautesten  Beziehung  zu  den 
Wortwirkungen  stehen  die  Gemüthsbewegungen.  Das  Ohr  ist  der 
für  Furcht  und  andere  Erschütterungen  des  Genlüths  empfänglichste 
Botschafter.  Wo  unsere  ünverletztheit;  auf  dem  Spiele  steht,  da  soll 
jenes  Organ  die  Gefahr  verkünden.  Allein  in  dieser  Rolle  muss  es 
oft  zuviel  thun,  und  in  der  That  wird  jeder  starke  und  ungewöhn- 
liche Angriff,  der  es  trifft,  zu  einer  aufstörenden  Rüttelung.  Die 
Vernunft  hat  nun  solchen  Eindrücken,  wie  namentlich  die  aber- 
gläubischen Völkerphantasien  zeigen,  nicht  nur  keine  Förderung, 
sondern  gradezu  eine  Beeinträchtigung  ihrer  Eigenart  zu  verdanken. 
Die  auf  diese  Weise  erregten  Affecte  sind  die  schwache  Seite  der 
menschlichen  Empfänglichkeit,  und  die  Sprache,  die  sich  an  das  Ohr 
wendet,  verkehrt  durch  einen  Canal,  der  vorzugsweise  der  Träger 
der  die  Vernunft  oft  genug  betäubenden  Eindrücke  ist.  Man  könnte 
mithin  auf  nichts  Thörichteres  verfallen,  als  in  der  Sprache  die  Bild- 
nerin der  Vernunft  suchen  zu  wollen.  Das  Gefühlsleben,  wie  es  sich 
in  der  Musik  ausdrückt,  schliesst  noch  keine  verstandesmässigen 
Unterscheidungen  ein.  Erst  die  Sprache  verkörpert  dieselben,  aber 
sie  ist  im  Interesse  ihres  Hauptzwecks,  nämhch  der  Mittheilung,  aus 
Stoffen  gewebt,  welche  die  reine  Gestalt  des  Gedankens  nur  zugleich 
mit  dem  Nebenwerk  der  Verhüllimg  sichtbar  machen.  Das  Zeichen 
ist  nicht  die  Sache  und  das  im  Worte  liegende  Zeichen  nicht  einmal 
immer  ein  hinreichend  zuverlässiger  Berichterstatter  von  dem  eigent- 
lichen Vorgang.  Können  wir  nun  aber  auch  die  Sprache  nicht  als 
Grundlage  von  Verstand  und  Vernunft  betrachten,  so  ist  in  ihr  doch 
jedenfalls  viel  an  Verstand  und  Unverstand  niedergelegt,  und  die  Ver- 
breitung von  Verständniss  und  Missverständniss  der  Dinge  und  Men- 
schen ist  ihr  ganz  und  gar  zuzuschreiben.  Ueberdies  erkennen  wir 
an  den  heutigen  Sprachen  die  allmälige  Aufliäufung  einer  Reihe  von 


—     191     — 

Gedanken  Verkörperungen,  aus  der  sich  auf  die  Geschichte  des  Be- 
wusstseins  selbst  Rückschlüsse  machen  lassen.  Die  Theile  und  Gre- 
stalten,  aus  denen  sich  unser  heutiges  Bewnsstsein  zusammensetzt, 
haben  in  dieser  Ausbildung  und  Sonderung  nicht  von  Anfang  an 
vorhanden  sein  können.  Es  ist  vielmehr  anzunehmen,  dass  nicht 
nur  die  Entwicklung  der  Sprache  einen  gleichlaufenden  Fortschritt 
des  Bewnsstseins  voraussetzt,  sondern  dass  ihr  auch  eine  geistige 
Stufenfolge  vorangegangen  ist,  die  noch  nicht  zu  einem  erheblichen 
Mittheilungsgebilde  sprachhcher  Art  geführt  hatte.  Um  so  wichtiger 
ist  nun  aber  die  heutige  Reichhaltigkeit  des  geistigen  Verkehrs,  und 
auf  dessen  Vermittlung,  nicht  aber  auf  einer  Ermöglichung  des  ver- 
einzelten Denkens,  beruht  die  ganze,  hienach  also  wesentlich  sitt- 
liche und  gesellschaftliche  Bedeutung  der  Sprache.  In  der  That 
wären  die  zerstreuten  Einzelbewusstsein  Wenig,  wenn  nicht  die 
Sprache  eine  Gemeinschaft  von  Verstand  und  Vernunft  unter  Vielen 
hervorgebracht  und  so  die  collectiven  Anregungen  des  Gemeinlebens 
vermittelt  hätte. 


Vierter  Abschnitt. 

Sitte,  Gereclitigkeit  und  edlere  lenschliclikeit. 


Erstes    Oapitel- 
Gnindgesetze  der  Moral. 

Jedes  der  verstandesmässigen  Ueberlegung  fähige  Wesen  wird  iu 
irgend  einem  Grade  seine  Handlungen  nach  Maassgabe  seiner  Er- 
fahrungen von  Gut  und  Schlimm  mit  bewusster  Absichtlichkeit  ein- 
richten können.  Seine  Vorstellungen  vom  Schlechten  und  Guten 
werden  sich  im  Sinne  seiner  Empfindungen,  Triebe  und  Leiden- 
schaften bestimmen.  Das  dauernd  Wohlthätige,  wodurch  seiner 
Natur  im  Ganzen  oder  in  den  Theilen  eine  Förderung  widerfährt, 
wird  ihm  als  das  Gute  gelten.  Jede  Schädigung  wird  von  ihm  als 
etwas  Schlimmes  und,  insofern  sie  auf  die  Absicht  eines  andern 
Wesens  zurückzuführen  ist,  als  etwas  Böses  verurtheilt  und  bekämpft 
werden.  Die  Einrichtung  seines  eignen,  als  vereinzelt  gedachten 
Verhaltens  wird  eine  Art  Kunst  erfordern,  mit  welcher  der  Verstand 
die  Handlungen  nach  Art  und  Maass  zu  regeln  und  ausserdem  die 
Wiederkehr  der  angenommenen  Verfahrungsarten  durch  Gewöhnung 
und  Uebung  zu  sichern  hat.  Hiemit  ist  die  Sitte  des  Einzelwesens 
als  ein  Inbegriff  von  grundsätzlichen  Verhaltungsarten  und  verständig 
begründeten  Gewohnheiten  bereits  hinreichend  bezeichnet,  um  die 
allgemeinste  Bedeutung  des  Wortes  Moral  als  eines  Ausdrucks  für 
die  zur  Sitte  gehörigen  Angelegenheiten  zu  rechtfertigeu.  Zugleich 
ersieht  man  aber  auch  aus  dieser  Rechenschaft,  dass  die  Elemente 
der  Moral  einfache  Entscheidungen  sein  und  sich  bei  allen  ausser- 
menschlichen  Wesen,  in  denen  sich  ein  thätiger  Verstand  mit  der 
bewussten  Ordnung  von  fcriebformigen  Lebensregungen  zu  befassen 
hat,  in  übereinstimmender  Weise,  wenn  auch  nicht  in  gleicher  Zu- 


—     193     — 

sammensetzuüg  oder  Reichhaltigkeit  wiederfinden  müssen.  Was  wir 
von  der  kosmischen  Einheit  der  chemischen  Verfassung  und  der  ent- 
sprechenden Gleichartigkeit  der  Bewusstseinseinrichtungen  auf  allen 
Weltkugeln  annehmen  mussten,  nämlich  die  Gemeinschaftlichkeit 
der  Materialien  und  Functionen  in  einem  Bau  von  universeller  Ana- 
logie und  Systematik,  —  das  können  wir  auch  bei  der  Moral  nicht 
ausschliessen.  Doch  wird  unsere  Theilnahme  für  solche  Folgenmgen 
gering  bleiben,  und  nur  der  einzige  Satz,  dass  die  Vorbedingungen 
eines  Sittensystems  schon  in  der  Combination  von  Trieb  und  üeber  - 
legung  gegeben  sind,  mag  uns  als  eine  werthvoUe  Verallgemeinerung 
unseres  Wissens  von  den  Grundlagen  der  Sittlichkeit  gelten.  Ausser- 
dem bleibt  es  aber  immer  eine  den  Gesichtskreis  wohlthätig  erwei- 
ternde Idee,  wenn  wir  uns  vorstellen,  dass  auf  andern  Weltkörperu 
das  Einzel-  und  das  Gemeinleben  von  einem  Schema  ausgehen  muss, 
welches  sich  zwar  über  die  Grundlagen  unserer  Natur  höher  erheben 
oder  hinter  denselben  zurückbleiben  mag,  aber  nicht  vermag,  die 
allgemeine  Grundverfassung  eines  verstandesmässig  handelnden  Wesens 
aufzuheben  oder  zu  umgehen. 

Die  Bildung  von  wiederkehrenden  Verhaltungsarten  ergiebt  an 
sich  selbst  zwar  eine  Form  der  Lebensweise,  aber  noch  keine  eig  ent- 
liche Sitte.  Die  Natur  zeigt  überall  Periodicitäten  des  Daseins,  und 
in  den  lebendigen  Wesen,  wo  ja  ebenfalls  die  Beharrung  im  Wechsel 
sich  auf  keine  andere  Weise  als  durch  Wiederholungen  derselben 
Thätigkeitsform  bekunden  kann,  ergeben  selbst  die  Gewohnheiten 
noch  nicht  eigentliche  Sitten.  Die  sich  wiederholende  Art  des 
Lebensspieles  und  der  rein  thierischen  Thätigkeiten  in  dem  unter 
dem  Menschen  stehenden  Gebiet  der  Animalität,  sowie  die  ent- 
sprechende niedere  Stufe  im  Menschen  selbst,  mag  immerhin  gele- 
gentlich als  Sitte  bezeichnet  werden;  aber  hiemit  ist  nichts  weiter 
zugestanden,  als  dass  der  sprachliche  Sinn  des  Wortes  weiter  reicht, 
als  derjenige  Begriff,  den  wir  mit  diesem  Wort  in  der  mensch  liehen 
Sittenlehre  verbinden.  Auch  muss  mit  dieser  Unterscheidimg  das 
rohe  Vorurtheil  schwinden,  als  wenn  schon  die  blosse  Thatsache  von 
Gewohnheiten  etwas  Sittliches  mit  sich  brächte.  Es  giebt  überhaupt 
gar  nichts  in  der  Welt,  was  sich  im  Laufe  des  Geschehens  nicht  in 
irgend  einer  äusserhchen  üebereinstimmung  von  wiederkehrenden 
Thatsachen  bethätigen  müsste.  Wir  können  also  aus  dem  blossen 
Dasein  gewohnheitsmässiger  Verhaltungsarten  weder  auf  Sitte  noch 
auf  Unsitte  schliessen;   denn   diese  Thätigkeitsbekundungen   können 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  13 


—     194     — 

ja  einem  Gebiet  angehören,  welches  zu  tief  gelegen  ist,  um  mit  dem 
sittlichen  Maassstab  gemessen  zu  werden.  Gehörten  aber  auch  etwa 
die  Gewohnheiten  dem  hohem  Bereich  der  Sitte  an,  so  wäre  immer 
noch  erst  zu  entscheiden,  ob  sie  etwas  sittUch  Gutes  oder  etwas 
sittlich  Schlimmes  haben  einwurzeln  lassen. 

2.  Das,  was  geschehen  sollte,  ist  das  Musterbild;  aber  die  Grund- 
gesetze der  Sittentheorie  verlieren  nicht  an  Wirklichkeit,  weil  der 
Lauf  der  Handlungen  die  Bethätigimg  von  Lastern  und  Verbrechen 
mit  Nothwendigkeit  einschliesst.  In  der  That  befassen  wir  uns  in 
der  Moral  mit  dem,  was  wirklich  geschehen  ist,  geschieht  und  ge- 
schehen wird.  Wir  thun  dies  aber  auf  eine  ähnliche  Weise,  wie 
wenn  wir  in  der  Wissenschaft  danach  fragen,  was  wirklich  gedacht, 
nämlich  erkannt  oder  misskannt  worden  ist.  Die  Gesetze  des  Er- 
kennens  sind  einheitlich;  aber  auch  hier  ist  das,  was  vorgestellt 
werden  soll,  vielfach  etwas  Anderes  als  das,  was  in  der  That  vor- 
gestellt wird.  Das  Reich  des  theoretischen  Lrrthums  ist  sogar  un- 
vergleichlich umfangreicher,  als  das  der  Wahrheit.  Trotzdem  lässt 
uns  die  Sicherheit  strengen  Wissens  und  die  Zulänglichkeit  der  ge- 
meineren Erkenntuiss  nicht  dazu  kommen,  in  besounenem  Zustande 
an  der  absoluten  Gültigkeit  der  Wissensprincipieu  und  ihrer  hohen 
Bedeutung  fi\r  die  Selbstbefriediguug  oder  die  äussern  Zwecke  des 
menschlichen  Wesens  zu  verzweifeln.  Schon  der  dauernde  Zweifel 
selbst  ist  ein  krankhafter  Schwächezustand  und  nichts  als  der  Aus- 
druck wüster  Verworrenheit,  die  bisweilen  in  dem  systematisirteii 
Bewusstsein  ihrer  Nichtigkeit  den  Schein  von  etwas  Haltung  aufzu- 
treiben sucht.  In  den  sittlichen  Angelegenheiten  klammert  sich  die 
Leugnung  allgemeiner  Principien  an  die  geographischen  und  ge- 
schichtlichen Mannichfaltigkeiten  der  Sitten  und  Grundsätze,  und 
giebt  man  ihr  die  unausweichliche  Nothwendigkeit  des  sittlich 
Schlimmen  und  Bösen  zu,  so  glaubt  sie  erst  recht  über  die  Aner- 
kennung der  ernsthaften  Geltung  und  thatsächlichen  Wirksamkeit 
übereinstimmender  moralischer  Antriebe  hinauszusein.  Diese  aus- 
höhlende Skepsis,  die  sich  nicht  etwa  gegen  einzelne  falsche  Lehreu, 
sondern  gegen  die  menschliche  Fähigkeit  zur  bewussten  Moraliti^^ 
selbst  kehrt,  mündet  schliessHch  in  ein  wirkliches  Nichts,  ja  eigen: 
lieh  in  etwas,  was  schlimmer  ist,  als  der  blosse  Nihihsmus.  Sie 
untergräbt  das  Vertrauen  in  die  Geltung  und  Wirksamkeit  mora- 
lischer Verbindlichkeiten;  ja  sie  eutwurzelt  den  Glauben  an  die 
blosse  Möglichkeit  eigentlicher  Zumuthungen  und  walirhafter  Pflichten. 


-     195    — 

Sie  schmeichelt  sich,  in  ihrem  wirren  Chaos  von  aufgelösten  sitt- 
lichen Vorstellungen  leichten  Kaufs  herrschen  und  dem  grundsatz- 
losen Belieben  alle  Thore  offnen  zu  können.  Sie  täuscht  sich  aber 
gewaltig;  denn  die  blosse  Hinweisung  auf  die  unvermeidlichen  Schick- 
sale des  Verstandes  in  Irrthum  und  Wahrheit  genügt,  um  schon 
durch  diese  einzige  Analogie  erkennbar  zu  machen,  wie  die  natur- 
gesetzliehe Fehlbarkeit  die  Vollbringung  des  Zutreffenden  nicht  aus- 
zuschliessen  braucht.  Der  Verstand  muss  unter  gewissen  Umständen 
irren,  wie  z.  B.  in  der  ursprünglich  naturnothwendigen  Auffassung 
des  Scheins  der  Sonnenbewegung  als  einer  Wirklichkeit.  Ebenso 
muss  der  Trieb  des  Menschen  unter  gegebenen  Voraussetzungen  fehl- 
greifen, wie  z.  B.  der  Hunger,  wenn  er,  wie  namentlich  auch  bei 
den  Thieren,  dadurch  zur  Ueberfüllung  führt,  dass  er  physiologisch 
nicht  rasch  genug  und  nicht  sofort  mit  dem  Augenblick  verschwindet, 
in  welchem  die  eingenonnnene  Nahrungsmenge  genügt,  um  in  einiger 
Zeit  jede  stärkere  Spannung  im  Ernährungszustande  auszugleichen. 
Die  Ausschweifung  ist  hier  insoweit  ein  naturgesetzliches  Verhäng- 
niss,  als  thatsächlich  die  innere  Oekonomie  der  Einleitung  des  gleich- 
massigen  Ernährungshergangs  eine  zu  lange  Zeit  braucht,  die  Reiz- 
empfindung des  Hungers  verschwinden  zu  lassen.  Auch  die  Gemüths- 
antriebe  sind  an  sich  selbst  fehlbar,  so  dass  man  zur  Ableitung 
ihrer  nothwendigen  Fehlgriffe  sich  erst  in  zweiter  Linie  um  die 
eingemischten  Verstandesirrthümer  zu  kümmern  hat.  So  ist,  um 
nur  einen  der  wichtigsten  Affecte  hervorzuheben,  das  Rachegefühl 
zwar  ein  Anzeiger  .der  Verletzungen,  aber  doch  nur  ein  rohes  Mess- 
werkzeug ihrer  Grösse.  Reichen  nun  auch  zunächst  derartige  Ur- 
theile  und  Schätzungen  der  Verhältnisse  ebenso  gut  aus,  wie  die 
Beiutheilung  der  Wärme  durch  das  Gefühl,  so  sind  sie  im  Hinblick 
auf  entwickeltere  Mittel  auch  ebenso  schlecht,  und  man  wird  die 
Fortsetzung  der  Naturarbeit  an  ihnen  als  die  eigenthche  Aufgabe 
der  Cultur  anzusehen  haben.  Die  Natur  ist  nicht  blos  in  Miss- 
geburten fehlbar,  sondern  auch  in  ihrer  Anlage  des  sittlichen  Me- 
chanismus. Diese  Fehlbarkeit  beruht,  wie  diejenige  des  Verstandes, 
auf  Hindernissen,  deren  Ueberwiudung  schematische  Einrichtungen 
mit  getheilten  und  einseitigen  Functionen  nöthig  machte.  Ein  ebenso 
genaues  Sehen  in  der  Nähe  wie  in  der  Ferne  ist  etwas  in  sich  Wider- 
sprechendes ;  fordert  man  aber,  dass  der  unmittelbare  Eindruck  eines 
Triebreizes  oder  einer  spornenden  Gemüthsbewegung  dasselbe  leisten 
soll,  was  die  entferntere,  die  weniger  betheihgte  oder  die  verstandes- 

13* 


—     196     — 

massig  rechnende  Beurtheilung  mit  sich  bringt,  so  zielt  man  anf 
eine  ähnliche,  einen  realen  Widerspruch  einschliessende  Unvereinbar- 
keit. Sein  wir  also  zufrieden,  dass  die  moralische  Welt  so  gut  wie 
diejenige  des  allgemeineren  Wissens  trotz  Irrthümern  und  Fehlgriffen 
ihre  bleibenden  Principien  und  einfachen  Elemente  hat.  Das  Ver- 
brechen ist  so  wenig  eine  Instanz  gegen  die  Wirklichkeit  des  mo- 
ralisch Guten,  als  der  Irrthum  ein  Beweis  gegen  das  Dasein  einer 
nicht  blos  wahrheitsfähigen  sondern  auch  thatsächlich  zu  Wahrheit 
und  Wissenschaft  fuhrenden  Verstandeserkenntniss  sein  kann. 

Nach  dem  Vorangehenden  kann  es  keine  besondere  Frage  mehr 
sein,  ob  die  moralischen  Principien  über  der  Geschichte  und  auch 
über  den  heutigen  Unterschieden  der  Völkerbeschaffenheiten  stehen. 
Diese  Principien  sind  lauter  natürliche  Triebkräfte,  die  von  vorn- 
herein wirken,  und  die  besondern  Wahrheiten,  aus  denen  sich  im 
Laufe  der  Entwicklung  das  vollere  moralische  Bewusstsein  und  so 
zu  sagen  das  Gewissen  zusammensetzt,  können,  soweit  sie  bis  in 
ihre  letzten  Gründe  erkannt  sind,  eine  ähnliche  Geltung  und  Trag-  ^ 
weite  beanspruchen,  wie  die  Einsichten  und  Anwendungen  der  Ma- 
thematik. Echte  Wahrheiten  sind  überhaupt  nicht  wandelbar  und 
werden  stets  so  gedacht,  dass  sie  zu  jeder  Zeit  als  auf  die  zugehöri- 
gen Voraussetzungen  anwendbar  vorzustellen  sind.  Auch  diejenigen 
Wahrheiten,  die  nicht  eine  allgemeine  Beziehung,  sondern  das  Ge- 
schehen einer  vereinzelten  und  völlig  individuellen  Thatsache  aus- 
drücken, bleiben  es  in  alle  Ewigkeit,  so  dass  es  überhaupt  eine  Thor- 
heit  ist,  die  Richtigkeit  der  Erkenntniss  als  von  der  Zeit  und  den 
realen  Veränderungen  angreifbar  vorzustellen.  Auf  diese  Weise  ver- 
hält es  sich  nun  auch  mit  den  moralischen  Grundgesetzen.  Die  Ent- 
wicklung eines  deutlichen  Bewusstseins  und  die  Hineinarbeitung  in 
die  Zustände  bedarf  allerdings  langer  Zeiträume ;  aber  diese  Art  Ab- 
hängigkeit von  Zeit,  Ort  und  Umständen  betrifft  nicht  die  Wahrheit 
und  absolute  Gültigkeit  selbst,  sondern  nur  die  Kenntniss  und  Be- 
thätigung  davon.  Die  positive  Moral  ist  überdies  ein  Gebilde,  in 
welchem  sich  die  sittlichen  Grundtriebe  mit  den  zum  Theil  wandel- 
baren Voraussetzungen  besonderer  Zustände  vereinigt  und  so  eine 
Zusammensetzung  ergeben  haben,  die  nicht  nur  aufgelöst  werden 
kann,  sondern  es  mit  den  thatsächHchen  Veränderungen  auch  muss. 
Hiebei  ist  fiir  die  Nothwendigkeit  dieser  Zersetzungen  noch  nicht 
einmal  die  positive  Unsitte  oder  die  Wirkung  blos  angeblicher  Wahr- 
heiten in  Anschlag  gebracht. 


—     197     — 

3.  Man  kann  die  Moral  aus  dem  Willen  ableiten,  wenn  dieser 
nur  als  ein  Wollen  verstanden  wird,  welches  sich  aus  der  Verbindung 
von  Trieben,  Leidenschaften  und  Yerstandeseinsichten  mit  Noth- 
wendigkeit  erzeugt.  Es  ergiebt  sich  alsdann  zunächst  die  Mischung 
von  Sitte  und  Unsitte,  und  das  bessere  Verhalten  ist  eine  kritische 
Ausscheidung,  zu  deren  Vornahme  sich  das  mannichfaltige  Streben 
durch  Erfahrung  oder  durch  eine  die  Wirkungen  vorwegnehmende 
Beurtheilung  erst  in  sich  selbst,  in  den  Dingen  und  in  den  Verhält- 
nissen zurechtgefunden  haben  muss.  Sobald  man  aber  den  Willen 
in  verworrener  Weise  oder  wohl  gar  nicht  individuell,  sondern  in 
nebelhafter  Allgemeinheit  als  einen  dunkeln  unfassbaren  Grund  ein- 
führt, können  die  Folgerungen  ebenfalls  nicht  klar  sein,  und  eine 
derartig  trübe  Darlegung  der  Moral  ist  schlimmer  als  keine.  Schon 
Kant  hat  Rousseaus  ziemlich  klar  gefasste  Vorstellung  von  einem 
allgemeinen  Willen,  der  bei  dem  grossen  Genfer  ein  Ergebniss  der 
politischen  Vergesellschaftung  der  Einzelwillen  sein  sollte,  halbmystisch 
umnebelt,  und  die  Epigonen,  wie  namentlich  ein  Hegel,  sind  in 
dieser  Richtung  mit  ihrem  sittlichen  Willen  erst  recht  herunter- 
gekommen. Wir  haben  daher  Ursache,  den  Willen  als  das  Product 
von  zwei  Factoren  scharf  und  unzweideutig  erkennbar  zu  machen, 
ohne  irgend  etwas  Unbekanntes  einzumischen,  was  nicht  innerhch 
oder  äusserlich  festzustellen  wäre.  Antriebe  und  Einsichten  aller  Art 
ergeben  ein  bewusstes  und  absichtliches  Streben,  und  hierin  allein 
sehen  wir  den  Willen. 

Die  Verschiedenheit  der  Individualcharaktere,  die  auf  einer  un- 
gleichartigen Mischung  oder  Grössengestaltung  der  Neigungen  und 
Vorstellungsanlagen  beruht,  ist  für  die  Artung  des  Wollens  und  für 
den  Gegensatz  von  Gut  und  Schlimm  von  der  höchsten  Bedeutung. 
Die  Menge  der  Thiercharaktere  kann  uns  den  Sinn  der  mannich- 
faltigen  Gemischtheit  menschlicher  Typen  erläutern.  Das  boshafte 
im  Gegensatz  des  guten  Gemüths  ist  ein  Naturverhältniss  und  wird 
auch  von  der  Cultur  hervorgebracht,  ist  aber  stets  so  eingewurzelt, 
dass  nur  lange  Geschlechterfolgen  und  Umwandlungen,  die  meist 
noch  mit  eigentlichen  Mischungen  verbunden  sein  werden,  seinen 
Verderb  oder  seine  Verbesserung  zu  bewerkstelligen  vermögen.  Nun 
beruht  aber  das  befriedigende  Wohlsein  in  erster  Linie  auf  jener 
natürlichen  oder  zur  zweiten  Natur  gewordenen  Güte  des  Gemüths. 
Das  Vorherrschen  der  positiven  Gefühle,  deren  schöpferische,  mehr 
als  auf  blossen  Frieden  gerichtete  Eigenart  im  Verkehr  die  zuver- 


—     198    — 

lässigsten  Verbindungen  schafft,  ist  aucli  für  den  einsam  gedachten 
Einzelnen  diejenige  Charaktergestaltung,  bei  welcher  er  sich  am 
meisten  mit  sich  selbst  in  Uebereinstimmung  finden  wird.  Dagegen 
kehren  'sich  die  boshaften  Neigungen  auch  da,  wo  sie  ganz  ohne 
Wirkung  auf  Andere  gedacht  werden,  in  der  Auffassung  aller  Dinge 
gegen  ihren  eignen  Träger.  Der  letztere  wird  dazu  genöthigt,  sein 
eignes  widerwärtiges  Selbst  und  die  in  ihm  angelegte  feindselige 
Spannung  zu  empfinden  und  so  die  Rückwirkungen  der  Bosheit,, 
auch  ohne  dass  sie  sich  verwirklicht,  als  Missgefähl  eines  innem 
Widerstreits  gleichsam  zu  gemessen.  Ein  raubthierartiger  Bestand - 
theil,  wie  er  in  menschlichen  Individuen  als  Charakterelement  häufig 
genug  vorhanden  ist,  kann  im  günstigsten  Falle  nur  dahin  führen, 
dass  den  Trägem  dieser  Eigenschaft  zum  Theil  wie  derjenigen  Bestie 
zu  Muthe  ist,  welcher  die  betreffende  Art  von  Raubgier  von  Natur 
oder  durch  Entwicklung  der  Thiersitte  zukommt.  Im  weniger  gün- 
stigen Fall,  welcher  innerhalb  der  Civilisation  der  vorherrschende 
sein  muss,  wird  jedoch  die  mit  der  schlechten  Gier  verbundene  Rück- 
wirkung als  Entfremdung  gegen  die  bessere  Menschlichkeit  unwill- 
kürlich gefühlt,  ohne  dass  ein  deutliches  Bewusstsein  oder  gar  eine 
bessere  Absicht  vorhanden  zu  sein  brauchte.  Der  Gemüthszustand 
jedes  Wesens  hängt  von  der  Artung,  Grösse  und  Abstufung  der  in 
ihm  angelegten  und  bethätigten  Antriebe  ab.  Wo  nun  die  Bestie 
als  Bestandtheil  im  Menschen  gleichsam  noch  wohnt,  da  wird  im 
wilden  Zustande  die  Selbstempfindung  einfach  bestienhaft,  Angesichts 
einer  hohem  Entwicklung  und  Umgebung  aber  oft  schlimmer  als 
bestialisch  sein.  Wird  aber  die  Kluft  auch  auf  den  hohem  Stufen 
des  Daseins  ausnahmsweise  kaum  wahrgenommen,  so  ist  dies  ein 
Zeichen  rückständiger  Rohheit,  wie  sie  manchen,  besonders  auf  Raub 
angewiesenen  Gesellschaftselementen  allerdings  mit  einer  gewissen 
Naivetät  anhaften  kann. 

Indem  man  die  von  Natur  angelegte  Feindschaft  oder  die  gegen- 
theilige  Positivität  als  Wurzel  des  moralischen  Verhaltens  bloslegt, 
dringt  man  in  das  Wesen  des  Guten  und  Bösen  ungleich  tiefer  ein, 
als  es  diejenigen  thun,  die  sich  mit  der  Aufmerksamkeit  auf  die 
jedesmaligen  Handlungen  und  Absichten  oder  wohl  gar  mit  der 
blossen  Veranschlagung  des  Verstandesan theil s  begnügen.  Racen  und 
Stämme  haben  ihre  besondere  Gefuhlsweise,  und  wenn  dieser  letztere 
Begriff  nicht  völlig  dunkel  bleiben  soll,  so  muss  die  stärkere  Span- 
nung  mancher  Triebe,    die   höhere  Gluth  einzelner  Leidenschaften 


—     199     — 

oder  das  Dasein  und  Vorherrschen  bestimmter  Neigungen,  die  un- 
beschadet des  menschKchen  Gattungscharakters  auch  fehlen  könnten, 
zur  näheren  Rechenschaft  nachgewiesen  werden.  Sobald  man  Letzteres 
vermag,  hat  man  auch  das  wichtigste  Element  zum  Verständniss  der 
besondern  Sittengestaltung  in  der  Hand.  Schliesslich  ist  es  bei  Ein- 
zelnen und  Völkern  die  besondere  Artung  und  Stärke  des  aus  jenen 
Elementen  producirten  Willens,  wodurch  ihre  Verfahrungsarten  und 
Grundsätze  auch  in  den  besondern  Eigenthümlichkeiten  verstandes- 
mässig  ableitbar  werden. 

4.  Echte  Pflichten  sind  ohne  die  Möglichkeit  ernsthafter  Zu- 
muthungen  und  daher  ohne  ein  eigentliches  Sollen  nicht  denkbar. 
Das  letztere  ist  ein  Verhältniss  von  Wille  zu  Wille.  Die  Natur 
kann  uns  mit  ihren  Kräften  mannichfaltig  erregen  und  bestimmen, 
aber  nicht  verbindlich  machen.  Sie  steht  uns  nicht  als  ein  gleich- 
artiger Wille,  ja  überhaupt  nicht  als  Wille  gegenüber.  Wir  ver- 
kehren mit  ihr  nicht  auf  Du  und  Du,  ausser  wenn  wir  sie  in  aber- 
gläubischer Weise  zu  einer  Person  gemacht  oder  hinter  ihr  einen 
bewussten  Willen  erdichtet  haben.  Ein  Mensch,  insofern  er  als 
einzig  oder,  was  dasselbe  leistet,  als  ausser  jedem  Zusammenhang 
mit  Andern  gedacht  wird,  kann  keine  Pflichten  haben.  Für  ihn 
giebt  es  kein  Sollen,  sondern  nur  ein  Wollen,  welches  durch  ver- 
schiedene, aber  niemals  ilim  gleichartige  Kräfte  bestimmt  wird.  Das 
Wollen  der  höhereu  Thiere  ergiebt  allerdings  ein  wenn  auch  un- 
gleiches so  doch  dem  bewussten  Willenseinfluss  angehöriges  Ver- 
hältniss; aber  auch  hievon  haben  wir  in  unserer  Voraussetzung  des 
sich  der  Natur  gegenüberbefindenden  und  übrigens  völlig  isolirten 
Menschen  abgesehen.  Auch  die  Tendenzen,  die  man  in  der  Natur- 
einrichtung und  zwar  auch  in  derjenigen  des  eignen  Leibes  auffinden 
mag,  können  in  uns  nur  ein  rationelles  Wollen,  aber  nie  ein  Sollen 
begründen. 

Richtet  sich  auf  einen  menschlichen  Willen  ein  zweiter  mit  der 
für  den  ersteren  erkennbaren  Absicht,  ihn  zu  bestimmen,  so  kann 
dieses  Verhältniss  der  Ausdruck  einer  blossen  Gewaltzumuthung  sein. 
Alsdann  ist  ein  thatsächliches  Soll,  aber  nicht  im  Entferntesten  ein 
moralisch  verbindliches,  d.  h.  durchaus  keine  Pflicht  vorhanden.  Um 
ein  moralisches  Sollen  zu  erzeugen,  ist  eine  innerlich  als  verbindlich 
anzuerkennende  Bestimmung  des  eignen  Willens  durch  einen  fremden 
erforderlich.  Da  nun  das  höhere  Gebiet  der  Moral  nicht  auf  den 
Gesetzen  des  isolirten  WoUens,  sondern  auf  den  Principien  des  durch 


—     200     - 

die  Doppelheit  und  Gegenseitigkeit  des  WoUens  erzeugten  Sollens 
beruht,  so  ist  die  Auseinandersetzung  mit  den  Entstehungsgründen 
aller  Verbindlichkeit  eine  für  die  Sittentheorie  entscheidende  An- 
gelegenheit. Zwei  menschliche  Willen  sind  als  solche  einander  völlig 
gleich,  und  der  eine  kann  dem  andern  zunächst  positiv  gar  nichts 
zumuthen.  Aber  grade  hierin  liegt  schon  eine  negative  Pflicht  au- 
gedeutet. Abgesehen  von  irgend  einem  besondem  Grunde,  der  nicht 
aus  den  beiden  Willen,  sondern  aus  einem  dritten  neutralen  Gebiet 
stammen  möchte,  ist  die  Enthaltung  von  einer  Zumuthung,  ge- 
schweige von  einem  Zwang  gegen  den  andern  Willen  eben  die  ent- 
scheidende Verbindlichkeit.  Es  tritt  uns  Jemand  bereits  moralisch 
zu  nahe,  wenn  er  im  Allgemeinen  verlangt,  dass  sein  Wollen  als 
solches  mehr  gelte  als  das  unsrige.  So  etwas  kann  er  niemals  an- 
ders als  durch  innere  oder  äussere  Gewalt  durchsetzen.  Die  wirklich 
z  ulässigen  Abhängigkeiten  erklären  sich  aber  aus  Gründen,  die  nicht 
in  der  Bethätigimg  der  beiden  Willen  als  solcher,  sondern  in  einem 
dritten  Gebiet,  also  z.  B.  Kindern  gegenüber  in  der  Unzulänglichkeit 
ihrer  Selbstbestimmung  zu  suchen  sind.  Sich  gegenseitig  der  Ver- 
letzungen zu  enthalten  d.  h.  das  Wollen  des  Andern  dem  seinigen 
als  an  sich  gleichwerthig  achten,  ist  hier  das  erste  Grundgesetz  der 
intersubjectiven  Moral.  Hiemit  ist  zugleich  der  Ausgangspunkt  aller 
verstandesmässigen  Gerechtigkeit  bezeichnet.  An  sich  ist  der  Wille 
des  Einzelmenschen  nicht  verbunden,  sich  einem  andern  Willen  zu 
unterwerfen.  Hieraus  folgt  aber  sofort,  dass  er  auch  selbst  kein 
Recht  haben  kann,  einen  andern  Willen  unterwerfen  zu  wollen.  Diese 
gegenseitige  Enthaltung  befasst  Alles,  was  sich,  abgesehen  von  der 
Einfährung  der  nicht  im  blossen  Willen  liegenden  Rücksichten,  über 
das  moralische  Sollen  ausmachen  lässt.  Das  Einzelwollen  bleibt  so- 
lange in  seiner  Grenze,  bis  es  sich  einem  andern  Wollen  aufnöthigt. 
Alsdann  beginnt  mit  diesem,  den  Typus  aller  Verletzungen  ein- 
schliessenden  Uebergrifl"  ein  rückwirkendes  Sollen,  welches  sich  auf 
die  Beseitigung  und  Ausgleichung  jener  Fundamentalverletzung  richtet. 
Indem  wir  unsem  Ausgangspunkt  von  zwei  gleich werthigen  Willen 
nahmen,  sind  wir  zu  der  wichtigen  Einsicht  gelangt,  dass  positiv 
für  den  Menschen  nur  ein  Wollen  und  erst  negativ  im  Hinblick  auf 
wirkliche  oder  mögliche  Verletzungen  des  fremden  Willens  ein  Sollen 
existiren  kann.  In  der  That  wäre  es  auch  wunderbar,  wenn  eine 
bis  an  die  Wurzeln  reichende  Untersuchung  zu  einem  andern  Er- 
gebniss  geführt  hätte.   Zwischen  Mensch  und  Mensch  muss  sich  das 


—     201     — 

Verhältniss  des  Soileus  in  jeder  Richtung  gleichstellen,  gleichviel  ob 
man  von  dem  Ersten  zum  Zweiten  oder  von  dem  Zweiten  zum 
Ersten  übergeht.  Es  ist  also  erst  die  einseitige  Verletzung,  welche 
einen  Unterschied  hervorbringen  würde  oder  thatsächUch  hervorbringt. 
Jede  Verbindhchkeit  ist  eine  Gebundenheit  und,  solange  der  Wille 
nicht  über  sich  selbst  zur  Unterdrückung  eines  andern  Willens  über- 
greift, bleibt  er  ungebunden,  und  es  giebt  für  ihn  kein  Sollen.  Auch 
ist  diese  Wahrheit,  wie  man  sieht,  allein  mit  der  Würde  und  Frei- 
heit des  Individuallebens  verträglich. 

Wir  haben  mit  dem  eben  Entwickelten  vorzugsweise  die  Grund- 
form der  moralischen  Gerechtigkeit  gekennzeichnet.  Nehmen  wir 
aber  an  Stelle  der  Verletzung  eine  besondere  Förderung  an,  womit 
anstatt  eines  Sinkens  unter  das  Verhältniss  der  Gleichgültigkeit  der 
beiden  Willen  eine  Erhebung  eintritt,  auf  welche  die  natürliche 
Rückwirkung  ein  Dankbarkeitsgefühl  ist,  so  muss  die  Hinwegsetzung 
über  dieses  Gefühl  ähnlich  betrachtet  werden,  als  wenn  eine  positive 
Nichtachtung  des  fremden  Willens  vorhanden  wäre.  Ich  sage  ähnlich 
und  nicht  gleich;  denn  die  natürliche  Pflicht  der  Dankbarkeit  ist 
von  anderer  Art,  als  das  auf  die  Gerechtigkeit  gerichtete  Sollen. 
Allerdings  findet  auch  hier  eine  Verletzung  statt,  aber  nicht  eine 
solche,  welche  den  fremden  Willen  in  dem  ihm  ursprünglich  eignen 
und  seiner  Natur  nach  stets  zukommenden  Bereich  unterdrückend 
antastet. 

5.  Wo  die  Bestie  und  der  Mensch  in  einer  Person  gemischt 
sind,  da  kann  man  im  Namen  einer  zweiten  völlig  menschlichen 
Person  fragen,  ob  deren  Handlungsweise  dieselbe  sein  dürfe,  als 
wenn  sich  so  zu  sagen  nur  menschliche  Menschen  gegenüberstehen. 
Auf  die  Schlechten  unter  den  Meu sehen  wies  Macchiavelli  hin,  um 
die  schhmmeu  Mittel  zu  rechtfertigen,  mit  denen  man  ihrer  natür- 
lichen Feindschaft  zu  begegnen  habe.  Wer  unter  einer  Rotte  von 
Bösewichtern,  meinte  er,  nach  sogenannten  guten  Grundsätzen  han- 
deln wolle,  müsse  nothwendig  zu  Grunde  gehen.  In  der  That  kann 
das  Verhalten  nicht  dasselbe  sein;  denn  zwischen  dem  Schlechten 
und  dem  Guten  giebt  es  nothwendig  Feindschaft  und  es  besteht 
zwischen  ihnen  fortwährend  ein  unvermeidlicher  Widerstreit,  der 
unter  Umständen  die  rohe  Form  der  Gewaltübung  und  unter  andern 
Umständen  diejenige  der  Bethätigung  von  List  und  mittelbarer  Ver- 
folgung annehmen  wird.  Der  eigentliche  Krieg  ist  nur  eine  besondere, 
sich   in  grossem  Dimensionen  bewegende  Gattung  der  Feindschafts- 


—     202     — 

bethätigung.  Im  Privatleben  stehen  die  Einzelnen  einander  ähnlich 
gegenüber  wie  die  Völker.  Die  Schranke,  die  das  Zwangsrecht  zieht, 
kann  eben  nur  als  ein  Hinderniss  gelten,  durch  welches  im  Privat- 
kriege von  Person  zu  Person  die  Anwendung  einiger  Mittel  erschwert 
wird,  und  grade  für  die  eigentliche  Moral  ist  das  Yerhältniss  von 
Person  zu  Person  ein  ähnlich  ungebundenes,  wie  dasjenige  von  Volk 
zu  Volk.  Auch  müssen  die  Principien  für  beide  Gebiete  gemein- 
schaftlich sein.  Es  ist  daher  unsere  Voraussetzung  von  zwei  moralisch 
ungleichen  Personen,  deren  eine  an  dem  eigentlichen  Bestiencharakter 
in  irgend  einem  Sinne  theilhat,  die  typische  Grundgestalt  für  alle 
Verhältnisse,  welche  diesem  Unterschiede  gemäss  in  und  zwischen 
den  Menschengruppen,  von  der  kleinsten  bis  zur  grössten,  vorkommen 
können.  Denken  wir  uns  namentlich  Raubgier  und  Hinterhältigkeit 
in  thierisch  mustergültiger  Weise  oder  gar  in  der  Steigerung,  welche 
die  Culturkünste  mit  sich  bringen,  in  einzelnen  Menschen  oder 
Menschengruppen  verkörpert,  so  ist  solchen  Bestand theilen  gegen- 
über das  morahsche  Verhalten  nach  Anleitung  jenes  einfachen  Schema, 
in  welchem  nur  zwei  Personen  in  Frage  sind,  principiell  am  leich- 
testen festzustellen. 

Zunächst  ist  das  fortwährende  Misstrauen  und  eine  entsprechende 
Handlungsweise  dem  Schlechten  und  mithin  Feindlichen  gegenüber 
eine  völlig  natürliche  und  auch  eine  berechtigte  Wirkung  der  ganzen 
Lage;  denn  in  der  Raubgier  liegt  ja  eine  ebenfalls  beständige  Ge- 
fahr. Den  Feind  wirklich  als  Feind  nehmen,  ist  völlig  in  der  Ord- 
nung. Auch  kommt  es  in  der  Hauptsache  gar  nicht  darauf  an,  ob 
bereits  verletzende  Handlungen  vorliegen.  In  der  Moral  ist  die  blosse 
Gesinnung  schon  hinreichend,  zumal  es  sich  hier  ja  nur  um  die 
Rechtfertigung  einer  zweiten  rückwirkenden  Gesinnung  handelt,  näm- 
lich des  Misstrauens.  Zwei  Menschen,  die  nicht  völlig  isolirt  und 
hiednrch  einander  gleichgültig  bleiben,  können  sich  nur  in  einem 
feindlichen  oder  freundlichen  Verhalten  gegen  einander  bethätigen. 
Die  dritte  Möglichkeit  eines  friedlich  gleichgültigen  Zustandes  setzt 
eine  isolirende  Enthaltung  von  Schädigungen  und  Förderung' 'u 
voraus;  aber  man  mag  sie  immerhin  zu  den  friedlich  freundlichem 
Beziehungen  gesellen,  neben  denen  es  bekanntlich  auch  friedlicli 
feindliche  Verhältnisse  und  zwar  noch  mehr  unter  den  Einzelnen 
als  unter  -den  Völkern  giebt.  Die  Feindschaft  und  deren  Bethäti- 
gung bringen  nun  keineswegs  mit  sich,  dass  die  Raubgier  des  Einern 
durch  grundsätzlich  räuberisches  Verhalten  des  Andern  beantwortet 


—     203     — 

werde.  Auch  werden  Hinterlist  und  Ränke  nicht  die  entsprechenden 
Eigenschaften  auf  der  andern  Seite  zu  erzeugen  brauchen.  Macchia- 
velli  dachte  nicht  scharf  genug,  als  er  seine  Schlüsse  zog.  Inmitten 
einer  verworfenen  Räuber-  und  Schandbande  wird  man  als  Gefan- 
gener zu  allen  Mitteln  greifen,  welche  Kraft  und  Klugheit  an  die 
Hand  geben,  um  sich  zu  befreien  oder  das  eigne  Leben  möglichst 
theuer  zu  verkaufen.  Ja  man  wird  den  Feind,  mit  dem  alle  mensch- 
lichen Bande  zerrissen  sind,  auf  jede  Weise  vertilgen;  denn  hier 
handelt  es  sich  um  die  Waage  zwischen  dem  eignen  Sein  und  dem 
Nichtsein  des  Feindes.  Jedoch  selbst  dieser  äusserste  Fall  wird  in 
dem  fraglichen  Beispiel  selbst  nicht  immer  vorauszusetzen  sein.  Die 
absolute  Feindschaft  zwischen  Mensch  und  Mensch,  mit  welcher  jeder 
Rest  von  Rücksicht  verschwinden  müsste,  ist  eine  schematische  Zu- 
spitzung, für  welche  sich  in  der  Wirklichkeit  allerdings  Beläge  genug 
finden,  die  aber  trotzdem  den  gewöhnlichen  Mischungen  der  Verhält- 
nisse gegenüber  den  Charakter  der  Ausnahme  beibehält.  Auch  haben 
wir  in  unserm  Schema  nicht  eine  volle  Bestie,  sondern  nur  ein  Stück 
davon  vorausgesetzt  und  können  daher  diejenigen  Eigenschaften,  die 
noch  einen  Rest  von  Rücksicht  des  Menschen  auf  den  Menschen 
ausprägen,  in  vielerlei  Abstufungen  annehmen.  Im  Allgemeinen 
wird  daher  die  Rückwirkung  gegen  das  Schlechte  nur  eine  gestei- 
gerte Strenge  und  eine  x\nwendung  der  Klugheit  im  Sinne  der 
Kriegslist  sein.  Es  werden  für  eine  solche  Lage  scharfe,  ja  terro- 
ristische und,  je  nachdem  die  Bindemittel  menschlicher  Gemeinschaft 
in  grösserer  oder  geringerer  Anzahl  zerrissen  sind,  auch  gleichsam 
strategische  und  andere  Täuschuugsmittel  zulässig  werden.  Dagegen 
wird  die  Niedertracht  auf  der  einen  Seite  keine  Niedertracht  auf 
der  Gegenseite  mit  sich  bringen  oder  rechtfertigen.  Die  Einwendung, 
dass  ausgesuchte  Grausamkeit  ein  wirksames  Abschreckungsmittel 
sei,  trifft  nicht  zu;  denn  man  kann  den  umfang  einer  eisernen 
Strenge  soweit  ausdehnen,  dass  nicht  blos  dieselbe,  sondern  noch 
eine  stärkere  Wirkung  erzeugt  wird,  als  sich  die  Empfehler  der 
raffinirten  Grausamkeit  von  ihren  Ungeheuerlichkeiten  versprechen. 
Es  mag  sich  Einer  durch  ausgesuchte  Unthaten  in  Furcht  setzen; 
aber  neben  der  sogenannten  Achtung,  welche  in  dieser  Furcht  liegt, 
wird  sich  auch  eine  moralische  Verachtung  erzeugen,  die  den  Erfolg 
eines  solchen  Verhaltens  mindestens  schmälert.  Das  blosse  Gesetz 
der  grössten  Wirksamkeit  der  Mittel  befindet  sich  in  keinem  Wider- 
spruch mit  der  Moral,  sobald  man  diese  Wirkungsfähigkeit  von  dem 


—     204     - 

Standpunkt  einer  Vertretung  und  Selbsterhaltung  des  Guten  beurtheilt. 
Unter  besondem  Umständen  wird  freilich  der  Verzicht  auf  die  schlech- 
testen Mittel  eine  Schädigung  oder  Niederlage  eintragen  können; 
aber  der  Sieg  mit  jenen  Mitteln  würde  eben  für  den  wahren  Zweck 
keiner  mehr  gewesen  sein. 

Wir  verwerfen  hienach  nichts  weiter,  als  was  die  Natur  selbst 
verwirft.  Der  bessere  Charakter  kämpft  gegen  die  Bestie  mit  aller 
Energie  und  Klugheit;  aber  er  lässt  sich  nicht  selbst  zur  Bestie 
herabwürdigen.  Die  Bethätigung  der  Feindschaft  und  die  in  ihr 
liegende  Verletzung  der  Gerechtigkeit  fordert  das  anderseitige  feind- 
liche Verhalten  zur  Vertheidigung,  zum  Angriff  und,  wenn  nöthig, 
znm  Vernichtungskampf  heraus;  aber  es  bringt  nichts  weiter  mit 
sich,  als  dass  die  natürlichen  Gesetze  eines  zwischen  Mensch  und 
Mensch  eingetretenen  Kriegszustandes  ihre  Consequenzen  entwickeln. 
Auch  für  die  Privatmoral  giebt  es  ein  Recht  des  Krieges  und  ein 
Recht  des  Friedens.  Man  kann  daher  nicht  erwarten,  dass  sich  die 
Verhältnisse  im  Zustande  der  vorherrschenden  Feindschaft  ebenso 
gestalten,  wiegln  einem  System  des  gegenseitigen  Vertrauens. 

6.  Die  Gegenseitigkeit  des  Guten,  welche  die  Voraussetzung 
einer  edleren  moralischen  Gestaltung  des  Verkehrs  ist,  zeigt  sich 
noch  mehr,  als  im  blossen  Kampf  gegen  Verletzungen,  dann,  wenn 
es  sich  um  die  positiven  Bindemittel  einer  nicht  nur  auf  ursprüng- 
liches Vertrauen  sondern  auf  Vertragstreue  angewiesenen  Gemein- 
schaft handelt.  Die  Einführung  von  Verpflichtungen,  die  über  die- 
jenigen der  blossen  Enthaltung  von  Verletzungen  hinausreichen, 
b^niht  stets  auf  einer  besondern  Willensbethätigxmg.  Ohne  Ueberein- 
kunft  lässt  sich  nur  das  ursprünglich  von  Natur  Bestehende  oder 
die  rein  mechanische  Folge  von  feindlicher  Gewalt  oder  einseitiger, 
zui  Dankbarkeit  verpflichtender  Wohlthat  denken.  Ein  zweites  Be- 
reich von  Verhältnissen  wird  durch  die  freiwilligen  gegenseitigen 
Bindungen  des  Willens  geschaffen.  Die  Grundvoraussetzung  besteht 
hier  immer  darin,  dass  der  eine  Wille  nur  im  Hinblick  auf  den  In- 
halt des  andern  Willens  gebunden  wird.  Es  ist  dies  ein  positives 
Verhältniss,  für  welches  aber  die  Natur  die  Richtung  und  die  ge- 
rechten Bedingungen  vorzeichnet.  Tu  unserm  obigen  Schema  von 
zwei  Personen  ist  deren  planmässiges  Zusammenwirken  noch  keines- 
wegs durch  die  beiderseitige  Enthaltung  von  Verletzungen  gegeben, 
sondern  es  bedarf  hiezu  der  freien  gegenseitigen  Uebereinkuuft.  Wir 
brauchen  an  dem  Wort  Uebereinkuuft  keinen  Anstoss  zu  nehmen; 


—     205     — 

denn  es  sind  nur  die  Rückläufigkeiten  des  19.  Jahrhunderts  gewesen, 
welche  sich  gegen  die  auf  den  Vertrag  gegründeten  Ableitungen  der 
privaten  und  politischen  Verbindlichkeiten  positiver  Art  mit  einer 
lahmen  und  jetzt  nicht  mehr  standhaltenden  Kritik  gewendet  haben , 
Auch  wir  unterscheiden  allerdings;  denn  wir  nehmen  ursprüngliche 
Noth wendigkeiten  an  und  legen  ausserdem  dem  Conventionellen  die 
Naturgrundlage  unter,  so  dass  wir  dasselbe  nicht  als  ein  willkür- 
liches und  zufälliges  Beheben,  sondern  als  Ergebniss  von  Beweg- 
gründen denken,  die  in  der  Gesetzmässigkeit  des  Wollens  und  zwar 
ebensogut  im  Verfehlten  wie  im  Zutreffenden  ihre  Erklärung  finden. 
In  dem  eben  gekennzeichneten  Gebiet  echt  positiver  Gegen- 
seitigkeit, in  welchem  die  Erwartung  der  treuen  Einhaltung  des 
üebemommenen  für  beide  Theile  die  Vorbedingung  der  Möglichkeit 
eines  wohlthätigen  Verkehrs  ist,  —  in  diesem  durch  menschliche 
üebereinkunft  auf  der  Grundlage  der  Natur  geschaffenen  Reich  mo- 
ralischer Einrichtungen  und  Verhältnisse  bedeutet  die  Auflösung  oder 
Schwächung  der  Gegenseitigkeit  einen  mehr  als  blos  einseitigen  Ver- 
derb. Es  ist  nicht  möglich,  zuverlässige  Beziehungen  anzuknüpfen, 
wohlthätige  Verhältnisse  einzugehen  und  dem  Einzelnen,  dem  man 
gegenübertritt,  nach  den  Grundsätzen  heilsamer  Vergesellschaftung 
zu  begegnen,  wenn  im  Allgemeinen  die  moralische  Corruption  um- 
sichgegriffen  und  das  egoistisch  rücksichtslose  und  feindliche  Ver- 
halten zur  tonangebenden  Regel  gemacht  hat.  Alsdann  wird  grade 
der  bessere  Mensch  am  meisten  zur  moralischen  Isolirung  genöthigt, 
während  die  Schlechten  durch  die  Gemeinsamkeit  ihres  Gaunerthums 
eine  lockere  Interessenverbindung  pflegen,  die  jedoch  immer  das  sehr 
begreifliche  Schicksal  hat,  bei  jeder  Gelegenheit  die  Genossenschaften 
der  Schurken  mit  innerm  Verrath  und  vielfältiger  Zersetzung  heim- 
zusuchen. Ein  System,  welches  auf  dem  Egoismus,  d.  h.  auf  der 
Hinwegsetzung  über  die  dem  Andern  schuldige  Rücksicht  beruht, 
schliesst  die  Feindschaft  des  Menschen  gegen  den  Menschen  als  Ele- 
ment ein  und  kann  daher  nie  mit  dem  Frieden,  geschweige  mit  dem 
wohlthätigen  Zusammenwirken  positiver  Art  verträglich  sein.  In 
sich  selbst  ist  es  auf  den  feindlichen  Kampf  und  zwar  im  tiefsten 
Grunde  auf  Ungerechtigkeit  angelegt.  Die  Wahrnehmung  der  eignen 
Interessen  ist  freilich  an  sich  selbst  unschuldig  und  gestaltet  sich 
erst  zur  schuldigen  Verletzung,  wenn  sie  bewussterweise  auf  Kosten 
des  Nebenmenschen,  d.  h.  zu  dessen  Schädigung  betrieben  wird. 
Aber  schon  in  dem  sogenannten  Kampf  um  das  Dasein,  wie  er  heute 


—     206     - 

nicht  nur  praktisch,  sondern  auch  theoretisch  verstanden  wird,  ist 
der  eigentliche  Egoismus  zum  Princip  gemacht,  —  eine  Thatsache, 
in  der  wir  nur  ein  Element  moralischer  Fäulniss  und  gesellschaft- 
licher Zersetzung  zu  erkennen  vermögen.  Das  Reich  der  Selbstsucht 
ist  in  sich  uneinig,  und  hierin  liegt  die  heilsame  Rache,  die  derartige 
Zustände  in  ihrem  Schoosse  tragen.  Befriedigung  ist  in  diesen  zer- 
fallenden Gebilden  schon  ursprünglich  verworfener  Interessen  für  die 
Träger  der  Selbstsucht  nicht  zu  finden,  welche  die  Früchte  ihres 
Kampfes  ums  Dasein  in  ihrer  eignen,  zum  Theil  gegenseitigen,  zum 
Theil  von  den  bessern  Elementen  ausgehenden  Vernichtung  ernten 
werden.  Sie  selbst  haben  ihr  verworfenes  Streben  in  einen  Grund- 
satz gekleidet,  der  zu  einem  Gegengrundsatz  fährt,  der  ein  wirklich 
moralisches  Recht  hat  und  zur  innem  Auflösung  noch  eine  neue 
niederschmetternde  Macht  hinzuschafft.  Wer.  mir  mit  dem  Princip 
des  Kampfes  ums  Dasein  gegenübertritt,  berechtigt  mich  nicht  etwa 
zur  Annahme  seiner  Ansicht,  sondern  zu  einer  tief  moralisch  be- 
gründeten Gegenwirkung.  Wer  mir  sagt,  er  werde  mich  umbringen 
oder  knechten,  damit  er  wohllebe  und  den  Herrn  spiele;  —  wer  mir 
sagt,  er  werde  meine  Nachkommenschaft  im  Keime  unterdrücken, 
damit  seine  Brut  um  so  besser  gedeihe,  den  werde  ich  nicht  besser 
sondern  eher  schlechter  achten,  als  den  gemeinen  Räuber,  der  auch 
nichts  weiter  als  einen  wildwüchsigen  Privatkampf  um  das  Dasein 
auf  eigne  Faust  und  zugehörige  Souverainetät  fuhrt.  Ich  werde  ihn 
also  mit  dem  besten  Gewissen  von  der  Welt  als  ein  Stück  Bestie 
behandeln  und  die  menschlichen  Eigenschaften  nur  insoweit  achten, 
als  sie  sich  wirklich  noch  vorfinden  und  nicht  von  der  vereinigten 
Brutalität  und  FrivoHtät  der  mit  dem  vermeintlich  nothwendigen 
Kampf  um  das  Dasein  maskirten  Selbstsucht  und  Niedertracht  tliat- 
sächlich  verschlungen  werden. 

Die  Zurückführung  entwickelter  Zustände  auf  die  Vorherrschaft 
der  thierischen  Gewalt  und  List  ist  das  Zeichen  einer  moralischen 
Auflösung,  neben  der  jedoch  eine  Neubildung  sich  vorbereiten  mag. 
Uns  gehen  hier  jedoch  nur  die  Gegenseitigkeitswirkungen  an,  mit 
denen  man  sich  auf  der  schiefen  Ebene  der  Brutalität  mit  beschleu- 
nigter Geschwindigkeit  hinunterfordert.  Thatsächlich  bringt  die  Roh- 
heit auf  der  einen  Seite,  wenn  nicht  ein  gleiches,  so  doch  meist  ein 
nicht  geringes  Maass  von  Verwilderung  auch  auf  der  andern  Seite 
mit  sich.  Auch  nach  den  edelsten  Grundsätzen  werden  die  Schlechtig- 
keiten mindestens  grosse  Härten  zum  Gegenstück  haben  müssen.   Im 


—     207     — 

wirklichen  Gange  der  Geschichte  aber,  in  welchem  auch  auf  der 
bessern  Seite  kein  rein  ideales  Verhalten  zur  Regel  zu  werden  pflegt, 
werden  die  Brutahtäten  und  Frivolitäten  des  Feindes  auch  das  eigne 
Lager  in  einem  gewissen  Maasse  degradiren.  Im  wüsten  Völker-  und 
Parteikampfe  werden  die  ursprünglichen,  die  Initiative  abgebenden 
Ausschweifungen  der  schlechtesten,  selbst-  und  herrschsüchtigsten 
Elemente  nicht  nur  moralische  Repressalien  d.  h.  Hemmuugs-  und 
Vergeltungsmittel  berechtigter  Art  hervorrufen,  sondern  auch  sonst 
auf  das  Verhalten  der  Gegner  ansteckend  und  verwildernd  einwirken. 
Die  Römischen  Bürgerkriege  sind  ein  classisches  Beispiel,  welches 
wohl  nur  von  dem  begonnenen  letzten  Drittel  des  19.  Jalirhunderts 
bereits  übertroffen  sein  dürfte.  Die  neu  entfaltete  Kriegsbrutalität 
überhaupt  und  namentlich  das  Verfahren  der  Versailler  gegen  die 
Pariser  Commune  sind  hier  Beispiele  der  Einleitung  eines  Anfangs, 
der  unsern  Satz  von  der  schiefen  Ebene  der  Brutalität,  Frivolität 
und  moralischen  Corruption  immer  umfassender  bestätigen  wird.  Die 
bestialischen  Theile  der  herrschenden  Französischen  Gesellschaft, 
gleich  gross  in  hinterhaltiger  Verlogenheit,  niederträchtiger  Raub- 
sucht und  einer  mit  der  feigen  Grausamkeit  sehr  wohl  verträghchen, 
an  die  Afrikanische  Hyäne  erinnernden  Blutgier,  haben  durch  den 
Massenmord  und  die  fortgesetzten  Massenverfolgungen  eine  Lage  ge- 
schaffen, in  welcher  auch  die  menschlichsten  Gegner  Gefalir  laufen, 
über  blosse  Strenge  hinausgetrieben  und  zur  Anwendung  mehr  als 
blos  eiserner  Mittel  verleitet  zu  werden.  Auf  diese  Weise  könnte 
die  edlere  Moral  hier  und  da  auch  auf  der  bessern  Seite  Schiffbruch 
leiden,  und  im  Kampf  mit  der  Bestie  im  Menschen  könnte  die  Wild- 
heit mehr  Gebiet  gewinnen,  als  ihr  ursprünglich  anheimgefallen  war. 
Die  Parteien  würden  sich  alsdann  in  gegenseitigen  Zerfleischungen 
ergehen  und  in  Massen  von  Unheil  hinundherwälzen.  Freilich  könnte 
die  Corruption  auf  der  bessern  Seite  nie  tiefe  Wurzeln  schlagen; 
denn  sie  wäre  dort  keine  urwüchsige,  sondern  nur  eine  vom  Feinde 
her  eingeführte.  Trotzdem  bhebe  aber  ein  solcher  Verlauf  zunächst 
eine  allgemeine  Herabwürdigung  des  moralischen  Culturstandes,  und 
man  könnte  sich  ihm  gegenüber  nur  damit  trösten,  dass  mit  den 
alten  Bindemitteln  zugleich  auch  ihre  verrotteten  und  schädlichen 
Beimischungen  aufgelöst  und  so  der  freie  Raum  für  eine  höhere 
Entwicklungsforni  und  eine  gleichsam  neuzugebärende  moralische 
Welt  geschaffen  würde. 

7.    Abgesehen  von  selteneren  Ausnahmefällen  ist  da,  wo  sich 


—    208     — 

auch  vorherrschend  das  Schlechte  und  Feindschaftsetzende  findet,  die 
Beimischung  von  irgend  etwas  Gutem  und  Gemeinschaftstiftendem 
die  Regel.  Mindestens  bleibt  ein  Rest  von  einer,  wenn  auch  noch 
so  erniedrigten  Menschennatur,  auf  den  man  sich  wird  berufen  und 
dem  man  mit  morahschen  Anforderungen  wird  entgegentreten  kön- 
nen. Auch  im  wüstesten  und  wildesten  Kampfe  mag  noch,  je  nach 
dem  vorgängigen  Culturgrad  oder  nach  der  Feindschaftsursache,  ein 
kleines  Ueberbleibsel  von  dem  Bewusstsein  moralischer  Gebundenheit 
anzutreffen  sein,  und  nur  der  zur  Ausrottung  geführte  Vertilgungs- 
krieg ist  da,  wo  die  Vernichtung  nicht  blos  der  Bestie  im  Menschen 
gilt,  sondern  grade  von  der  triumphirenden  Bestie  ausgeht,  auch 
eines  solchen  Restes  ledig.  Uebrigens  werden  wir  aber  in  allen 
feindlichen  Verhältnissen  Elemente  vorfinden,  durch  welche  die 
Menschengruppen,  wenn  auch  nur  schwach  und  in  geringem  Um- 
fang, einander  verbindlich  bleiben  und  von  dem  Aeussersten  gegen- 
seitiger ünthat  zurückgehalten  werden.  Die  Mischung  des  feind- 
lichen Verhaltens  mit  Rücksichten  liegt  im  eigentlichen  Kriege  deut- 
lich vor  Augen:  aber  sie  findet  sich  auch  überall  sonst  in  den 
verschiedensten  Richtungen.  Von  Natur  ist  der  Mensch  fiir  den 
Menschen  keineswegs  in  grösserem  Maasse  feindlich  als  indifferent 
oder  freundlich.  Der  ursprünglich  durch  die  Triebe  und  Leiden- 
schaften angelegte  Zustand  erscheint  nur  dann  als  Krieg  Aller  gegen 
Alle,  wenn  man  ausschliesslich  die  Störungen  ins  Auge  fasst  und 
den  gleichgültigen  oder  verbindenden  Verkehr  sowie  die  positive, 
nicht  blos  auf  Gesammtvertheidigung  gerichtete  Gemeinschaftsbildung 
übersieht.  Der  Mensch  ist  für  den  Menschen  nur  insoweit  ein  Wolf, 
als  er  in  der  besondem  Charaktermischung,  die  nicht  der  Grattuug 
als  solcher  wesentlich  ist,  das  Raubthier  besonders  ausgeprägt  ent- 
hält. Uebrigens  ist  er  ein  gutartiges  Wesen;  denn  alle  die  verleimi- 
deten  Triebe  und  Leidenschaften,  die  der  Gattung  thatsächlich  und 
nothwendig  zukommen,  sind  Einrichtungen,  die  den  gegenseitigen 
Verkehr  regeln.  Sie  begegneten  uns  schon  in  der  Bewusstseinslehre, 
und  wir  haben  hier  noch  geltend  zu  machen,  dass  der  Austlmck 
schlechte  Leidenschaften  auf  Rache,  Eifersucht  u.  dgl.  nicht  passt, 
insofern  diese  Erregungen  gradezu  moralische  Aufgaben  zu  erfüllen 
und  eine  Rückwirkung  auf  Verletzungen  der  Gerechtigkeit  und  der 
natürlichen  Ansprüche  zu  vertreten  haben.  Auch  die  bessere,  mit 
der  Nemesis  verwandte  Art  des  Neides  dient  gegen  die  unberechtigten 
Verletzungen   der  Gleichheit,    und   so  sind   alle  Affecte  dieser  Art 


*      —     209     -> 

Regungeu  der  blossen  Selbsterhaltung,  welche  vollkommen  moralisch 
ist,  solange  sie  das  eigne  Selbst  nur  gegen  Verletzungen  wahrt  und 
nicht  in  das  fremde  Ich  übergreift.  Die  wirklich  schlechten  Leiden- 
schaften sind  in  der  Raubgier  und  Herrschsucht,  also  in  derjenigen 
besondem  Gestaltung  falscher  Triebe  zu  suchen,  wie  sie  sich  im 
Raubthier  v^wirklicht  finden.  Unterdrückung  und  Ausbeutung  des 
Menschen  durch  den  Menschen  beruhen  auf  jenen  wirklich  schlechten 
Leidenschaften.  Die  Rache  hat  noch  keine  Tyrannen  geschaffen,  wohl 
aber  gestürzt. 

Wenden' wir  uns  von  denjenigen  Affecten,  die  eine  Verletzung 
und  eiuen  entsprechenden  Spannungszustand,  also  eine  zwischen 
Mensch  und  Mensch  vorhandene  Störung  ausdrücken,  zu  den  wohl- 
thätigen,  auf  Verbindung  angelegten  Trieben  und  Erregungen,  so 
fallt  der  falsche  Pessimismus,  der  die  menschliche  Natur  in  der 
Wurzel  für  verdorben  etklärt,  vollends  zusammen.  Ohne  Frage  ist 
das  Mitleid  das  grade  Gegentheil  einer  egoistischen  Regung;  denn 
es  hat  seinen  Schwerpunkt  im  andern  Ich.  Die  Natur  hat  hier  selbst, 
dafür  gesorgt,  dass  ein  fremdes  Leiden*  das  eigne  Gefühl  schmerzlich 
mitbewege.  Wer  diesem  Triebe  nur  folgt,  um  ihn  loszuwerden, 
handelt  allerdings  rein  selbstsüchtig;  aber  hiemit  sinkt  der  Mensch 
unter  den  bessern  Naturzug  tief  hinab.  Auch  die  von  Spinoza  em- 
pfohlene Emancipatioil  von  der  Mitleidsregung,  welche  letztere  durch 
einen  auch  ohne  wirkliches  Mitleid  in  gleichem  Sinne  handelnden 
Verstand  ersetzt  werden  soll,  ist  illusorisch  und  zugleich  auch  einiger- 
maassen  roh.  Dagegen  wird  alle  überreizte,  schwächliche  und  hand- 
lungsunfähige Gefühlsverkünstelung  als  falsche  Sentimentalität  von 
der  Entwicklung  und  Pflege  jenes  edlen  Naturtriebes  fernzuhalten 
und  dem  überlegenden  Verstand  die  Rolle  des  Abwägens  und  Ord- 
nens  der  Gefühlsautriebe  zu  wahren  sein.  In  der  ursprünglichen 
rohen  Menschennatur  ist  das  Mitleid  kaum  mehr  und  oft  wohl  we- 
niger als  die  entsprechende,  auch  bei  Thieren  «u  beobachtende  Regung 
unmittelbar  vorhanden.  Es  giebt  vielleicht  keinen  Affect,  bei  wel- 
chem die  gehörige  Cultur  so  sichtbare  Steigerungen  mit  sich  brächte, 
als  bei  der  individuellen  und  geschichtlichen  -Ausbildung  der  Mit- 
empfinduug  für  fremde  Zustände  des  Leidens.  In  den  gutartigsten 
Kindern  ist  oft  äusserst  wenig,  ja  vielfach  gar  nichts  davon  zu  be- 
merken, und  zwar  zum  Theil,  weil  sie  selbst  das  ernstere  Leiden 
meist  nicht  kenneu,  zum  Theil,  weil  auch  trotz  der  eignen  Erfahrung 
des  Schmerzes  die  Fähigkeit  und  Gewöhnung  fehlt,  aus  den  Zeichen 

.   DühriDg,  Ciirsus  der  Philosophie.  l'i 


—     210     — 

des  fremden  Leidens  ein  entsprechendes  Gegenbild  der  fremden  Em- 
pfindung in  sich  selbst  vorzustellen.  Weit  schlimmer  ist  aber  die 
betreffende  Unentwickeltheit  oder  Verwilderung  bei  dem  brutalen 
Menschen  geartet,  und  der  ärgste  von  allen  Fällen  ist  derjenige  der 
Abgestumpftheit,  die  in  Folge  von  Ausschweifungen  des  Geschlechts- 
triebes gTade  in  der  Richtung  auf  die  Abschwächung*  des  Mitleids 
am  auffallendsten  hervortritt.  Diese  Ursache  der  Schmälerung  der 
edleren  Naturregungen  wirkt  noch  xmheil voller,  als  die  eigentlichen 
Schlächtergewohnheiten.  Das  uneigentliche  Schlächterhandwerk, 
welches  in  den  Schlachten  seine  Probestücke  liefert,  sowie  noch 
mehr  jede,  neben  dem  regelrechten  und  privilegirten  Kriege  geübte 
Menschenschlächterei  hat  die  Zurückdräugung  oder  Ertödtung  des 
bessern  Naturtriebes  im  Gefolge.  Das  bereits  entwickelte  Mitleid 
kann  durch  die  Gewöhnung  an  den  Anblick  des  Leidens  abgestumpft 
und  durch  die  Vorherrschaft  wilderer,  in  reine  Selbstsucht  ausarten- 
der Triebe  derartig  erstickt  werden,  dass  gewohnheitsmässig  eine 
.mehr  als  blos  rohe  Denk-  und  Handlungsweise  einwurzelt  und 
schliesslich  zur  andern  Natur  wird,  die  sich  in  einer  Gruppe  oder 
Classe  auch  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  fortpflanzt.  Hiedurch 
erklären  sich  auch  manche  Charaktermisehungen,  in  denen  die  Ent- 
artung des  Menschlichen  mit  der  natürlichen  Bestienhaftigkeit  nicht 
etwa  blos  Schritt  hält,  sondern  sie  weit  überholt,  so  dass  in  diesen 
Theilbereichen  der  Menschheit  der  Satz  wirkHch  zur  Wahrheit  wird, 
dass  der  Mensch  das  fürchterlichste  der  Ungeheuer  sei.  Trotz  alle- 
dem würd^  es  aber  verkehrt  sein,  um  der  Monstrosität  besonderer 
Erscheinungen  willen  den  allgemeinen  Typus  der  Gattung  anzuklagen 
oder  gar  dessen  edlere  Ausbildung  für  nichts  zu  achten.  Die  Er- 
fahrung des  Uebels,  die  allseitig  aus  d^r  gegenseitigen  Verhängung 
desselben  hervorgeht,  wird  dann  am  heilsamsten ,  wenn  die  Rollen 
wechseln,  und  wenn  der  bisherige  Thäter  des  Unrechts  der  Erleider 
desselben  wird.  So  lernen  die  Menschen  schliesslich,  sich  auf  den 
Standpunkt  des  fremden  Gefühls  zu  versetzen ,  und  diese  Fähigkeit, 
die  weit  über  die  unmittelbaren  Regungen  des  natürlichen  Mitleids 
hinausträgt,  ist  die  Wurzel  aller  rücksichtsvollen  Verkelirssitte. 

8.  Ueber  den  Ursprung  des  Bösen  mögen  diejenigen  unter  den 
Philosophirern,  welche  sich  als  Priester  zweiter  Classe  kennzeichnen, 
ihre  Worte  und  sogenannten  Theorien  verlieren.  Uns  steht  die  That- 
sache,  dass  der  Tjpus  der  Katze  mit  der  zugehörigen  Falschheit  in 
einer  Thierhildung   vorhanden   ist,   mit   dem  Umstände  auf  gleicher 


—     211     — 

Linie,  dass  sich  eine  ähnliche  Charaktergestaltung  auch  in  Menschen 
vorfinder.  Der  Gattungscharakter  Mensch  ist  zwar  eine  Allgemein- 
heit mit  individueller  Wirklichkeitsbedeutung,  schliesst  aber  die  Ein- 
mischuncf  besonderer  Elemente  nicht  aus.  Auch  die  bessere  Indivi- 
dualnaiur  hat,  eigenthümliche  Züge,  die  als  Hinzufügungen  zum  ge- 
meinen Gattunffscharakter  betrachtet  werden  können.  Der  Mensch 
ist  ein  vielfach  zusammengesetztes  Wesen,  und  es  wird  daher  die 
Mischung,  Weglassung,  Häufung  oder  Steigerung  der  Bestandtheile 
entscheidend.  Das  Böse  ist  daher  nichts  Geheimnissvolles,  wenn  man 
nicht  etwa  Lust  hat,  auch  in  deni  Dasein  der  Katze  oder  überhaupt 
des  ßaubthiers  etwas  Mystisches  zu  wittern.  Jedenfalls  dürfte  sich 
hier  die  Mystik  sehr  natürlich  aufklären;  denn  die  Grundthats'achen 
werden  hier  durch  sehr  bekannte  Triebe  gebildet,  deren  Richtung 
und  Gegenstände  auf  einer  besondern  Composition  der  Gier  und  des 
derselben  dienstbaren  Verstandes  beruhen.  Mit  einem  gleichen  Recht, 
wie  in  die  Elenaente  der  Triebe,  könnte  man  auch  in  die  chemischen 
Elemente  und  deren  Verbindungen  das  wirre  Dunkel  vermeintlicher 
Mysterien  eiuschwärzen  wollen.  Das  Böse  ist  das  absichtlich  und 
ursprünglich  Feindliche.  Ein  Theil  desselben  beruht  auf  einem 
blossen  Mangel,  nämlich  auf  einer  zunächst  naturnothwendigen  Roh- 
heit des  Spieles  der  Begierden  und  Gemüthserreguugen  und  ausser- 
dem auf  dem  naturwüchsigen  Nichtwissen  von  den  Innern  Wirkungen 
in  andern  Wesen.  Ein  anderer  Theil  ist  schhmmer  geartet,  insofern 
er  auf  einer  ursprünglichen  Einrichtung  beruht,  die  das  feindliche 
Verhalten  nicht  blos  thatsächlich  hervorbringt,  sondern  auch  von 
vornherein,  also  schon  vor  der  Entstehung  des  Bewusstseins ,  zum 
Ziele  hat.  Für  diese  feindhche  Function  sind  die  Raubthiercharaktere 
von  der  Natur  gleichsam  construirt;  aber  in  der  Thatsache  eines 
solchen  Gefüges  von  Trieben  mit  dem  zugehörigen,  auf  die  Ausübung 
von  Gewalt  und  List  berechneten  Verstände  liegt  kein  grösseres 
Räthsel,  als  in  den  völlig  gegensätzlichen,  auf  Freundschaft  und 
Liebe  angelegten  Triebgebilden.  Man  mag  daher  lieber  über  den 
Ursprung  des  Guten,  anstatt'  über  das  radicale  Böse,  metaphysisch 
faseln;  denn  hier  ist  dafür  gesorgt,  dass  man  bei  den  Inhabern  eines 
schwachen  oder  ungeübten  Verstandes  weniger  Unheil  anrichten 
könne.  Uns  genügt  der  allgemeine  Gedanke  des  Antagonismus,  der 
durch  die  ganze  Naturverfassung  hindurchgeht  und  ein  Lebensspiel 
mit  den  erforderlichen  Hindernissen  überhaupt  erst  ermöglicht,  um 
uns  das  Dasein  des  ursprünglich  Feindschaftlichen,  welches  nicht  erst 

14* 


—     212     — 

eine.  Rückwirkung  auf  fremde  Verletzungen  ist,  als  einen  besondem 
Fall  *  der  Spannung  der  Gebilde  und  gleichsam  als  eine  Figur  im 
Durchlaufen,  Sondern  und  Ausmerzen  der  Möglichkeiten  verständ- 
licher zu  machen.  Uebrigens  haben  wir  auch  die  falschen  Griffe, 
die  der  Natur  als  solcher  erfahrungsmässig  eigen  sind,  schon  früher 
in  der  Bewusstseinslehre  berührt,  so  dass  uns  auch  in  dieser  Rich- 
tung eine  Analogie  füi*  das  moralisch  Misslungene  nicht  fehlt.  Die 
Nothwendigkeit  der  allmäligen  Einschränkung  und  schliesslichen 
Vernichtung,  welche  die  moralisch  unhaltbaren  Gebilde  mit  der 
vollem  Entwicklung  des  allseitigen  Lebens  treffen  muss,  ist  hier 
der  entscheidende  Trost.  Uebrigens  darf  man  aber  auch  nicht  die 
schlimme  Natur  des  Bösen  in  ihren  Wirkungen  auf  das  Innere  an- 
derer Wesen,  ja  auch  nicht  auf  die  eignen  Träger  der  bösen  Eigen- 
schaften überschätzen.  Schliesslich  ist  das  Unheil,  wenn  auch  mensch- 
lich gesteigerter,  so  doch  in  der  Hauptsache  nicht  von  durchaus 
anderer  Natur,  als  in  den  entsprechenden  ursprünglichen  und  von 
der  Natur .  angelegten  Feindschafts-  und  Raubverhältnissen  der  Thiere. 
Indem  wir  ursprünglich  verletzende  Handlungen  als  Wirkungen 
der  natürlichen  Rohheit,  Unwissenheit  oder  ßosheit  annehmen,  ge- 
langen wir  zu  den  berechtigten  Rückwirkungen,  die  in  den  mensch- 
lichen Gemüthsbewegungen  und  namentlich  im  Ressentiment  ihren 
Ausdruck  finden.  Wir  sind  jedoch  weit  davon  entfernt,  die  Ver- 
folgung eines  einzigen  typischen  Princips,  also  etwa  desjenigen  der 
Rückwirkung  auf  ursprünglich  feindhches  Verhalten,  für  die  zugleich 
sicherste  und  deutlichste  Begründung  des  moralischen  Urtheilens  zu 
halten.  Es  ist  weit  besser,  sich  wie  in  der  Mathematik  an  einzelnen 
axiomatischen  Grundnothwendigkeiten  von  besonderer  Gestalt  zu 
Orientiren.  Die  absolute  Gültigkeit  der  einfachen  Grundsätze  wird 
alsdann  zu  einer  Einsicht,  die  ihrer  Unmittelbarkeit  wegen  den 
Widerspruch  ausschliesst.  Niemand  will  körperlich  geschädigt  oder 
durch  Beleidigung  geistig  verletzt  werden.  Die  Gegenregung  und 
Rückwirkung  auf  einen  ursprünglichen  und  selbständigen  Act  der 
Feindseligkeit  ist  ein  reines  Naturgesetz  der  Moral.  Wer  mich  be- 
lügt, will  mich  täuschen  und  verhält  sich  in  dieser  Beziehung  feind- 
lich und  verletzend  gegen  einen  Theil  meines  Selbst.  Die  Lüge  aus 
Nothwehr  oder  die  sogenannte  Nothlüge  hat  diesen  direct  feindlichen 
Charakter  nicht.  Sie  ist  kein  Angriff,  sondern  nur  eine  Vertheidi- 
gung,  und  sie  kann,  wenn  sie  nicht  blosse  Verlegenheitslüge  ist, 
also    unter    Voraussetzung    der    berechtigten    Vertheidigung   gegen 


—     213     — 

falsche  Zumuthuugen  sogar  ebensogut,  wie  jede  in  Thaten  bestehende 
Nothwehr,  vollkommen  in  der  Ordnung  sein.  Sprachgebrauch  und 
unzulänglicher  Formelkram  sowie  die  zugehörigen  vulgären  oder  auch 
gelehrt  ausgeputzten  Ideenassociationen  sind  hier  ebenso  schlechte 
Führer,  wie  in  der  Auslegung  von  Affecten  nach  Art  des  Neides. 
Ein  Wort  und  die  sich  damit  vergesellschaftenden  Ansichten  decken 
oft  die  ungleichartigsten  Gebilde,  mit  deren  Sonderung  erst  die  ge- 
hörige Aussage  ijber  ihren  Sinn  und  Werth  gewonnen  werden  kann. 
Ganz  im  Allgemeinen  gilt  die  Lüge  als  verwerflich,  weil  sie  ohne 
weitere  Voraussetzungen  und  rein  an  sich  selbst  für  Jeden,  auf  den 
sie  gerichtet  wird,  als  eine  feindliche  Beeinträchtigung  erscheinen 
muss.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  jeder  Art  von  Täuschung  und 
Betrug.  Der  natürliche  moralische  Maassstab  bleibt  aber  hier  immer 
der  Grad  der  Feindseligkeit,  der  sich  in  Art  und  Umfang  der  be- 
wussten  Verletzung  bekundet.  Wer  noch  an  der  universellen  und 
ausnahmslosen  Wahrheit  der  moralischen  Grundgesetze  zweifeln 
möchte,  der  mag  sich  überlegen,  ob  der  absichtliche  Tödtungs- 
versuch,  der  ohne  vorgängiges  Unrecht  erfolgt,  nicht  in  jedem  mensch- 
lichen Bewusstsein  die  auf  Vergeltung  gerichtete  Gegenregung  gleich- 
sam mit  mechanischer  Nothwendigkeit  erzeugen  muss.  Das  ursprüng- 
Hch  und  ohne  moralischen  Grund  feindliche  Verhalten  ruft  als 
Rückwirkung  eine  berechtigte  feindliche  Gesinnung  und  deren  Be- 
thätigung  hervor.  Wird  uns  also  das  ursprünglich  Feindliche  als 
Thatsache  zugeständen,  so  haben  wir  für  die  moralische  Selbsterhal- 
tung nicht  weiter  nach  besondern  Principien  zu  suchen,  sondern 
erkennen  in  der  Nothwendigkeit  der  Bewusstseinsregungen  eine 
gleichsam  logisch  moralische  Macht,  die  in  allen  einzelnen  Gestal- 
tungen bis  zur  völligsten  Anschaulichkeit  sichtbar  wird.  Zu  ähn- 
lichen Ergebnisseu  würde  ein  näheres  Eingehen  auf  diejenigen  Gegen- 
regungen führen,  die  nicht  die  Ausgleichung  von  Störungen,  sondern 
den  Ausdruck  von  Förderuugen  zur  Function  haben. 

9.  Die  Gegenseitigkeit,  in  der  Moral  erstreckt  sich,  wenn  auch 
nur  in  mittelbarer  und  untergeordneter  Weise,  auch  auf  das,  was 
in  erster  'Linie  ausschliesslich  dem  isolirten  Einzelverhalten  anheim- 
fällt. .  Auf  diese  Weise  können  Gnindsätze,  die  zunächst  nur  mein 
eignes  persönliches  Schicksal  betrefiPen ,  in  iliren  entfernteren  Wir- 
kungen, auch  abgesehen  von  jeder  unmittelbaren  und  eigentlichen 
Verletzung,  andere  Menschen  in  Mitleidenschaft  versetzen.  Hieraus 
ergiebt  sich  eine  etwas  weitere  Erstreckung  der  Rücksichten,  als  sie 


—     214    — 

sonst  geboten  wäre.  Es  entsteht  gleichsam  auf  Umwegen  eine  Art 
von  Pflichten,  deren  Yerbindlichkeitsgrad  jedoch  weit  geringer  ist, 
als  derjenige  der  unmittelbaren,  theils  auf  Störungen^  theils  auf  ein 
positives  Band  der  Treue  bezüglichen  Gebundenheiten.  Die  Förde- 
rung der  eignen  Gesundheit  ist  in  dieser  entfernteren  Weise  auch 
eine  Pflicht  "gegen  Andere,  nämlich  insoweit  Ansteckung  im  weitesten 
Sinne  des  Worts  in  Frage  kommt.  Niemand  wird  jedoch  die  weite 
Kluft  zwischen  den  unmittelbaren  und  den  weither  abgeleiteten  und 
darum  auch  weit  schwächeren  Pflichtbeziehungen-  verkennen.  Es 
wäre  sogar  lächerlich,  das  als  eine  Zumuthung  aus  der  Gegensei tior- 
keit  geltend  zu  machen,  was  der  Emzelne  aus  seinem  eignen  näch- 
sten Interesse  für  sein  persönliches  Wohl  zu  »thun  hat.  Wer  sich 
über  den  eignen  Nutzen  hinwegsetzt,  wird  die  verblassenden  Wir- 
kungen, die  ihm  ganz  entfernt  in  der  Mitleidenschaft  Anderer  vor- 
gestellt werden  können,  sicherlich  noch  weniger  beachten.  Nur  in 
dem  Ausnahmefall  einer  grossen  aufopfernden  Gesinnung  könnte 
scheinbar  das  Gegentheil  eintreten;  aber  alsdann  wäre  die  Vernach- 
lässigung des  Eigenlebens  auch  gar  nicht  der  gemeine  moralische 
Fehler,  den  wir  vorher  voraussetzten. 

Die  Ordnung  des  Einzellebens  ist  eine  Kunst,  deren  Grundsätze 
sich  sehr  einfach  gestalten,  und  die  zum  grössten  Theil  von  der 
höheren,  d.  h.  intersubjectiven  Moral  abgesondert  und  als  Regeln 
für  die  Pflege  der  edleren  Menschlichkeit  behandelt  werden  können. 
Die  Vermeidung  der  theils  naturwüchsigen  theils  willkürlich  erzeugten 
Ausschweifungen,  von  den  gemeinsten  Trieben  bis  zu  den  affectiven 
und  poetischen  Erregungen  hinauf,  ergiebt  die  Nothweudigkeit  von 
üebung  und  Gewöhnung,  aber  wahrlich  keine  Ascese  oder  sonstige 
Selbstpeinigung,  die  ja  nichts  als  eben  selbst  eine  entgegengesetzte 
Art  der  Ausschweifung  ist.  Neben  den  Einschränkungen,  welche 
darum  in  der  gemeinen  Moral  eine  so  grosse  Rolle  spielen,  weil  sie 
in  der  That  die  erste  rohe  und  in  dieser  Eigenschaft  wichtigste 
Grundlage  für  alles  Uebrige  bilden,  müssen  nun  aber  auch  die  Aus- 
dehnungen der  Lebrusenergien  das  höhere  Ziel  bilden.  Die  Fähig- 
keiten zum  Lebensgenuss  müssen  gepflegt,  harmonisch  entwick(4t 
und  nach  Kräften  gesteigert  werden.  Die  Schichtung  und  gleichsam 
das  Stufensystem  der  Triebe,  Leidenschaften  und  Erkeuntuissthätig- 
keiten  erfordert  die  sorgfältigste  Fürsorge;  denn  jedes  niedriger  ge- 
legene Gebiet  wird  durch  Befriedigung  in  Ruhe  versetzt,  so  dass 
die    annähenide  BedürfnisslosiefA'eit  das   Aufst^eigen  zu  and^rartigen 


—     215     — 

und   höheren   Energien  verlangt,    wenn   nicht   Trägheit   oder  etwas 
Schlimmeres,  nämlich  ein  Haschen  nach  unnatürlich  künstlicher  Stei- 
gerung  des  niederen  Lebensgenusses   eintreten   soll.     Die  Arbeit  im 
echten  Sinne  des  Worts,   d.  h.   die   Ueberwindung   von   natürlichen 
Hindernissen  der  Lebenszwecke,  bildet  schon  physiologisch  ein  Gegen- 
gewicht gegen   das  blosse  Geniessen   und  ist   sogar  ein  Bedürfiiiss, 
um  des  Kräftespiels  innezuwerden  und  das  Gefühl  der  Lebensenergie 
zu  steigern.    Erst  an  dem  Widerstände  empfinden  und  erproben  sich 
die  Functionen  und  Energien,   von  dem  rein  mechanischen  Muskel- 
spiel  an   bis   empor  zu   den  höchsten  Bethätigungen  der  Charakter- 
kraft und   des  Verstandes.     Das  Princip   der  Thätigkeit  wird   aber 
gewöhnlich  dadurch  gefälscht,   dass  man  die  Arbeit  von  vornherein 
als   eine  widerwärtige  Last  auffasst,   gegen  welche   die  menschliche 
Natur  ursprünglich  und  stets  Abscheu  hege.     Obwohl  nun  dies  von 
der    thatsächlichen    Arbeit    in    ihrer    bisherigen    weltgeschichtlichen 
Gestaltung  in  bedeutendem  Umfang  wirklich  gilt,   so  ist  doch  ganz 
anders  zu  urtheilen,  wenn  man  die  bessere  und  naturgemäss  berech- 
tigte Gestalt  zu  Grunde  legt.     Einer  solchen  normalen  Bethätigung 
der  Kräfte  gegenüber  könnte  man   fast  schon  jede  eigentliche  An- 
strengung,  insofern   sie  Ueberspannung  ist,   als  eine  Ausschweifung 
im  Kraftgebrauch   ansehen.     In   der  That  können   diese  Ausschwei- 
fungen im  Kraftgebrauch,   wo   sie  nicht  durch  fremden  Zwang  auf- 
erlegt sind,  als  ähnliche  Missgriffe  der  Natm'  angesehen  werden,  wie 
die  Ausschreitungen  im  Genüsse.     Das  zu  erreichende  Ziel,  nämlich 
die   Frucht,    welche    nach    der   Ueberwindung   des  Widerstandes  zu 
pflücken  ist,   wirkt   als  Trieb   oder  gar  als  Stachel  und  verleitet  zu 
einer    unmässigen   Anspa^pnung    der  Maschinerie    des   eignen  Leibes 
und  Geistes.   Der  fremde  Zwang  kann  auch  die  Gefetalt  einer  durch 
die  Natur  verhängten  Noth  haben;  indessen  ist  die  Artung  der  Ur- 
sache für  den  Charakter  der  Thatsache,  also  für  die  Bedeutung  der 
Ausschreitung,  nicht  entscheidend.    Die  Vorstellung  von  einer  Arbeit, 
bei  welcher  die  Kräfte  gleichsam   innerhalb   ihrer  Elasticitätsgrenze 
bleiben,  und  die  Empfindung,  anstatt  peinlich  zu  werden,  vielmehr 
das    Selbstgefühl    der    Lebensfanctionen    bereichert,   —   ein    solches 
Ideal  von  echt  naturgemässer  und  menschlicher  Arbeit  dürfte  wohl 
unbedenklich   als  nothwendiger  und   wohlthätiger  Bestg-ndtheil  all^s 
vollkommneren  Lebensgenusses  gelten  können.    Li  dieser  Eigenschaft 
dient  die  Arbeit  auch  unmittelbar  und  rein  subjectiv  zur  Veredlung 
des  Daseins.   Die  Lang<tweile  ist  nichts  als  eine  Stauung  der  Kräfte 


—     216     — 

durch  Abwesenheit  wahrhaft  interessirender  Bedürfnisse.  Die  üu- 
fahigkeit  zum  Geuuss  und  der  Mangel  an  Gelegenheit,  ernsthafte 
Reize  zur  Thätigkeit  anzutreffen,  erklärt  hier  Alles.  Langeweile  ist 
mitten  in  einer  Fluth  von  Beschäftigungen,  ja  sogar  Angesichts 
einseitiger  Anstrengungen  und  schwerer  Arbeit  möglich  und  zwar 
aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  es  nicht  der  Reiz  eines  wahrhaften 
Bedürfnisses  und  das  Bewusstsein  fruchtbarer  Wirksamkeit  ist,  was 
dieses  widerwillige  Spiel  der  Kräfte  begleitet.  Um  den  Menschen 
moralisch  zu  erheben,  muss  man  ihn  lehren,  freiwillig  die  Stufen- 
leiter der  Thätigkeiten  nach  Maassgabe  des  Fortschritts  von  den 
niedem  zu  den  höhern  Bedürfnissen  und  Genussarten  emporzusteigen; 
denn  für  das  Zurückbleiben  auf  einer  Sprosse,  von  der  aus  bereits 
alles  Zugängliche  überschaut  und  ergriffen  ist,  hat  die  Natur  die* 
Strafe  der  trägen  Versumpfung  und  Fäulniss  und  des  diese  Zustände 
begleitenden  Missbehageus  verhängt. 

10.  Die  Beziehungen  von  Wille  zu  Wille  ergeben  unmittelbar 
die  gegenseitige  Enthaltung  von  Verletzungen  und  führen  überdies. 
zur  freiwilligen  Schaffang  von  besondern  Verbindlichkeiten  im  Wege 
der  L-ebereinkuuft.  Da  nun  der  Wille  als  solcher  dem  fremden 
Willen  nur  eine  allgemeine  und  gleiche  Achtung,  also  nicht  das 
Geringste  zumuthen  kann,  was  er  nicht  auch  selbst  leisten  müsste, 
so  werden  die  specielleren  Entscheidungen  aus  einem  Sachverhalt  zu 
entnehmen  sein,  der  sich  den  beiden  Willen  als  etwas  Drittes  und 
Neutrales ,  aber  dennoch  als.  maassgebend  unterlegen  lässt.  Dieser 
Sachverhalt  wird  die  besondere  Lage  und  die  Beurtheiluug  derselben 
durch  den  Verstand  sein.  Man  wird  sich  auf  die  moralische  Zweck- 
mässigkeit 'berufen,  d.  h.  die  Art  erörtern,,  auf  welche  Jeder  der  ne- 
gativen oder  positiven  Gegenseitigkeit,  um  die  es  sich  handelt,  am 
treusten  entspricht.  Der  Mangel  an  Einsicht  und  die  erworbenen 
Miss  Vorstellungen  werden  hier  mit  dtn  ursprünglich  falschen  Rich- 
tungen der  Naturantriebe  oder  Culturverzerruugen  die  Haupthinder- 
nisse einer  Verständigung  im  Wollen  bilden.  Handelt  der  Eine  nach 
Wahrheit  und  Wissenschaft,  der  Andere  aber  nach  irgend  einem 
Aberglauben  oder  Vorurtheil,  so  ist  üebereinstimmung  nur  zufällig, 
uud  es  müssen  der  Regel  nach  gegenseitige  Sj;öruugen  eintreten. 
Die  Entscheidung  solcher  moralischer  Conflicte  auf  dem  Wege  echter 
Verständigung,  nämlich  durch  schliessliche  Aufklärung  des  irrenden 
Theils,  wird  selbst  dann  nur  selten  gelingen,  wenn  kein  ursprüng- 
liches Uebelwollen   im  Spiele  ist.     Für  die  menschlichen  Gesammt- 


—     217     — 

gruppeu  ist  zu  einer  solchen,  durch  die  Erkenntuiss  zu  vermitteln- 
den Ausgleichung,  noch  eher  als  dem  Einzelnen  gegenüber  einige 
Aussicht  vorhanden;  indessen  wird  bei  einem  gewissen  Grad  von 
Ünfähiorkeit ,  Rohheit  oder  böser  Charaktertendenz  in  allen  Fällen 
ein  Zusammeustoss  erfolgen  müssen.  Die  Verletzung  kann  schon  in 
dem  unberechtigten  Widerstände  des  unwissenden  oder  sonst  fehl- 
greifenden Theils  gegen  das  an  sich  zulässige  Verhalten  des  andern 
Theils  liegen,  der  alsdann  ein  Recht  haben  wird,  sich  auch  gegen 
den  Willen  des  andern  freie  Bahn  zu  schaffen.  Es  sind  nicht  blos 
Kinder  und  Wahnsinnige,  denen  gegenüber  die  Gewalt  das  letzte 
Mittel  ist.  Die  Artung  ganzer  Naturgruppen  und  Culturclassen  von 
Menschen  kann  die  Unterwerfung  ihres  durch  seine  •  Verkehrtheit 
•  feindlichen  WoUens  im  Sinne  der  Zurückfiihrung  desselben  auf  die 
gemeinschaftlichen  Bindemittel  zur  unausweichlichen  Nothwendigkeit 
machen.  Der  fremde  Wille  wird  auch  hier  noch  als  gleichberechtigt 
erachtet ;  aber  durch  die  Verkehrtheit  seiner  verletzenden  und  feind- 
lichen Bethätigung  hat  er  eine  Ausgleichung  herausgefordert,  und 
wenn  er  Gewalt  erleidet,  so  erntet  er  nur  die  Rückwirkungen  seiner 
eignen  Ungerechtigkeit.  Den  Feind,  der  uns  schwer  geschädigt  hat, 
werden  wir  nicht  nur  zu  strafen,  sondern  auch  für  künftig  ungeföhr- 
lich  zu  machen  suchen.  Für  Letzteres  wird  es  aber  sogar  oft  eine 
milde  Form  sein,  wenn  blos  Bürgschaften  für  die  Sicherheit  gefordert 
werden,  die  Macht  zu  schaden  eingeschränkt,  von  sonstiger  Schwä- 
chung oder  gar  Vernichtung  dagegen  Abstand  genommen  wird. 
Mau  wähne  jedoch  nicht,  dass  aus  einem  solchen  Gedankengange 
die  Einrichtung  der  Sklaverei  oder  auch  nur  eine  freiheitsfeindliche 
Politik  folgen  könnte.  Dies  wäre  ein  arges  Missverständniss  des 
ursprünglichen  Zwecks,  der  nur  die  Eindämmung  und  nachhaltige 
Hemmung  der  ungerechten  Verletzungen  zum  Gegenstande  hat. 
Allerdings  kann  sich  und  muss  sich  sogar  unter  Umständen  zu 
jeder  noch  so  berechtigten  Rückwirkung  die  Ausschweifung  gesellen; 
aber  diese  vorläufige  üebersehreitung  des  Ziels  findet  im  weitern 
und  namentlich  im  geschichtlichen  Verlauf  der  moralischen  Dinge 
schliesslich  ihre  Abhülfe. 

Es  ist  fa^t  selbstverständlich,  dass  nur  der  Einzelne  der  Träger 
moralischer  Verantwortlichkeit  sein  kann.  Hinter  der  Gruppe  darf 
sich  das  doch  allein  bewusste  und  daher  auch  allein  zurechnungs- 
fähige Individuum  nicht  verstecken  oder  sich  mit  einem  andern 
Willen    decken   wollen.     Die   blind   anerkannte   Autorität  hebt  alle 


—     218    — 

selbständige  Moralität  auf.  Das  blosse  Werkzeug,  welches  seinen 
Willen  veräussert .  hat ,  ist  eine  entmenschte  Maschine,  die,  da  sie 
selbst  in  der  Hauptsache  nicht  zurechnungsfähig  sein  will,  auch 
sonst  keinen  Anspruch  mehr  hat,  als  Träger  eines  freien  Willens 
geachtet  zu  werden.  Ein  solches  Werkzeug  werde  ich  gleich  jedem 
andern  Dinge  zerschmettern,  wo  es  mir  schädigend  und  verletzend 
in  meine  Bahn  gestossen  wird.  In  einer  weniger  schroffen  Art  tritt 
die  Verschleierung  der  natürlichen  individuellen  Verantwortlichkeit 
durch  die  geheimen  und  hiemit  anonymen  Collectivurtheile  und  Col- 
lectivhandluugen  von  Collegien  oder  sonstigen  Behördeneinrichtungen 
hervor,  die  den  persönlichen  Antheil  eines  jeden  Mitglieds  maskiren. 
In  dieser  Richtung  fehlt  noch  viel  daran,  dass  die  Ursachen  der 
Demoralisation,  die  in  der  Unterdrückung  oder  Schwächung  der 
Einzelverantwortlichkeit  liegen,  aus  allen  Richtungen  des  morahschen 
Gemeinlebens  verschwinden. 

Wir  gründen  die  Verantwortlichkeit  auf  die  Freiheit,  die  uns 
jedoch  nichts  weiter  bedeutet,  als  die  Empfänglichkeit  für  bewusste 
Beweggrunde  nach  Maassgabe  des  natürlichen  und  erworbenen  Ver- 
standes. Alle  solche  Beweggründe  wirken  trotz  der  Wahrnehmung 
des  mögiichea  Gegensatzes  in  den  Handlungen  mit  unausweichlicher 
Naturgesetzmässigkeit ;  aber  grade  auf  diese  unumgängliche  Nöthi- 
g*ung  zählen  wir,  indem  wir  die  moraliscben  Hebel  ansetzen.  Stände 
die  sogenannte  Willkür  nicht  selbst  unter  Naturgesetzen,  was  übri- 
gens an  sich  gar  nicht  anders  denkbar  ist,  so  würde  der  geeignete 
Gegenstand  zur  moralischen  Einwirkung  fehlen,  und  alle  ideellen 
Vorkehrungen  würden  unzuverlässig  sein.  Wie  nun  aber  in  dieser 
Freiheit  die  moralische  Verantwortlichkeit  ihren  Grund  hat,  so  findet 
sie  darin  auch  ihre  Schranke.  Wo  thatsächlich  eine  übermächtige 
Gewalt  den  Widerwilligen  zwingt,  da  kann  die  blosse  Privatmorai, 
die  sich  an  den  aus  dem^Zusammenhang  gleichsam  hinausgedachten 
Einzelnen  wendet,  nichts  Erhebliches  ausrichten,  imd  die  Personnn 
können  nur  für  die  allgemeine  Duldung  der  moralisch  schädlichen 
Einrichtungen,  aber  nicht  für  unumgängliche  Specialhandlungen  im 
Rahmen  dieser  Einrichtungen  verantwortlich  gemacht  werden. 


—     219     — 

Z^^eites   Oapitel- 

Natürliche  Auffassung  des  Rechts. 

Tn  einem  sehr  weiten  Sinne  versteht  man  unter  Recht  einen 
Inbegriff  von  thatsächhehen  Zuständen,  in  denen  namentlich  die 
Einrichtungen  und  Regeln  der  Unterdrückung  des  Menschen  durch 
den  Menschen  eine  Rolle  spielen.  Die  Rechtsgelehrtheit,  welche, 
insofern  sie  an  Stelle  w:urzelhafter  Wissenschaft  autoritäre  Reste  zer- 
splitterter und  oberflächlich  zusammengepfuschter  Urkundentrüminer 
als  eine  Art  Rechtsbibel  gelten  lässt,  bisher  nur  als  Halbwissenschaft 
bestanden  hat,  —  diese,  wenn  auch  in  einigen  Richtungen  noch  so 
„elegante"  Jurisprudenz  besitzt  überhaupt  gar  kein  Unterscheidungs- 
merkmal für  ursprüngliches  Recht  und  Unrecht.  Ihr  Gegenstand  ist 
daher  nicht  sowohl  die  Gerechtigkeit  im  strengen  Sinne,  als  vielmehr 
das  Recht  in  jener  gleichgültigen  doppelten  Bedeutung  des  Worts, 
in  welcher  es  auch  das  gegenwärtige  geschichtliche  Unrecht  mit- 
einschliesst,  ja  zum  grössten  Theil  eine  formelle  und  systematische 
Ordnung  dieses  Unrechts  ist.  Wie  Sitte  zugleich  auch  em  Name 
für  Unsitte,  so  ist  auch  Recht  in  sehr  begreif hcher  Weise  ein  Aus- 
druck für  Unrecht  geworden.  Beide  Seiten  des  Gegensatzes  sind 
durch  ein  indifferent  gewordenes  Wort  verbunden,  welches  blos  die 
Thatsächlichkeit  der  Uebung  oder  des  Zwanges,  ausspricht,  aber 
übrigens  darüber  erhaben  bleibt,  ob  es  das  Verbrechen  oder  die 
Gerechtigkeit  sei,  was  sich  in  Einrichtungen,  Verhältnissen  oder 
•  vereinzelten ,  durch  die  Gewalt  gedeckten  Handlungen  verwirl'Jicht 
habe.  Wenn  trotzdem  eine  Unterscheidung  zwischen  Recht  und  Un- 
recht maassgebend  bleibt,  so  ist  sie  nur  secundär  und  autoritär.  Sie 
reicht  nicht  bis  an  die  selbständigen  Principien,  sondern  bezieht  sieh 
.  nur  auf  den  Gegensatz  der  von  der  herrschenden  Gewalt  gewollten 
allgemeinen  Satzungen  und  der  Einzelfälle,  in  denen  die  Abweichun- 
gen von  der  betreffenden  Regelung  wirklich  verfolgt  werden  sollen. 
Es  ist  also  in  der  sogenannten  Justiz  keine  wirklich  individuell  sou- 
veraine  Vertretung  der  Gerechtic'keit  mit  absoluter  Verantwortlichkeit 
der  betheiligten  Personen,  sondern  nur  eine  abgeleitete  Gewalt  vor- 
handen, bei  welcher  das  eigentliche  Gerechtigkeitsbewusstsein  im 
günstigsten  Falle  nur   eine  schwache  Nebenbethätigung,  ja  oft  nur 


—     220     — 

eiae  Geltendmachung  auf  Umwegen  durch  Hinwegsetzung  über  die 
Satzungen  und  Gesetze  erfahren  kann. 

Positiv  muss  alles  wirklich  Gerechte,  so  gut  wie  die  gemeine, 
Recht  und  Unrecht  einschliessende  Ordnung  und  Unordnung,  eben- 
falls sein,  und  es  ist  daher  eine  Unterscheidung  zwischen  dem  na- 
türlichen und  dem  positiven  Recht  nicht  in  dem  Sinne  zuzulassen, 
dass  dem  Naturrecht  die  müssige  Stellung  zufalle,  ein  Inbegriff 
schätzbarer,  aber  im  einzelnen  Urtheilsfall  unanwendbarer  Grundsätze 
zu  bleiben.  Die  natürlichen  Ausgangspunkte  des  Rechts  sind  aller- 
dings über  aller  Geschichte  gelegen  und  enthalten,  insoweit  sie  den 
Charakter  der  Allgemeinheit  haben,  nicht  die  besondem  Bestand- 
theile,  zu  denen  ihre  positiven  Wirkungen  fuhren.  Etwas  Aehnliches 
findet  sich  aber  auch  "bei  den  Folgerungen  und  Anwendungen  aus 
dem  Gebiet  des  Mathematischen  und  Mechanischen,  und  wir  dürfen 
daher  ein  natürliches  und  positives  Recht  nicht  anders  trennen ,  als 
wir  etwa  auch  eine  reine  Mathematik  von  den  Anwendungen  und 
eine  rationelle  Mechanik  von  den  besondern  Bethätigungen  in  der 
technischen  und  Maschinenmechanik  abtheilen.  Die  Wahrheiten  der 
Mathematik  und  rationellen  Mechanik  behalten  ihre  Gültigkeit,  wie 
zufällig,  vereinzelt  und  zusammengesetzt  auch  ein  positiv  vorliegender 
Fall  sein  möge.  ,  In  demselben  Sinn  behalten  die  Grundgesetze  des 
gerechten  Wollens  ihre  maassgebende  Bedeutung,  mögen  sie  in  der 
Gestaltung  der  Geschichte  für  rechtschaffende  Gesammtthaten,  oder 
in  der  Gesetzgebung,  oder  schliesslich  im  einzehieu  Urtheilsfall  in 
Frage  kommen.  Verhielte  es  sich  anders,  so  müsste  man  auch 
zwischen  einer  natürlichen  und  einer  positiven  Mathematik  eine  ent- 
fremdende Kluft  finden  können.  Wir  werden  daher  am  besten  thun, 
den  ganzen  Gegensatz  zwischen  natürlichem  und  positivem  Recht  in 
denjenigen  der  principiellen  Allgemeinheit  und  derspeciellen,  theils  rich- 
tigen theils  falschen  Anwendung  zu  verwandeln.  Alsdann  giebt  es  nur 
eine  einheitliche  Gerechtigkeit  mit  bestimmten  einfachen  Grundsätzen ; 
aber  die  Bethätigung  derselben  ist,  gleich  derjenigen  des  Verstandes  in 
der  Wissenshervorbriugung ,  nicht  nur  dem  Irrthum  sondern  auch 
der  Hemmung  und  Unterdrückung  ausgesetzt.  Hieraus  entspringt 
jene  ebenso  veränderliche  als  positive  Maniiichfaltigkeit ,  die  unter 
dem  Namen  des  Rechts  zugleich  eine  Welt  voll  Unrecht  darstellt. 

Die  Wurzeln  der  Moral  und  des  Rechts  sind  dieselben,  soweit 
es  sich  um  den  Begriff  der  Gerechtigkeit  handelt.  Wo  sich  beide 
Gebiete   im  Gegenstand   begegnen,   da  trennen  sie  sich   in   der  Art 


—     221     — 

der  Aufrechterhaltung  ihrer  Gesetze.  In  der  That  ist  es  ein  wichtiger 
Gesichtspunkt,  diejenigen  Nothwendigkeiten  auszuscheiden,  zu  deren 
^Sicherung  man  den  körperlichen  Zwang  als  letztes  Mittel  in  An- 
wefidung  bringen  muss.  Auf  diese  Weise  wird  das  Recht  als  ein 
mit  Zwang  verbundenes  Gebiet  von  einer  blos  dem  Gewissen,  d.  h. 
den  Bewusstseinsregungen  anheimfallenden  Moral  ausgesondert.  In- 
dessen ist  dieses  Merkmal  in  der  Wirklichkeit  sehr  verschiebbar,  da 
das,  was  der  Sitte  angehört,  zu  Zwangsrecht  und  umgekehrt  das, 
was  finiher  erzwingbar  sein  sollte,  dem  Einzelbewusstsein  und  den 
Rückwirkungen  der  moralischen  öffentlichen  Meinung  überlassen 
werden  kann.  Trotzdem  bleibt  aber  ein  fester  Kern  von  Verhält- 
nissen, in  denen  das  Zurückgreifen  auf  die  Gewalt  schon  abgesehen 
von  jedem  Gemeinwesen,  nämlich  für  zwei  vereinzelte  Personen  als 
unumgängliches  Ausgleichungs-  oder  Sicherungsmittel  ableitbar  ist. 
Wo  nämlich  das  ursprüngliche  Unrecht  selbst  rohe  Gewalt  einschliesst 
oder  der  ungerechte  Theil  sich  nicht  gutwillig  zur  Ausgleichung  der 
Störung  herbeilässt,  da  sieht  sich  der  andere  Theil  auf  das  Mittel 
des  physischen  Zwanges  augewiesen,  und  hierüber  wird  auch  ein 
völlig  ideales  Gemeinwesen,  soweit  seine  moralische  Kraft  auch 
reichen  möge,  nicht  erhaben  sein,  wenn  auch  schon  die  blosse  Aus- 
sicht auf  den  gewissen  Zwang  der  wirklichen  Anwendung  desselben 
vielfach  vorbeugen  mag.  Ein  System  eigentlicher  Rechtspflege  ist 
mithin  ohne  letzte  Executivmittel  nicht  denkbar,  während  die  blosse 
Gewissensmoral  höchstens  durch  Kundgebungen  der  öffentlichen  Üeber- 
zeiigung  und  durch  ebenfalls  nur  moralische  Repressalien  unterstützt 
werden  kann.  Man  übersehe  jedoch  nicht,  wie  es  im  Interesse  der 
Freiheit  liegt,  dass  nicht  allzuviel  dem  körperlichen  Zwang  anheim- 
falle. Dieser  Zwang  kommt  nur  durch  das  Unrecht  in  die  Welt 
und  sollte  auch  nur  gegen  dasselbe  nach  Maassgabe  des  gegenseitigen 
natürlichen  Verhaltens  von  zwei  als  völlig  frei  vorausgesetzten  Men- 
schen statthaben. 

2.  Der  geschichtliche  Gang  der  Dinge  und  die  ihm  entsprechen  de 
Rechtsgelehrsamkeit  hat  zwischen  Privatrecht  und  öffentlichem  Recht 
eine  gewaltige  Kluft  gerissen,  welche  mit  den  natürlich  und  princi- 
piell  zulässigen  Trennungen  nicht  gehörig  vereinbar  ist.  Allerdings 
mögen  Eigenthum,  Ehe  und  Erbgang,  soweit  in  den  einschlagenden 
Verhältnissen  nur  der  auf  beiden  Seiten  angeblich  in  gutem  Glauben 
geführte  Rechtsstreit  in  Frage  kommen  soll,  ein  Bereich  für  sich 
bilden  und  dieser  Inbegriff  immerhin  Privatrecht  heissen.    Die  ausser- 


—     222     - 

dem  herkömmliche  Beneunuug  als  civiles  oder  bürgerliches  Recht 
erinnert  aber  daran,  dass  es  auch  allenfalls  das  nn bürgerliche  ge- 
nannt werden  könnte;  denn  der  eigentliche  Bürger  war  schon  mit 
dem  Römischen  Kaiserthum  und  vollends  mit  den  compilatorischen 
Pandekten  zu  Grabe  getragen.  Er  hat  sich  auch  nie  wieder  sonder- 
lich angefunden,  so  dass  es  nicht  überraschen  kann,  wenn  das  Schwer- 
gewicht der  heutigen  Rechtsgeschultheit  in  die  Pandektistik 'fallt. 
Alles  Uebrige  gilt  verhältnissmässig  als  Nebensache,  mid  dieser  Um- 
stand stimmt  überdies  sehr  gut  mit  dem  vorherrschenden  Bourgeois- 
charakter der  jüngsten  Zeit  zusammen.  Von  der  ganzen  gericht- 
lichen Zurüstung  wird  der  bei  weitem  grösste  Theil  durch  die  so- 
genannten bürgerlichen  Rechtsstreitigkeiteu  oder  durch  die  freiwillige 
Gerichtsbarkeit  in  Anspruch  genommen.  Hierauf  werden  die  meisten 
Kpsten  verwendet,  und  hier  allein  giebt  es  eine,  wenn  auch  ver- 
künstelte, so  doch  ernsthaft  mit  einigen  Zügen  von  Wissenschaft- 
lichkeit untermischte  Theorie.  Die  Rechte  an  Sachen,  die  Obliga- 
tionen und  speciell  die  verschiedenen  Vertragsgebilde  sowie  überhaupt 
alle  ökonomisch  erheblichen  Ansprüche  sind  hier  die  Gegenstände, 
durch  welche  auch  die  Verhältnisse  des  Familien-  und  Erbrechts, 
die  an  sich  selbst  keine  sonderliehe  Bedeutung  haben  würden,  mittel- 
bar einen  materiellen  Interessenwerth  erhalten.  Die  subtilere  Rechts- 
lehre wird  also  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  nur  da  genährt, 
wo  sie  direct  oder  indirect  Vermögensrechte  zum  Gegenstande  hat. 
Im  Römischen  Kaiserreich  war  der  frühere  Staatsbürger  gut  Cäsa- 
ristisch  auf  den  blossen  Privatmann  heruntergekommen;  von  jenem 
war  nichts  als  der  Vermögensherr  und  der  Familienvater  übrig  ge- 
blieben, und  auch  diese  Rollen  bitten  nur  gegen  Seinesgleichen,  also 
wiedciTim  nur  gegen  Privatleute,  eine  ernsthafte  Bedeutung.  Das 
Politische  war  in  der  kaiserlichen  Gewaltaufsaugung  untergegangen, 
und  die  Gunst  der  Willkür  rausste  als  Ersatz  deö  Rechts  hingenom- 
men werden.  Im  Rahmen  solcher  Zustände  erwuchsen  die  classischen 
Juristen,  von  denen  nicht  ein  einziges  Werk  als  ein  unverstümmeltes 
Ganze,  sondern  fast  niu*  nachträgliche  Excerptenweisheit  unter  V(  r- 
mittluug  des  Byzantinismus  auf  uns  gekommen  ist.  Die  so  über- 
lieferte RatiouaHtät  bildet  nun  seit  sieben  Jahrhunderten  von  Neuem 
den  besten  Hausrath,  über  den  die  Rechtsschulen  von  den  Zeiten 
der  Glossatoren  her  verfiigten.  Auch  kann  man  nicht  einmal  ))e- 
haupten,  dass  man  von  jener  Zeit  bis  zur  neuem  historischen  Schule 
de8  19.  Jahrhunderts  entscheidende  Fortschritte  gemacht  hätte.    Mit 


—     223     — 

der  Wisseuscliaftlichkeit  der  Jurisprudenz,  die  so  ziemlich  iu  der 
Civilistik  aufgeht  und  eingeständiich  die  Römer  noch  nicht  wieder 
erreicht  hat,  ist  es  zwar  ^-eschichthch  weit  her,  aber  eben  deswegen 
iu  dem  andern  Sinne  des  Worcs  nicht  weit  her.  Stellt  sich  aber 
die  träge  Stauung  schon  in  der  Privatrechtskunde  heraus,  so  werden 
die  übrigen  Zweige ,  aus  deren  bisheriger  Vernachlässigung  .von  den 
Juristen  selbst  kein  Hehl  gemacht  wird,  nur  äusserst  wenig  aufzu- 
weisen haben,  was  über  grobe  Gemeinvorstellungeu  tind  eine  ent- 
sprechende Routine  sonderlich  hinausreichte.  Die  Verkünstelungen 
und  Verzerrungen,  die  den  vom  Mittelalter  her  auf  die  Neuzeit 
vererbten  Verkehrtheiten  angehören,  haben  sogar  die  gelehrte  Rechtü- 
anschauung  oft  unter  den  Stand  der  gemeinen  Volksbegriffe  sinken 
lassen.  Wu'  dürfen  uns  also  nicht  wundern ,  wenn  sogar  das  nach 
dem  Privatrecht  noch  am  meisten  gepflegte  Crimiualrecht  nicht  nur 
ohne  Compass  geblieben  ist,  sondern  auch  die  leitenden  Sterne  immer 
mehr  aus  den  Augen  verloren  hat.  Die  Verwirrung  der  Grundbegriffe 
ist  hier  init  unserm  Jahrhundert  fortgeschritten,  so  dass  eine  ver- 
standesmässige ,  wenn  auch  einseitig  fehlgreifende  Auffassung,  wie 
sie  durch  Anselm  vou  Feuerbach  im  Anfange  dieses  Jahrhunderts 
vertreten  wurde,  noch  immer  als  eine  besondere  Aufraffung  des  er- 
klärenden Denkens  in  einziger  Auszeichnung  dasteht.  Nun  ist  aber 
das  auf  die  Verbrechen  bezügliche  Recht  in  Wahrheit  der  Schlüssel 
für  das  Verständniss  aller  übrigen  Verhältnisse,  und  auch  der  weitere 
Rahmen  des  öffentlichen  Rechts  kann  nicht  ausgefüllt  werden,  wenn 
jene  Grundlage  nicht  zuvor  geordnet  ist.  Spgar  die  Stellung  und 
Bedeutung  des  Privatrechts ,  welches  man  so  fehlerhaft  isolirt  hat, 
bleibt  unbegriffen,  solange  die  Principien  des  Strafrechts  nicht  iu 
einem  fruchtbaren  Naturboden  Wurzel  gefasst  haben. 

3.  Will  man  bemessen,  wie  das  sogenannte  Kechl  gegen  die 
Gerechtigkeit  Verstössen  könne,  so  muss  man  ein  Beurtheilungsmittel 
haben,  welches  über  alle  zufälligen  Mischungen  der  Thatsachen  und 
der  Geschichte  erhaben  ist.  Der  ausschliessliche  Historismus  ist  hier 
fast  ebenso  unzulänglich,  wie  die  äugen bhckliche  Routine  und  der 
Machtcultus  im  Sinne  der  grade  positiv  gegebenen  Einrichtungen 
irgend  einer  vereinzelten  Gegenwart.  Man  muss  von  den  letzten 
Gründeu.  des*  Criminalrechts  ausgeheu,  um  auf  dieser  Grundlage  dann 
alles  übrige  Recht  positiv  aufbauen  zu  können.  Die  fundamentalsten 
Rechte  sind  diejenigen,  in  denen  nichts  als  die  Verneinung  eines 
ursprünglichen,   nicht   erst  aus  der  Verletzung  einer  Uebereinkunft 


■    —     224    — 

herzuleitenden  Unrechts  enthalten  ist.  Sie  können  unniittelbar  gar 
nicht  aufgefunden  werden,  so  dass  der  Umweg  durch  die  Erkenntniss 
des  Unrechts  sogar  für  ihre  Definition  njaassgebend  werden  muss. 
Die  Erfahrung  des  Unrechts  ist  in  diesem  Gebiet  sogar  die  erste 
praktische  Lehrerin,  und  wenn  auch  eine  Vorwegnahme  im  Gedanken 
für  die  Beurtheilung  von  dem,  was  ungerecht  sein  würde,  zugestanden 
werden  mag,  so  könnte  eine  solche  ideelle  Vorbeurtheilung  doch  gar 
nicht  vorhanden  sein,  wenn  nicht  gleichsam*  ein  Empfindungsbild 
der  voraussichtlichen  Wirkung  einer  verletzenden  Handlung  auch 
schon  ursprünglich  zur  Verfügung  stände. 

Schon  in  unsern  moralischen  Ueberlegungen  haben  wir  jede 
lu'sprünglich  in  feindlicher  Weise  verletzende  Handlung  als  den 
Gegenstand  einer  nothwendigen  Rückwirkung  angesehen.  Diese 
Rückwirkung  äussert  sich  zunächst  innerlich  in  einer  Rückempfin- 
dung, die  wir  auch  Ressentiment  und  Vergeltungsbedürfniss  oder, 
mit  dem  starken,  den  wahren  Naturgrund  entschieden  bezeichnenden 
Wort,  gradezu  Rache  nennen  können.  Die  Verletzung,  welche  ur- 
sprünglich eingetreten,  d.  h.  nicht  selbst  durch  eine  find^^re  zur  Rück- 
wirkung berechtigende  Verletzung  hervorgerufen  ist,  ist  eben  das 
Unrecht  selbst.  Die  ideellen  Begriffe  der  Verletzung  und  des  Un- 
rechts decken  sich,  —  jedoch  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass 
man  unter  Verletzung  einen  Eingriff  in  das  fremde  Willens-  und 
Freiheitsbereich  versteht.  Unter  welchen  Voraussetzungen  nun  Ver- 
letzungen in  diesem  Sinne  statthaben,  ist  an  einzelneu  einfachen 
Grundgestalten  axiomatisch  so  zu  entscheiden,  als  wenn  es  sich  um 
einfache,  eben  wegen  ihrer  Einfachheit  dem  zusammengesetzten  Be- 
weise weder  zugängliche  noch  desselben  bedürftige  Grundwahrheiten 
der  Mathematik  handelte.  Mit  derselben  Nothwendigkeit,  mit  welcher 
aus  der  mechaftischen  Action  die  Reaction  erfolgt,  hat  die  spontane 
und  feindliche  Verletzung  das  Ressentiment  und  hiemit  den  Ver- 
geltungsspom  zum  Ergebniss.  Der  Trieb,  sich  für  die  erlittene  Ver- 
letzung zu  rächen,  ist  eine  offenbar  auch  auf  Selbsterhaltung  hin- 
wirkende Einrichtung  der  Natur.  Der  Versuch  der  Tödtung,  die 
Körperverletzung  oder  die  feindselig  boshafte,  grundlose  und  über- 
müthige  Schmähung  werden,  wenn  man  sich  wiederum  des  Denk- 
schemas von  ausschliessHch  zwei,  übrigens  von  der  soHstigen  Welt 
getrennten  Menschen  bedient,  Voraussetzungen  sein,  unter  'denen  die 
Rache  unfehlbar  wachgerufen  werden  muss.  .Hiebei  ist  die  völlige 
Gleichheit,    aber   noch    kein    einziges    positives   Band   zwischen   den 


—     225     — 

zwei  Personen  maassgebend.  Wir  können  sogar  sagen,  dass  in  dem 
leidenden  Theil  die  Rache  das  erste  affective  Ankündigungs  -  und 
Erkenntnissmittel  des  geschehenen  Unrechts  sei,  und  dass  -sie  gleich 
einem  Messwerkzeug  den  Grad  der  innern  Verletzung  anzeige.  Die 
Racheempfindung  ist  nur  jenes  sonst  so  räthselhafte  Rechtsgefühl 
selbst,  welches  nur  im  Hinblick  auf  eine  Störung  und  Spannung  in 
ursprünglicher  Weise  vorhanden  sein  kann.  Die  Furcht  vor  der 
Rache  kann  nun  einschränkend  auf  die  Handlungen  wirken  und  so 
eine  Art  Naturgarantie  geg^n  das  unrecht  ausmachen;  aber  sie  ist 
offenbar  ein  Beweggrund,  der  nur  als  auf  eine  bereits  vorhandene 
ungerechte  Gesinnung  wirksam  vorausgesetzt  werden  darf.  Die  un- 
mittelbaren Antriebe  zur  Achtung  des  fremden  Seins  bestehen  in  der 
positiven  Richtung  aller  Thätigkeitsreize  auf  die  eigne  Sphäre  und 
auf  die  keiner  von  beiden  Personen  ausschliesslich  angehörige  Natur . 
Wo  die  Rache  in  das  Spiel  kommt,  ist  nicht  mehr  der  normale  oder 
gar  ideale  Zustand  der  unverletzten  und  direct  eingehaltenen  Ge- 
rechtigkeit vorhanden,  sondern  bereits  eine  Störung  eingetreten,  in 
Folge  deren  auf  das  erste  üebel,  rein  äusserlich  und  physisch-  be- 
trachtet, unabwendbar  noch  ein  zweites  üebel,  nämlich  eine  absicht- 
hche  Schadenzufiigung  folgen  muss,  wenn  nicht  das  grössere  geistig  e 
Uebel  des  triumphirenden  Unrechts  und  des  unversöhnten  Rache - 
bedürfnisses  bestehen  bleiben  soll. 

Die  Privatrache  isfc  für  die  Alterthümer  der  Völker  überall  als 
ursprünghche  Keimgestalt  des  Criminalrechts  anzutreffen.  An  die 
wildere  Blutrache,  welche  die  Tödtung  der  Angehörigen  mit  neuen 
Gegentödtungen  beantwortet  und  einen  immer  wieder  angeregten 
und  fortgesetzten  Einzelkrieg  ergiebt,  schliesst  sich  das  sogenannte 
Compositionensystem,  vermöge  dessen  die  Beschwichtigung  der  Rache 
auf  dem  Wege  der  Sühne  und  Entschädigung  gesucht  wird.  Die 
Beilegung  des  Privatzwistes  wird  hier  durch  die  Darbietung  von 
Vermögensstücken  bewirkt;  aber  die  rohen  Tarife,  nach  denen  man 
sich  die  eigne  Körperverletzung  und  die  Tödtung  von  Angehörigen 
hinterher  abkaufen  liess,  dürfen  doch  nicht  übersehen  lassen,  dass 
die  Bereitschaft  zu  einem  ernsthaften  materiellen  Opfer  auch  die 
Gediegenheit  des  veränderten  Willens  und  mithin  eine  wahre  Reue 
und  friedliche  Gesinnung  verbürgen  konnte.  Das  Rachebedürfniss 
schwindet  aber  nicht  nur  durch  eigne  Niederbeugung  und  Schädigung 
des  Verletzers,  sondern  gleicht  sich  auch  dann  aus,  wenn  der  Uebel- 
thäter  selbst  seine  Züchtigung  aufrichtig  übernimmt,   indem  er  sich 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  15 


—     226     — 

durch  das  thatsächliche  Eiugeständniss  der  Schuld  demüthigt  und 
sich  selbst  die  Leistung  einer  Entschädigung  und  Strafe  auferlegt. 
Von  dem  Wort  Sühne  ist  mithin  jede  mystische  Umnebelung  fern- 
zuhalten; denn  die  Sühne  ist  nichts  weiter  als  die  Herstellung  der 
Versöhnung  in  Gesinnung  und  zugehöriger  ausgleichender  That,  also 
eine  Art  der  Befriedigung  der  Rache. 

4.  Auch  in  der  Yollkommensten  Gestalt  kann  das  Criminalrecht 
nichts  Anderes  sein  als  die  öffentliche  Organisation  der  Rache.  Von 
der  wirklichen  Strafrechtspflege  nach  Mkassgabe  der  heutigen  Straf- 
gesetze, Gerichtseinrichtungen  und  Verfahrungsarten  muss  man  sogar 
behaupten,  dass  die  in  ihnen  enthaltene  öffentliche  und  durchaus 
vormundschaffchch  geartete  Organisation  der  Rache  noch  immer  so 
roh  sei,  dass  in  Vergleichung  mit  diesen  Früchten  der  politischen 
Corruption  die  Urzustände  manche  natürliche  Vorzüge  voraushatten. 
Die  Theorie  ist  selbst  in  ihrer  besten  Gestalt  so  haltungslos  geworden, 
dass  man  die  uralten  Vorstellungen  von  der  Wiedervergeltung  und 
den  Maassstab  des  Talionsrechts,  der  Auge  um  Auge  und  Glied  um 
Glied  forderte,  vergleichungsweise  noch  als  ein  Muster  naturwüchsiger 
Logik  ansehen  muss,  dem  gegenüber  sich  die  moderne  Princip-  und 
Strafmaasslosigkeit  wie  ein  Rückschritt  ausnimmt.  Die  uralte  Ver- 
geltungslehre musste  solange  unverstanden  bleiben,  als  nicht  der 
kühne  Schritt  gethan  wurde,  mit  der  Hinweisung  auf  die  natur- 
gesetzliche Rache'  das  Räthsel  aufzulösen  und  hiemit  über  die  un- 
bestimmten Vorstellungen,  sei  es  eines  nebelhaften  Rechtsgefiihls, 
oder  logistischer  Strohableitungen  zu  triumphiren.  Der  sogenannte 
psychologische  Zwang,  unter  welcher  Bezeichnung  der  grosse  Crimi- 
nalist  Feuerbach,  der  Vater  des  Philosophen,  die  Abschreckung  oder, 
mit  andern  Worten,  den  ideellen  Terrorismus  zum  Princip  der  Straf- 
gesetzgebung machte,  ist  von  dem  Gedanken  eigentlicher  Gerechtig- 
keit völlig  losgelöst.  Er  ist  ein  polizeiliches  Princip,  nach  welchem 
gewissen  schädlichen  Handlungen  durch  Androhung  eines  Gegen- 
schadens möglichst  vorgebeugt  werden  soll.  Der  Zweck  ist  hier 
Alles  und  die  mächtige  Ursache,  welche  aus  dem  Naturgnmde  heraus 
die  Gerechtigkeit  verlangt,  ist  Nichts.  Sogar  die^  Ausführung  der 
Drohung  wird  nur  darum  noth wendig,  weil  sonst  die  letztere  zum 
reinen  Popanz  werden  und  das  Gesetz  seine  psychologisch  abhaltende 
Wirkung  verlieren  würde.  Die  Klarheit  dieses  Standpunkts,  die 
nicht  geringer  als  seine  Verfehltheit  ist,  hat  uns  überhaupt  nur  zu 
einer  Einlassung  berechtigt.    A.  v.  Feuerbach  ist  bis  heute  der  her- 


—     227     — 

vorragendste,  am  meisten  philosophisch  denkende  und  am  charakter- 
vollsten reformatorische  unter  den  gelehrten  Criminalisten  des  19.  Jahr- 
hunderts gebliehen.  Seine  philosophische  Bildung  hatte  vorherrschend 
eine  Kantische  Färbung  und  hielt  sich  von  den  Wüstheiten  und 
ebenso  läppischen  als  windigen  Thorheiten  der  nächsten  Epigonen, 
also  namentlich  eines  Fichte  und  Schelling,  in  charaktervoller  Weise 
gehörig  entfernt.  Grade  aber  Angesichts  des  gediegenen  und  frei- 
heitlichen, mit  gesundem  Verstand  ausgerüsteten  Strebens  des  theo- 
retisch und  praktisch  hochberühmten  und  noch  immer  seine  Nach- 
folger überragenden  Criminalisten  müssen  wir  die  moderne  Abirrung 
in  das  rein  Relative  der  Abschreckungstheorie  hervorheben.  Freilich 
giebt  es  Satzungen  genug,  bei  denen  die  Androhung  des  üebels, 
wie  namentlich  in  den  blossen  Polizeistrafen,  mit  der  ursprünglichen 
Gerechtigkeit  nichts  zu  schaffen  hat;  aber  eben  in  der  Einerleisetzung 
der  eigentlich'cn  Gerechtigkeitsstrafe  und  des  blossen  Hinderungs- 
mittels liegt  die  Vermischung  von  zwei  völlig  ungleichartigen  Dingen. 
Jedes  in  Aussicht  gestellte  Uebel  wird  zu  einem  Abschreckungs- 
mittel, aber  nicht  jede  Abschreckung  braucht  ein  Act  der  Gerechtig- 
keit zu  sein.  Auch  die  Natur  hat  ihr  Absehreckungssystem,  indem 
sie  die  Furcht  vor  der  Rache  ins  Spiel  setzt.  Die  Abschreckung 
verbleibt  hier  aber  im  Rahmen  der  Gerechtigkeitsbeziehungen  und 
ist  überdies  nicht  der  letzte  Grund  der  Einrichtung.  Die  Rache  be- 
thätigt  sich  wahrhch  nicht,  um  im  Allgemeinen  und  für  künftige 
Fälle  neuen  Verletzungen  vorzubeugen,  ja  auch  nicht  einmal  blos, 
um  Schaden  und  Stönmg  auszugleichen,  sondern  um  den  beeinträch- 
tigten Willen  und  dessen  gehörige  Geltung  wiederherzustellen.  Es 
ist  das  Interesse  der  unversehrten  Freiheit,  welches  gegen  die  Ver- 
letzung reagirt  und  einen  Zustand  herzustellen  sucht,  der  zwar  keine 
Unversehrtheit  mein*  sein  kann,  aber  doch  eine  annähernd  gleich- 
werthige  Lage  durch  die  entsprechende  Herabdrückung  des  fremden, 
über  seine  Schranke  hinausgegangenen  Willens  werden  muss.  Ja  um 
die  Gleichheit  wiederherzustellen,  genügt  die  Zufägung  des  näm- 
lichen Üebels  oder  eines  der  Grösse  nach  übereinstimmenden  Betrages 
keineswegs.  Die  Natur  würde  mit  ihrer  Racheinstitution  eine  Stüm- 
perin geblieben  sein,  wenn  sie  zu  keinem  andern  Ergebniss  antriebe, 
als  dass  zwei  Menschen  die  gleiche  Schädigung  aufeuweisen  hätten, 
der  eine  mit  Unrecht,  der  andere  mit  Recht.  So  bomirt  wie  die 
jüdische  Talionslogik  von  Auge  um  Auge  und  Zahn  um  Zahn  ist 
die  Natur   glücklicherweise   nicht.     Die  Rache   überschreitet  regel- 

15* 


—     228     — 

massig  den  äusserlichen  Betrag  des  unrechtmässig  zugefügten  Üebels, 
und  anstatt  diese  Steigerung  sofort  als  eine  Ausschweifung,  zu  der 
sie  allerdings  werden  kann,  der  Rohheit  zu  bezüchtigen,  sollte  man 
lieber  erwägen,  dass  erst  mit  einem  üeberschuss  der  äusserlichen 
Rückwirkung  die  Ungerechtigkeit  als  solche  wirklich  betroffen  wird. 
Es  handelt  sich  also  hier  um  tiefere  und  feinere  Triebkräfte,  als  ein 
willkürlicher  Terrorismus  sein  kann,  der  die  wurzelhafte  Gerechtig- 
keit der  Natur  aus  dem  Auge  verloren  und  vermeintliche  Staats- 
zwecke, die  sich  noch  erst  mit  dem  Naturgrunde  auseinanderzusetzen 
oder  sonst  abzuleiten  haben,  als  selbstverständHch  zum  rein  polizei- 
hchen  Leitfaden  nimmt. 

5.  Zur  Entwicklung  der  principiellen  Rechtsbegriffe  bedürfen 
wir  nur  das  gänzlich  einfache  und  elementare  Yerhältniss  von  zwei 
Menschen.  Auch  die  Bedingungen,  unter  denen  berechtigte  Gewalt 
und  mithin  der  Vollzug  der  Naturgerechtigkeit  oder-  eine  andere, 
nämlich  versöhnende  Ausgleichung  eintreten  kann,  sind  mit  diesem 
Schema  vollständig  gegeben.  Auch  sieht  man  daran  leicht,  ein  wie 
zufälliges  Ding  die  thatsächhche  Verwirklichung  der  Gerechtigkeit 
bleiben  müsse;  denn  die  üebergewalt  kann  nicht  blos,  sondern  wird 
sogar  meistens  auf  der  Seite  des  Unrechts  sein,  weil  ja  eben  die 
Uebermacht  es  ist,  die  am  ehesten  die  Vergewaltigung  und  den 
üebermuth  mit  sich  bringt.  Ist  aber,  wie  wir  ursprünglich  anzu- 
nehmen haben,  die  Gleichheit  der  Kräfte  und  Mittel  das  Gewöhn- 
liche, so  sind  die  Entscheidungen  den  Zufällen  der  mit  Gewalt  und 
List  geführten  Kämpfe  anheimgegeben.  Die  blosse  Berufung  'auf  die 
Macht  wird  mithin  die  eigentliche  Gerechtigkeit  wenig  sichern,  die 
offenbar  ihre  beste  Stütze  in  der  wohlgesinnten  Verständigung  suchen 
muss  und  der  reinen  Bosheit  gegenüber  unausweichlich  ein  Würfel- 
spiel bleibt. 

Vermehren  wir  dagegen  die  Anzahl  der  in  Frage  kommenden 
Personen  durch  solche,  welche  an  dem  einzelnen  Fall  gar  nicht  oder 
möglichst  wenig  als  Partei,  übrigens  aber  im  Allgemeinen  und  als 
mögliche  Gegenstände  eines  ähnlichen  Unrechts  dabei  betheiligt  sind, 
dass  die  Rechte  geschützt  und  die  Verletzungen  ausgeglichen  werden, 
so  ergiebt  sich  ein  Beistand,  der  auch  den  Schwächern  sichern  mag. 
Nicht  blos  die  Rückempfindung,  sondern  auch  deren  Fortpflanzung 
auf  Andere,  also  das  abgeleitete  Ressentiment,  welches  dadurch  ent- 
steht, dass  sich  ein  sonst  Unbetheiligter  in  die  Lage  des  Verletzten 
unwillkürlich  hineindenkt,   beginnt  alsdann  seine  Rolle  zu  spielen. 


—     229     — 

Die  volle  Wirksamkeit  niclit  uur  einer  grösseren  Macht,  sondern 
auch  einer  parteiloseren  Auffassung  wird  aber  erst  durch  die  Gegen- 
seitigkeit des  auf  den  fraglichen  Zweck  gerichteten  Zusammenwirkens 
und  einer  hiezu  eingegangenen  Verbindung  von  Jedem  mit  Jedem 
zu  Wege  gebracht.  Die  gesellige  VereinigTing  vertritt  alsdann  das 
allgemeine  collective  Interesse  an  der  Ahndung  der  Verletzung.  Sie 
mag  als  Ganzes  agiren  oder  besondere  Personen  als  Organe  beauf- 
tragen, —  in  jedem  Falle  wird  sie  nichts  weiter  thun  können,  als 
die  individuelle  Rache  des  Einzelnen  oder  der  mitbetroffenen  Familien- 
gruppe in  eine  Öffenthche  Rache  verwandeln.  Auch  die  Einzeleinsicht 
wird  hiedurch  in  der  Gesammteinsicht  erweitert,  so  dass  nicht  blos 
das  Wollen  sondern  auch  das  Wissen  eine  Sichtung  und  Berichtigimg 
erfährt.  Ausnahmsweise  mag  auch  Beides  eine  falsche  Beeinträchti- 
gung erleiden;  aber  die  Regel  bleibt  doch,  dass  unter  übrigens 
gleichen  Umständen  die  Betheiligung  einer  grossem  Zahl  zur  Ga- 
rantie einer  bessern  Beurtheilung  und  Ausführung  werde.  Die  indi- 
viduelle Rache  ist  etwas  sehr  Rohes,  und  noch  roher  ist  oft  das 
Ürtheilsvermögen,  welches  den  Affect  ins  Spiel  setzt.  Ausschliesslich 
aus  diesem  Grunde  ist  die  Selbsthülfe  im  Allgemeinen  etwas  Un- 
ciyihsirtes,  wie  uns  die  unmittelbare  Volksjustiz  noch  heute  inmitten 
der  entwickeltsten  Cultur  lehren  kann. 

An  die  Stelle  der  criminellen  Selbsthülfe,  welche  der  Privat- 
rache einen  unmittelbaren  Ausdruck  giebt,  darf  rationeller  Weise 
nur  die  auf  eine  gegenseitige  Verbindung  gegründete  imd  in  einem 
ordenthchen  Verfahren  verkörperte  sowie  durch  den  Willen  der  Ver- 
bundenen vollstreckte  Rache  treten.  Das  zufällige  Beispringen  macht 
den  Helfer  zur  Partei  oder  wird  nm'  ausnahmsweise  eine  eigentliche 
Gerechtigkeit  vorstellen.  Dagegen  wird  die  Auferlegung  von  Zwang 
durch  einen  Dritten,  der  allein  mit  seinen  Mitteln  hiezu  mächtig 
genug  ist,  weiter  nichts  als  eine  Unterwerfung  ergeben,  welche  zwar 
Frieden,  aber  auch  Sklaverei  bringt  und  nur  im  Rahmen  und  um 
den  Preis  dieser  Sklaverei  willkürUch  und  theilweise  einige  Aus- 
gleichungen bewerkstelligen  wird.  Diese  von  Hobbes  verherrlichte 
Manier  ist  in  weitem  Umfang  freilich  der  thatsächliche  Weg  der 
Geschichte  gewesen,  insoweit  nämlich  nicht  freie  Association,  sondern 
das  Anheimfallen  an  eine  stärkere  Gewalt  vorzugsweise  den  Kitt  der 
politischen  Gebilde  gehefert  hat.  Die  allgemein  menschliche  Souve- 
raiiietät  schliesst  auch  diejenige  der  Rache  ein,  so  dass  der  von  der 
breiten  Grundlage  abgelöste  Anspruch  auf  ein  sogenanntes  Schwert 


—     230     — 

der  Gerechtigkeit  eine  Anmaassung  ist,  die  dadurch  ihren  Charakter 
nicht  verlieren  konnte,  dass  sie  weltgeschichtHche  Dimensionen  an- 
nahm. Allerdings  ist  Jeder,  aber  eben  danim  Niemand  ausschliess- 
lich bei  der  Wahrnehmung  der  Gerechtigkeit  von  Natur  betheiligt. 
Im  gelindesten  Falle  ist  es  eine  unzulässige  Vormundschaft,  wenn 
ein  Mensch  oder  eine  Gruppe  von  Menschen  sich  herausnimmt,  aus 
selbsteignem  Mandat  für  Frieden  und  Recht  Anderer  sorgen  zu 
wollen.  Diese  Usurpatoren  setzen  sich  damit  in  ein  von  Natur  feind- 
liches. Verhältniss  gegen  diejenigen,  denen  sie  ihre  Herrschaft  auf- 
zwingen, und  wenn  auch  derartige  Staatenbildungen  vermöge  des 
reinen  Mechanismus  der  Gewalt  f ortexistiren ,  so  fehlt  es  doch  zwi- 
schen den  zwei  Hauptstücken,  nämlich  zwischen  dem  herrschenden 
und  dem  beherrschten  Theil,  eben  selbst  an  dem  verpflichtenden 
Bande  der  Gerechtigkeit.  Im  Gewaltstaat,  den  ich  dem  Gerechtig- 
keitsstaat gegenüberstelle  und  der  nichts  mit  dem  abgelebten  Gegen- 
satze von  einem  sogenannten  Rechtsstaat  und  einem  Polizeistaat  zu 
schaffen  hat,  kann  es  eine,  ihrem  tiefern  Grunde  entsprechende  cri- 
minelle Gerechtigkeit  nur  in  sehr  precärer  und  äusserst  unvollkom- 
mener Weise  geben.  Ganz  besonders  muss  da,  wo  in  irgend  einer 
Verletzung  die  Regierenden  oder  ihre  Werkzeuge  als  Thäter  oder 
als  Interessenten  betheiligt  sind,  der  Mangel  des  Rechts  oder  seiner 
Garantie  schroff  hervortreten. 

Gegen  die  Lehre,  dass  die  Rache  in  und  über  der  Geschichte 
sowie  in  und  über  dem  Staate  der  Naturgruud  aller  ahndenden  Ge- 
rechtigkeit sei,  giebt  es  für  das  gewöhnliche,  mit  dem  herkömm- 
lichen Ideengange  verwachsene  Bewusstsein  einen  naheliegenden  Ein- 
wand. Die  Rache  ist  selbst  verpönt  d.  h.  unter  Strafe  gestellt.  Wie 
soll  sie  Träger  und  Maass  des  Rechts  sein  können?  Ich  antworte, 
dass  die  Rache  nur  als  Selbsthülfe  und  mithin  nur  in  ihrer  indivi- 
duellen und  brutalen  Gestalt  von  der  civilisirten  Gesellschaft  aus- 
geschlossen wird,  so  dass  sie  mit  ihrer  höheren,  verallgemeinerten 
Form  in  Couflict  geräth.  In  beiderlei  Gestalt  wird  das  Vergeltungs- 
bedürfniss  au  sich  selbst  anerkannt;  aber  die  öffentliche  und  geregelte 
Rache  nimmt  für  sich  die  ausschliessliche  Bethätigung  in  Anspruch. 
Unter  Umständen  kann  diese  Ausschliesslichkeit  sogar  den  Charakter 
eines  gehässigen  Monopols  annehmen,  und  eine  solche  von  einem 
Gewaltherm  monopolisirte  Rache  oder  mindestens  eine  starke  Vor- 
mundschaftlichkeit  in  der  öffentlichen  Verfolgung  der  Verletzungen 
ist   eine   Eigenschaft   des    Gewaltstaats,    während    in    einem    freien 


—     231     — 

Vereinsstaafc,  der  auf  gleiclier  Vergesellschaftung  beruht,  die  Crimi- 
nah-echtspflege  sich  nie  ernsthaft  über  die  individuelle  Initiative 
hinwegsetzen  darf.  Stets  ist  es  die  verletzte  Person,  welche  am 
innigsten  an  der  Ahndung  betheiligt  ist,  und  das  sogenannte  öffent- 
liche Interesse  kann  erst  in  zweiter  Linie  und  nur  als  Yerallgemei- 
nerung  der  natürlichen  individuellen  Bestrebung  in  Anschlag  kommen. 
(j.  Die  Rechtsblasirtheit,  die  aus  den  Verwirrungen  der  Straf- 
rechtsbegriffe und  aus  den  Untermischungen  der  sogenannten  Justiz 
mit  der  willkürlichsten  Gewalt  hervorgeht,  kann  der  Compass,  der 
durch  meine  Rachelehre  construirt  ist,  wieder  zu  einer  regsamen 
Orientirung  und,  wo  noch  nicht  Alles  abgestumpft,  versumpft  oder 
gar  verfault  war,  auch  wieder  zu  einiger  Herzensfrische  verhelfen. 
Man  kann  vermöge  dieser  tiefern  Einsicht  Gegenden  erreichen,  in 
denen  man  sonst  dem  Schiff  keine  feste  Richtung  zu  geben  wusste. 
Die  nicht  blos  örtlich  und  zeitlich,  sondern  auch  in  Ständen  oder 
Classen  befangene,  der  Verkehrtheit  des  Wollens  und  den  Abirrungen 
des  Wissens  in  der  Gesetzgebung,  in  der  Gelehrtendoctrin  und  in 
der  Gerichtspraxis  mannichfaltig  ausgesetzte,  überdies  mit  einseitiger 
Gewalt  gemischte  Rechtspflege  kann  selbst  nur  an  einem  über  diese 
historischen  Beschränkungen  erhabenen  Rechtsprincip  gemessen  und 
nur  auf  Grund  eines  solchen  Princips  zur  Rechenschaft  gezogen 
werden.  Nicht  nur  die  Gesetzgebung  selbst  wird  aus  dieser  Quelle 
schöpfen,  sondern  auch  die  Rechte  zur  Gesetzgebung  sowie  überhaupt 
die  Vertheilung  der  politischen  Befugnisse  unterliegt  dieser  höchsten 
principiellen  Entscheidungsart.  Das  einzige  wahrhaft  Souveraine  ist 
alsdann  der  einzelne  Mensch,  der  mit  seinem  natürlichen  Rechts- 
bewusstsein  Partei  zu  ergreifen  und  für  das  als  Recht  Gewollte  und 
Erkannte  thätig  einzutreten  hat.  Zwischen  Völkern  und  Völkern 
liegt  die  Noth wendigkeit  einer  natürlichen  und  principiellen,  also 
nicht  autoritären  und  nicht  blos  secundären  Ableitung  auf  der  Hand. 
Hier  kann  der  falsche  Positivismus  seine  Gebrechlichkeit  fast  gar 
nicht  verschleiern.  Die  Rache  ist  hier  in  der  That  ein  recht  sicht- 
bares Gerechtigkeitsprincip ,  soweit  überhaupt  das  ganze  Spiel  der 
Völkerkriege  noch  ein  anderes  Element  als  doppelseitige  Raub-  und 
Unteijochungssucht  aufzuweisen  hat.  Die  Gerechtigkeit  oder  Un- 
gerechtigkeit der  Innern  Umwälzungen  und  die  gegenseitigen  Ver- 
fahrungsarten  im  Classen  kämpf  müssen  ebenfalls  auf  den  Naturgrund 
zurückgeführt  und  hienach  beurtheilt  werden.  Andernfalls  dürfte  die 
lächerliche  Figur  von  einem  Recht  des  Siegers,  als  einer  Variante 


—     232     — 

des  von  Hugo  Grotius  so  geliebten  Recht  des  Stärkeren,  das  stupide 
Ergebniss  sein,  und  nur  der  Triumphirende,  sei  er  nun  Revolutionär, 
Reactionär  oder  Staatsstreichuntemehmer,  würde  durch  die  blosse 
Thatsache  des  Gelingens  Recht  behalten.  Was. er  aber  in  der  That 
behält  oder  erringt,  ist  nur  die  Macht  und  die  Verfügung  über  die 
äusserlichen  Formen  und  Werkzeuge  der  vorhandenen  oder  einer  neu 
eingesetzten,  in  der  Hauptsache  indifferenten  und  der  jeweiligen 
Staatsmacht  folgenden  Rechtspflege.  Ueber  die  Gerechtigkeit  wird 
durch  den  Erfolg  nicht  entschieden,  und  das  wurzelhafte  Rechts- 
gefiihl,  wie  wir  es  ohne  ümnebelung  kennen  gelernt  haben,  wird 
an  sich  selbst  von  den  Zufälligkeiten  der  Gewaltkämpfe  nicht  be- 
rührt. 

Auch  da,  wo  das  bestimmte  positive  Recht  allzu  ungerecht  ist 
oder  arge  Lücken  hat,  pflegt  der  Naturgrund  gelegentlich  wieder 
aufzusteigen  und  das  aufs  Aeusserste  gespannte  Ressentiment  seine 
Urfanction  mitten  in  der  CiviUsation  und  trotz  derselben  gelegent- 
lich wieder  aufzunehmen.  "Diese  Correcturen  sind  gewiss  sehr  be- 
dauerlich; aber  noch  bedauerhcher  und  verwerflicher  sind  die  Üebel- 
stände,  welche  zum  vereinzelten  Durchbrechen  und  zur  individuellen 
Ergänzung  der  geregelten  Rechtsbeschaffung  antreiben.  Nicht  die 
Reste  des  alten  Fehderechts,  nämlich  die  in  der  modernen  Umgebung 
bereits  in  das  Komische  spielenden  Duelle  sind  hier  gemeint,  obwohl 
auch  diese  abgelebte  Form  der  mittelalterlich  romantischen  Processart 
und  aristokratischen  Selbsthülfe  mit  ihrer  dreinschlagenden  Logik 
und  ihrem  Beweis  durch  den  Erfolg  unter  Umständen  dem  natür- 
lichen Racheprincip  dienstbar  werden  mag.  Es  ist  vielmehr  an  die 
verstandesmässige,  zum  Theil  auch  schon  von  J.  J.  Rousseau  ins 
Auge  gefasste  Befriedigung  des  Vergeltungsbedürfaisses  zu  denken, 
welche  den  feindlichen  und  sonst  unerreichbaren  Uebelthäter  auf 
eigne  Hand  mit  einer  Strafe  heimsucht.  Wenn  der  geschundene 
Mensch,  Angesichts  der  Versagung  eines  geregelten  Rechts,  bei  irgend 
einer  Gelegenheit  seinem  Schinder  ein  vergeltendes  Uebel  zufugt,  so 
ist  dies  eine  That  der  Verzweiflung  an  der  sich  als  nichtig  oder 
unzulänglich  erweisenden  Rechtshülfe.  Die  Privatrache,  die  in  den 
Urzuständen  Alles  war  und  in  der  Civilisation  Nichts  sein  soll,  wird 
dann  wieder  zu  Etwas.  Sie  steigt  aus  dem  Untergründe  gleichsam 
gespenstisch  wieder  auf,  um  daran  zu  erinnern,  dass  es  eine  tiefer 
wurzelnde  Macht  giebt,  als  die  willkürlichen  Einschränkungen  und 
zufälligen  Voreuthaltungen  des  Rechts.    Den  Selbsträcher  wird  viel- 


—     233     — 

leicht  die  Maschinerie  der  Criminaljustiz  ergreifen  und  sich  ihrer- 
seits' an  ihm,  wie  sichs  positiv  gebührt,  erholen;  denn  hierin  liegt 
das  grausame  Verhängniss  der  lückenhaften  und  unzulänglichen  Civi- 
lisation.  Jedoch  wird  sie  ihn  in  seinem  Gewissen  schwerlich  erreichen 
können,  falls  seine  Rache  wirklich  gegen  eine  unerträgliche  Unbill 
gerichtet  war,  für  welche  das  Justizmonopol  keine  Ausgleichung 
kannte  oder  im  besondern  Fall  aus  Parteilichkeit  vorenthalten  hatte. 
Sicherlich  ist  es  moralisch  besser,  jede  noch  so  begründete  Rache 
einzudämmen  und  dem  Gemeinwesen  ein  Opfer  zu  bringen.  Aber 
das  Maass  kann  so  hoch  steigen,  dass  ein  Verzicht  nicht  mehr  in 
menschlicher  Möglichkeit  liegt.  Wenn  für  die  Ermordung  der  An- 
gehörigen oder  gesundheitvernichtende  Qualen  unter  Umständen 
keine  Ausgleichung  durch  Rechtshülfe  zugänglich  ist,  so  darf  man 
sich  nicht  wundern,  dass  der  Rachetrieb  bestehen  bleibt  und  auch 
wohl  die  Gelegenheit  zur  Bethätigung  wahrnimmt,  ja  bisweilen  ein 
ganzes  Leben  hindurch  auf  allen  Wegen  sucht.  In  Ueber-  und 
Unterordnungsverhältnissen,  vermöge  deren  eine  Kaste  das  Volk  fast 
absolut  befehligt  und  sich  in  ihren  Ausschreitungen  nicht  nur  selbst 
richtet,  sondern,  wie  es  in  dieser  Lage  sehr  natürlich  ist,  von  dem 
Grundsatz  ausgeht,  dass  der  Niedere  schon  als  solcher  nicht  blos 
die  Vermuthung  des  Unrechts  gegen  sich,  sondern  auch  überhaupt 
weniger  Recht  habe,  —  da  wird  selbst  gegen  die  offenbarste  Aus- 
schweifung des  Uebermuths,  geschweige  denn  für  ein  wirklich  gleiches 
Recht  wenig  zu  erreichen  sein.  In  feudalen  und  militairischen  Ver- 
hältnissen starker  Ungleichheit  und  Rechtlosigkeit  wird  sich  das 
natürliche  Recht  des  einzelnen  Menschen  oft  genug  auf  Umwegen 
geltend  machen  und  würde  es  in  noch  zalilreicheren  Fällen,  wenn 
nicht  zu  der  äusserlichen  Unterdrückung  auch  noch  die  innere  geistige 
Umnebelung  des  natürlichen  Wollens  und  Denkens  hinzuträte.  Die 
unnatürliche  Moral,  die  mit  mehr  oder  minder  Aberglauben  versetzt, 
die  Gemüther  von  Jugend  auf  verwirrt  und  ihnen  eine  der  Sklaverei 
entsprechende  Denkweise  einimpft,  lässt  häufig  die  Verzerrung,  Ab- 
stumpfung und  Ohnmacht  des  Rechtsgefühls  zur  zweiten  Natur 
werden  und  selbst  diejenigen  Menschenrechte  vergessen,  in  denen 
schon  die  blossen  Naturregungen  Lehrmeister  sind,  und  die  nicht 
erst  von  der  Aufklänmg  und  Cultur  zum  Bewusstsein  gebracht 
werden. 

7.    Die   Erhebung   über    die  Rache  ist   auch   eine  Erhabenheit 
über  das  geschehene  Unrecht.     Am  besten  stellen  sich  die  mensch- 


—     234     — 

liehen  Angelegenheiten,  wenn  diejenige  Gerechtigkeit,  die  dem  Un- 
recht durch  Einhaltung  des  richtigen  Weges  vorbeugt,  zur  ausschliess- 
lichen Thatsache  wird.  Diese  Gerechtigkeit  besteht  in  der  Enthaltung 
von  Verletzungen,  während  die  ahndende  Gerechtigkeit  die  Verletzung 
nur  durch  neues  wirkliches  Unheil,  d.  h.  durch  eine  Vermehrung 
des  Leidens,  auszugleichen  vermag.  Der  Maassstab  dieser  Aus- 
gleichungen ist  von  Natur  ein  sehr  roher.  Das  Maass  von  Uebel, 
welches  eine  hinreichende  Sühne  d.  h.  Befriedigung  der  Rache  er- 
geben soll,  muss  grösser  als  das  zugefügte  sein  und  auch  namentlich 
die  in  dem  Verbrechen  liegende  Nichtachtung  des  Willens  durch 
einen  gegen  den  Willen  des  Uebelthäters  gerichteten  Zwang  mehr 
als  aufwiegen.  Wo  z.  B.  durch  Entschädigung  die  Herstellung  des 
früheren  Zustandes  möglich  ist,  da  beginnt  die  eigentHche  Strafe 
erst  mit  dem  weiter  verhängten  Uebel,  und  selbst  wenn  dieses  Uebel 
den  ursprünghchen  Betrag  der  Verletzung  erreicht  hat,  muss  noch 
einmal  ein  Schritt  weiter  gegangen  werden,  um  den  bösen  Willen 
als  solchen  zu  treffen.  In  der  That  ist  auch  die  Rache,  die  man 
aber  nicht  mit  blossem  Hass  verwechseln  darf,  dem  als  solchen  das 
Bewusstsein  der  Gerechtigkeit  gar  nicht  beiwohnt,  —  in  der  That 
ist  die  Rache  von  der  Natur  auf  ein  stärkeres  Ausgreifen  angelegt; 
denn  sie  begnügt  sich  nicht  leicht  mit  der  blossen  Zurückgebung 
der  Verletzung  oder  ihres  äusserlichen  Betrages  von  Uebel.  Da  nun 
überhaupt  eine  genauere  Abmessung  durch  das  Gefühl  nicht  ver- 
mittelt werden  kann  und  auch  die  verstandesmässige  Ueberlegung 
nur  den  Stoff  der  Empfindungen  zum  ursprünglichen  Anhaltspunlvt 
hat,  so  wird  es  nicht  zu  vermeiden  sein,  dass  aus  dem  berechtigten 
Mehr  gewöhnlich  ein  Zufiel  werde.  Da  ferner  das  Urtheil  über  die 
ganze  Lage  des  einzelnen  Falles  und  über  das  Maass  der  Rache  auch 
bei  dem  Verletzer  ein  sehr  verschiedenes  sein  kann,  so  wird  die 
Neigung  vorhanden  sein,  sogar  bei  einem  unwillkürlichen  Bewusst- 
sein des  selbstverübten  Unrechts  eine  übermässige  Ausschweifung  in 
der  vergeltenden  That  anzunehmen  und  diesen  Umstand  in  ein  eignes 
Gegenrecht  umzudeuten.  Auch  ist  sicherlich  ein  wirkliches  Zuviel 
eine  neue  Verletzung  von  "Seiten  des  Rächers,  welche  nun  die  ander- 
seitige  Rache  herausfordert.  Auf  diese  Weise  mag  sich  das  Unheil 
derartig  häufen  und  steigern,  dass  von  verhältnissmässig  geriugeij 
Anlässen  her  das  Leben  selbst  in  Frage  kommt.  Hiezu  bedarf  es 
keineswegs  besonderer  Rachsucht,  sondern  nur  des  naturwüchsigen 
oder    von    der  Cultur   noch  gesteigerten   Irrthums  über  das  rechte 


—     235     — 

Maass.  Der  Rachsüchtige  ist  daher  auch  weniger  gerecht,  weil  sich 
bei  ihm  der  an  sich  im  Allgemeinen  gute  Naturtrieb  durch  einen 
Fond  von  ursprünglicher  oder  im  Verkehr  erworbener  Bosheit  ge- 
steigert und  verzerrt  findet.  Aber  auch  abgesehen  von  einer  solchen 
regelwidrigen  Anlage  kommt  die  Rache  stets  sehr  roh  zur  Welt, 
was  sich  nicht  nur  in  den  Urzuständen  der  alten  Völker  und  der 
heutigen  Wilden  sowie  in  der  gemeinen  Artung  der  Selbsthülfe,  son- 
dern fast  noch  mehr  da  zeigfc,  wo  die  Auflösung  absterbender  Rechfcs- 
zustände  den  Einzelnen  und  die  Parteigruppen  mehr  und  mehr  auf 
Selbstschutz  und  Eigenhülfe  anweist.  In  diesen  Verletzungen  und 
Gegen  Verletzungen ,  die  in  allen  Gestalten  mit  und  ohne  Maske  der 
Rechtsscheinheiligkeit,  vermittelst  der  rohesten  Gewalt  wie  vermittelst 
der  Gesetzgebung,  durch  Justiz-  oder  durch  Verwaltungsproceduren, 
auf  dem  Wege  der  sophistischen  Auslegung  oder  durch  nackte  Hin- 
wegsetzung über  die  Rechtsregeln,  durch  begünstigende  Nichtanwen- 
dung oder  durch  gehässige  einseitige,  nur  für  bestimmte  Parteien 
oder  Personen  vorhandene,  in  reine  Verfolgung  ausartende  Anwen- 
dung, kurz  mit  allen  demoralisirenden  und  das  positive  Rechtsver- 
trauen untergrabenden  Mitteln  geübt  werden,  —  in  diesen  Verletzun- 
gen und  Gegenverletzungen  muss  die  Rechtsrohheit  und  Rechtsbruta- 
lität unvermeidlich  zunehmen,  das  Unheil  durch  die  entfesselte 
Maasslosigkeit  gewaltig  steigen  und  eine  halbe  Wildniss  erwachsen, 
die  in  vielen  Beziehungen  und  namentlich  auf  Seiten  der  sogenannten 
Justiz  schlimmer  ist,  als  die  ganze  und  volle  Wildniss  naiver  Ur- 
zustände. Die  natürliche  Rohheit,  die  in  solchen  Zuständen  sich 
Bahn  bricht,  ist  nicht  das  Schlimmste;  denn  aus  ihrem  Grunde 
sollen  die  neuen  Bildungen  emporsteigen,  indem  eine  höhere  Cultur 
wieder  Maass  und  Ziel  in  das  Walten  der  elementaren  Kräfte  bringt. 
Das  tödtliche  Gift  liegt  in  jener  Frivolität  der  Rechtsverachtung  auf 
dem  Wege  der  Rechtskünstelei,  und  an  solchen,  dem  natürlichen 
Recht  hohnsprechenden  Verfahrungsarten  gehen  die  verrotteten  Ueber- 
lieferungen  noch  weit  mehr  moralisch,  als  durch  gegnerische  Gewalt 
zu  Grunde.  Ungeachtet  dieses  Trostes  ist  aber  unter  solchen  Ver- 
hältnissen jene  naturwüchsige  Maasslosigkeit  auch  in  dem  besten 
Falle  ein  unvermeidüches  Schicksal.  Man  muss  warten,  bis  sich  die 
neuen  elementaren  Antriebe  gestaltet  und  durch  Ablegung  ihrer 
Naturrohheit  veredelt  haben.  Nicht  blos  Einsicht,  sondern  auch 
Ruhe  ist  noth wendig,  damit  ein  Trieb,  wie  das  Rechtsgefühl,  zu 
einem  erweiterten  Verstandeshorizont  und  zu  einer  gesetzten,  möglichst 


—     236     — 

organisirten  Bethätiguug  gelange.  Die  Rache  kann  nur  dadurch 
ungerecht  werden,  dass  sie  sich  in  den  Voraussetzungen  irrt  oder 
in  der  Schätzung  vergreift,  und  hier  giebt  es  keinen  andern  Ausweg, 
als  den  von  der  Natur  angelegten,  —  nämhch  die  möglichst  um- 
fassende Verallgemeinerung  und  Organisation  dieser  mächtigsten  und 
xmverwüstlichsten  all^r  Rechtsinstanzen. 

Die  Grossmuth  ist  keine  Gerechtigkeit,  hat  aber  ebenfalls  ihre 
naturgesetzlichen  Vorbedingungen.  So  kann  sie  in  echter  und  un- 
geheuchelter  Weise  nur  eintreten,  wo  die  verletzte  Macht  sich  wirk- 
lich über  die  Verletzung  erhaben  weiss  und  in  Folge  dessen  mit 
Ruhe  über  sie  hinweg'zusehen  vermag.  Ein  grosssinniges  Mitgefühl 
für  das  allgemeine  menschliche  Schicksal  und  für  die  Opfer  der  un- 
ausweichlichen Noth wendigkeit  kann  auch  allenfalls  auf  eine  beson- 
dere Reue  des  Uebelthäters  verzichten  und  ihn,  wie  er  auch  be- 
schaffen sein  möge,  mit  unverdienter  Milde  behandeln.  Jene  hoch- 
herzige Leidenschaft,  die  mit  der  matten  und  widerwärtigen  Heuchelei 
der  Feindesliebe  keine  Faser  gemeinhat,  triumphirt  da,  wo  sie  zu- 
gleich mit  der  eignen  Kraft  gepaart  ist,  über  die  blosse  Rache  und 
fuhrt,  je  nach  den  Umständen,  zu  einem  vollständigen  Verzicht  auf 
die  Vergeltung  oder  wenigstens  zu  einer  Umwandlung  der  letzteren 
in  solche  Uebel,  die  mit  dem  Besserungszweck  zusammenstimmen 
und  keine  Feindseligkeit  enthalten.  Je  mehr  sich  die  Rache  orga- 
nisirt  und  verstandesmässig  gestaltet,  um  so  leichter  kann  sie  jene 
Haltung  annehmen,  in  welcher  sie  zum  Theil  und  unter  Umständen 
ganz  von  dem  allgemeinen  Mitgefiihl  aufgewogen  werden  mag.  Die 
wohleingerichtete  Gesellschaft,  in  welcher  die  Tendenz  zum  Ver- 
brechen bereits  hinreichend  zurücktritt,  kommt  hiedurch  immer  mehr 
in  die  Lage,  im  Namen  und  mit  Einwilligung  ihres  verletzten  Ghedes 
Nachsicht  zu  üben  und  schhesslich  das  Verbrechen  wie  eine  Krank- 
heit zu  behandeln.  Diese  ideale  Verfassung  ist  aber  noch  nirgend 
vorhanden,  und  es  muss  sogar  als  ein  Missstand  gelten,  wenn  die 
staatliche  Justizhoheit  mit  übel  angebrachter  Bevormundung  auf 
Kosten  des  natürlichen  Rechts  der  verletzten  Person  milde  verfälirt 
und  ein  wenig  mit  der  doch  wohl  ernsthaft  zu  nehmenden  Huma- 
nität grade  da  spielt,  wo  die  Interessen  der  regierenden  Elemente 
nicht  berührt  werden.  Auch  Gnade  ist  meist  nicht  Grossmuth,  son- 
dern berechnende  Gunst,  deren  Uebung  die  allgemeine  Macht  der 
sie  Gewährenden  steigern  soll.  In  der  freien  Gesellschaft  gehört 
das  Begnadigungsrecht  dem  Verletzten  und  der  Gesammtheit  zugleich 


—     237     — 

und  die  letztere  darf  nimmennehr  den  ersteren  seines  Anspruchs  auf 
Ahndung  berauben. 

8.  Es  ist  nur  die  Erdrückung  des  Einzelnen  durch  eine  sich 
als  Staat  bezeichnende  Macht,  was  die  aller  freien  Individualität 
hohnsprechenden  Ansichten  und  Lehren  über  den  Absolutismus  der 
sogenannten  Justizhoheit  erzeugt  hat.  Wenn  sich  irgend  eine  Form 
der  Gesellschaft,  und  wäre  es  selbst  eine  socialistische ,  einfallen 
Hesse,  das  Criminalrecht  anderswoher  als  aus  der  Individualität  des 
einzelnen  Menschen  abzuleiten,  so  würde  sie  damit  den  Boden  unter 
den  Füssen  verlieren.  Auch  die  Sociahsten  haben  zum  Theil  noch 
zu  lernen,  dass  die  Menschenrechte  nicht  von  Gnaden  irgend  eines 
Staats  existiren  und  auch  künftig  nicht  auf  irgend  einer  Gesellschafts- 
form, sondern  umgekehrt  solche  Formen  auf  den  Menschenrechten 
beruhen  werden.  Das  Individuum  ist  der  einzige  Ausgangs-  und 
Zielpunkt  alles  Rechts,  und  die  Gemeinschaftsgestalten  sind  nur  Ver- 
mittlungen, die  von  ihm  ausgehen  und  zu  ihm  hinführen.  Jede  Ver- 
bindung hat  nur  soviel  wahres  Leben,  als  in  ihr  an  freiem  Willen 
der  Einzelnen  thätig  verkörpert  ist.  Das  grundlegende  Recht,  wie 
wir  es  bis  jetzt  betrachtet  haben,  ist  daher  auch  nur  in  demjenigen 
Umfange  lebendig  und  weiterhin  lebensfähig,  in  welchem  die  Grund- 
triebe der  individuellen  menschlichen  Natur  allgemeine  Achtung  er- 
rungen haben.  Soweit  dies  noch  nicht  der  Fall  ist,  drängt  die  Natur 
selbst  auf  eine  immer  umfassendere  Verwirklichung  ihrer  Gebote  hin 
und  bedient  sich  hiezu  jenes  Stachels,  der  den  Einzelnen  treibt,  dafür 
zu  sorgen,  dass  die  ihn  bedrückenden  Verletzungen  einen  Gegen- 
druck erfahren  und  dass  die  Handlungen  oder  Veranstaltungen 
schliesslich  in  den  von  vornherein  gerechten  Bahnen  zurückgehalten 
werden. 

Von  einer  Verletzung,  durch  welche  das  Ressentiment  rege  wer- 
den muss,  kann  man  auch  da  reden,  wo  nicht  die  ursprünglichen 
Rechte,  sondern  die  abgeleiteten,  auf  Treu  und  Glauben  begründeten 
Verbindlichkeiten  missachtet  werden.  Die  ünverletztheit  des  Körpers 
und  des  nur  aaf  die  eigne  Person  gerichteten  Willens  sind  Forde- 
rungen jenes  ursprünghchen  Rechts,  und  es  gehört  hieher  auch  die 
Freiheit  vom  Geschlechtszwange,  da  die  Nothzucht  eine  der  stärksten 
und  folgenreichsten  Vergewaltigungen  ist,  die  sich  überhaupt  nächst 
dem  Tödtungsversuch  und  der  schweren  Körperverletzung  ausüben 
lassen;  denn  durch  sie  wird  der  freie  Wille  des  Weibes  in  einer  über 
das   Einzelleben    hinausreichenden   Hauptangelegenheit,    nämlich    in 


—     238     — 

Rücksicht  auf  Existenz  oder  Beschaffenheit  einer  künftigen  Geburt 
zunicht  und  gleichsam  todt  gemacht.  Hieran  lässt  sich  auch  die 
Beurtheilung  der  Zwangsehe  schliessen,  auf  welcher  das  einseitig 
geordnete  Zusammenleben  der  Geschlechter  in  der  bisherigen  Ge- 
schichte überwiegend  beruht  hat.  Die  Ehe,  sei  sie  nun  auf  mehrere 
Weiber  gerichtet  gewesen  oder  monogamisch  ausgefallen,  hat  sich 
stets  als  eine  Art  Geschlechtssklaverei  gekennzeichnet,  um  von  dem 
übrigen  mithineinspielenden  Halbsklaventhum  des  Weibes  gar  nicht 
zu  reden.  Sie  ist  eine  Form  der  Herrschaftsausdehnung  gewesen,  in 
welcher  die  Männer  ihre  Verfügungsmacht  über  die  Weiber  gleich 
einem  Eigenthum  gegenseitig  abgegrenzt  und  hiemit  ihre  Gewalt- 
sphären untereinander  als  Rechte  geltend  gemacht  haben.  Das  Weib 
war  ursprünglich  eine  Waare,  wie  sich  das  in  den  alten  Kaufformen 
der  Eheschliessung  recht  sichtbar  bekundete.  Es  ist  aber  auch  bis 
heute  der  Kern  der  Sache  mehr  verschleiert  als  beseitigt.  Die  alte 
Familie,  aus  welcher  heraus  das  Weib  zur  Ehe  verkauft  wurde,  war 
ursprünglich  fast  souverain  wie  ein  Staat  und  nichts  als  eine  rohe 
Herrschaftsform.  Der  dem  Scheine  nach  freie  Vertrag,  welcher  später 
mit  dem  Erfordemiss  der  sogenannten  Einwilligung  des  Weibes  bei 
der  Eheschliessung  eine  Rolle  spielte,  hat  praktisch  eben  nicht  viel 
zu  bedeuten  gehabt,  und  auch  jetzt  noch  ist  das  vermeintlich  freie 
Uebereinkommen  theils  durch  die  Reste  der  FamiUengewalt,  theils 
durch  den  gesetzlich  vorgeschriebenen  Inhalt  des  ganzen  Verhältnisses 
derartig  beschränkt,  dass  man  die  fortbestehenden  Ueberlieferungen 
der  Gewaltehe  nur  noch  zu  deutlich  erkennt.  Das  öffentliche  und 
absolut  verbindliche  Recht  kann  und  muss  dem  Naturgrunde  gemäss 
die  individuelle  Willkür  der  Privatverträge  binden  und  z.  B.  Verträge 
auf  Hineingebung  in  Sklaverei,  auf  lebenslängliche  Dienstmiethe  u.  dgl. 
als  unzulässig  ausschliessen ;  denn  hier  drückt  es  nur  das  ursprüng- 
liche Recht  des  Privatwillens  und  dessen  individuelles  Streben  gegen 
die  Verletzungen  allgemein  aus.  Es  heisst  aber  grade  das  Umgekehrte 
thun,  wenn  man  gegen  einen  vermeinten  falschen  Individualismus 
augeblich  höhere  Mächte,  nämlich  die  Satzungen  der  Halbsklaverei 
des  Weibes  und  einer  positiven  Zwangsehe  anruft.  Die  freie  Ver- 
gesellschaftung, in  welcher  die  gegenseitigen  Verbindlichkeiten  ein 
natürliches  Maass  haben  und  die  Freiheit  eines  jeden  Theils  keiner 
unwürdigen  und  namentlich  keiner  durch  den  Mangel  gleicher  Gegen- 
seitigkeit verdorbenen  Beschränkung  anheimfällt,  —  die  natürlich 
freie  Verbindung  kann  nur  bestehen,  wo  die  Unterdrückungen  fern- 


—     239     - 

gehalten,  nicht  aber  durch  das  sogenannte  Recht  gegen  die  Menschen- 
rechte geschützt  werden. 

Mein  Princip  des  Ressentiment  zeigt  auch  für  die  Bindungs- 
formen,  welche  auf  irgend  eine  Gemeinschaft  des  Lebens  gerichtet 
sind,  das  an,  was  eine  Unterdrückung  sein  würde,  und  ausserdem 
auch  das,  was,  sobald  einmal  ein  bestimmtes  Verhältniss  von  Treu 
und  Glauben,  also  irgend  eine  Uebereinkunft  im  Sinne  der  Natur- 
antriebe und  Naturnothwendigkeiten  geschaffen  ist,  als  verletzender 
Bruch  gelten  müsse.  Die  Einhaltung  der  Verträge,  die  nicht  selbst 
ein  natürliches  Unrecht  einschliessen,  also  die  allgemeine  Gebunden- 
heit an  freie  Uebereinkünfte  ist  etwas  Principielles  und  Axiomatisches 
und  ist  daher  wohl  einer  Veranschaulichung  durch  Hinweisung  auf 
das  Ressentiment,  aber  keiner  weiteren  Ableitung  fähig  oder  be- 
dürftig. Diejenigen  Verträge,  welche  nur  ideelle  Ausdehnungen  des 
Unrechts  und  der  Unterdrückung  sind,  werden  zugleich  nach  ihrem 
Ursprung  zu  beurtheilen  sein,  und  ein  Bruch  derselben  wird  nicht 
den  gleichen  Charakter  haben  können,  wie  wenn  es  sich  ursprüng- 
lich um  die  freie  Eingehung  von  Beziehungen  ohne  Verletzung  der 
Gerechtigkeit  gehandelt  hätte.  Der  bestimmte,  durch  den  positiv 
schaffenden  Willen  erzeugte  Inhalt  der  Vertragsgebilde  lässt  sich 
nur  negativ,  nämlich  in  alledem,  worauf  er  sich  nicht  richten  darf, 
nach  unserm  Fundamentalprincip  beurtheilen ,  muss  dagegen  nach 
seiner  wesentlich  schöpferischen  Seite  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
Zweckmässigkeit  und  einer  Art  von  Kunst  bemessen  werden.  Die 
eigentliche  Gerechtigkeit  ist  hier  also  gar  nicht  mehr  oder  nur  mittel- 
bar in  Frage,  und  dieser  Thatsache  gemäss  sind  auch  diejenigen  Ge- 
bilde zu  beurtheilen,  die  in  der  ferneren  Entwicklung  an  die  Stelle 
der  geschichtlichen  Zwangsehe  und  des  Gewalteigenthums  treten 
müssen.  Die  Kunst  der  Gesellschaftsbildung,  die  in  den  Schranken 
der  Gerechtigkeit  verbleibt  und  die  Naturantriebe  am  meisten  veredelt, 
ist  mit  ihren  Lebenszwecken  hier  die  einzige  verbindliche  Gesetz- 
geberin. Einzig  und  allein  dieses  Gebiet  verdiente  im  Gegensatz  zu 
der  blos  hemmenden  und  mithin  negativen  Gerechtigkeit  die  Bezeich- 
nung als  echt  positives  oder  positiv  schöpferisches  Recht,  wobei  na- 
türlich der  Ausdruck  positiv  eine  ganz  andere  und  weit  edlere  Be- 
deutung erhält,  als  in  dem  gemeinen  Sprach-  und  Begriffsgebrauch. 

9.  Nach  derjenigen  Ehe  d.  h.  durch  Uebereinkunft  geordneten 
Geschlechtsgemeinschaft,  bei  welcher  die  Würde  und  Freiheit  des 
rein   sittlichen  Verhältnisses    vor  einem  directen  polizeilichen  oder 


—     240     — 

einem  indirecten  aus  der  ökonomischen  Unselbständigkeit  entsprin- 
genden Zwang  gesichert  bleibt,  könnte  das  Eigenthum  den  zweiten 
Hauptfall  der  durch  positive  üebereinstimmung  gebildeten  Rechtsein- 
richtungen vorstellen.  Indessen  ist  hier  die  blosse  Mechanik  der  Gewalt 
fast  noch  umfassender  wirksam  gewesen,  als  im  Bereich  der  historischeu 
Ehe.  Köunen  wir  bei  der  Ehe  noch  immer  das  Wort  beibehalten, 
um  die  höhere,  mit  dem  Polizeizwang  und  der  lebenslänglichen  Pro- 
stitution brechende  Entwicklungsform  der  Zukunft  zu  bezeichnen,  so 
ist  dies  bei  dem  Eigenthum  nicht  mehr  der  Fall;  denn  der  grösste 
Theil  der  Gedanken,  die  mit  diesem  Wort  innig  verwachsen  sind, 
bezieht  sich  auf  Zustände,  Verhältnisse  und  Handlungen,  die  nicht 
nur  die  Vorenthaltung  der  Natur,  sondern  auch  die  active  Ansich- 
uahme  der  aufgehäuften  Arbeit  durch  den  Nichtarbeiter  bedeuten. 
Das  sogenannte  Eigenthum,  welches  nur  in  seinen  unerheblichen 
Beträgen  und  ausserdem  ntir  zu  einem  geringen  Theil  ein  wirkliches, 
nicht  gegen  unser  fundamentales  Gerechtigkeitsprincip  verstossendes 
Eigen  ist,  hat  seinen  Ursprung  überwiegend  in  der  Knechtung  des 
Menschen  durch  den  Menschen.  Nur  indem  die  Herrschaft  über 
Personen  ausgedehnt  wurde,  die  nun  als  Sklaven  den  Boden  bearbeiten 
mussten,  wurde  es  möglich,  auch  die  Herrschaft  über  die  eigentliche 
Sachenwelt  in  bedeutenderem  Maasse  auszudehnen.  Ohnedies  wäre 
der  Einzelne  weder  mit -der  allgemeinen  noch  mit  der  speciell  wirth- 
schaftHchen  Herrschaft  über  den  Grund  und  Boden  irgend  weiter 
gekommen.  Es  hätte  ihm  zwar  der  Weg  der  freien  Vergesellschaftung 
mit  Andern  zu  gleicher  Gegenseitigkeit  in  Arbeit  und  Genuss  offen- 
gestanden; aber  eben  dieser  Weg  hätte  ja  dem  Entstehen  der  ein- 
seitigen und  ausschliesslichen  Herrschaft  der  Einzehnacht  über  den 
Grund  und  Boden  und  über  die  umfassenderen  Productionsmittel 
entschieden  vorgebeugt.  Anstatt  einer  gleichen  Gesellung  und  eines 
Zusammenwirkens  auf  gleichem  Fuss  zu  gleichen  Rechten  und  Pflichten 
hat  historisch  das  nackte  Kräftespiel  ohne  erhebliche  Rücksicht  auf 
Verletzungen  die  sogenannten  Ordnungen  des  Gewalteigenthums  ge- 
schaffen. Dieses  gesehichthche  Gewalteigenthum  ist  daher  ursprüng- 
lich nicht  eine  Ursache,  sondern  eine  Wirkung  der  ganzen  und  halben 
Sklaverei  sowie  überhaupt  aller  durch  das  Schwert  des  Kriegers  ge- 
schaffener Unterordnungen,  dem  der  Trug  der  Priester  erst  hinterher 
secundiren  konnte,  indem  er  die  Ergebnisse  der  blossen  Gewalt- 
mechanik als  eine  geheiligte  Ordnung  zu  verklären  suchte. 

Das  Recht  zur  vollen  und  ausschliessHchen  Herrschaft  über  eine 


—     241     — 

Sache  lässt  sich  in  keiner  Weise  aus  stichhaltigen  Rechtsgründen 
ableiten.  Die  Thatsache  einer  solchen  Herrschaft  ist  noch  kein 
Recht,  und  erst  wenn  die  Nichtachtung  dieser  Thatsache  als  Ver- 
letzung nachgewiesen  würde,  gegen  welche  sich  das  Ressentiment 
unter  allen  Umständen  wie  gegen  eine  Körperverletzung  kehren 
müsste,  —  erst  dann,  auf  Grund  einer  solchen  Nachweis ang,  würde 
jene  Thatsache  der  übrigens  blos  über  ein  Stück  der  Natur  aus- 
gedehnten Herrschaft  als  Recht  gekennzeichnet  sein.  Dieses  Recht 
wäre  aber  immer  noch  nicht  das  historische  Gewalteigenthum ,  weil 
das  letztere  die  Versklavung  der  Menschen  einschliesst,  die  nicht 
einmal  als  Strafe  gerechtfertigt  werden  kann.  Einen  Andern  vom 
Zugange  zur  Natur  und  ihren  Hülfsquellen  ausschliessen ,  ist  sogar 
selbst  eine  Verletzung,  und  hiemit  wird  ein  derartiges  ursprüngliches 
Unrecht  schon  ein  Bestandtheil  des  Eigenthums  an  Stücken  der 
blossen  Natur.  Auf  die  eigne  persönliche  Unverletztheit  und  mithin, 
auch  auf  das  unbeeinträchtigte  Gewährenlassen  der  Arbeit  und  des 
Genusses  ihrer  Früchte  ist  das  strengste  Recht  vorhanden  und  zwar 
aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  jeder  fremde  Uebergriff  in  diese 
Sphäre  mit  der  gleichen  Geltung  der  Persönlichkeiten  unvereinbar 
wäre  und  das  natürliche  Ressentiment  herausfordern  würde.  Jedoch 
darf  aus  eben  demselben  Grunde  Niemand  darauf  Anspruch  machen, 
etwas  als  Eigen  zu  haben,  was  zwar  mit  seiner  Arbeit  verwachsen, 
übrigens  aber  ein  Stück  der  Natur  ist,  die  von  Niemand  ohne  Un- 
recht gegen  Andere  monopolisirt  d.  h.  zu  etwas  ausschliesslich  Be- 
herrschtem gemacht  werden  kann.  Da  nun  die  Trennung  der  be- 
thätigten  Arbeit  von  dem  Naturstück,  an  welchem  sie  haftet,  durch 
Verbrauch  der  Producte  nur  zum  Theil  bewerkstelligt  wird  und  eine 
dauernde  Wirkung  der  einfurallemal  ausgeführten  Arbeiten  als  Rest 
in  Anschlag  kommen  mag,  so  bleibt  nichts  übrig  als  die  Auseinander- 
setzung im  Wege  einer  positiv  schaffenden,  den  gleichberechtigten 
Zugang  zur  Natur  regelnden  Kunst.  Andernfalls  Hesse  sich  einfach 
fordern,  dass  die  Arbeit  aus  ihr^  Verbindung  mit  der  Natur  heraus- 
gezogen und  so  Platz  auch  für  fremde  Thätigkeit  beschafft  würde. 
An  die  Stelle  jenes  sehr  scheinbaren  Eigenthums,  welches  aus  der 
Arbeit  stammen,  aber  ausschliesslich  werden  und  sich  die  Natur  in 
ihren  unbeweglichen  und  beweglichen  Theilen  einverleiben  soll,  tritt 
der  genauere  Begriff  eines  Rechtes  zur  ungestörten  Arbeitsbethätigung 
an  der  Natur  und  zum  unbeeinträchtigten  Genüsse  der  Arbeitsfrüchte. 
Dieser  Begriff  lässt  sich  aber  ohne    positiv   schöpferische  Regelung 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  ^^ 


—     242     — 

der  Thätigkeitsbereiche  der  Glieder  einer  politisch  wirthsehaffcenden 
Gesellschaft  nicht  verwirklichen.  Es  kann  daher  nur  in  demjenigen 
sociahstischen  Gebilde,  welches  ich  in  meinem  Cursns  der  Social- 
ökonomie  als  socialitäres  System  gekennzeichnet  habe,  ein  echtes 
Eigen  an  die  Stelle  des  blos  scheinbaren  und  vorläufigen  oder  aber 
gewaltsamen  Eigenthums  treten.  Dieses  Eigen  gilt  nur  der  Person 
und  der  Unverletztheit  ihrer  auf  Leben  und  Lebenssteigerung  ge- 
richteten Mühen. 

Aus  dem  Vorangehenden  folgt,  dass  die  schlimmste  Art  des 
Gewalt-  oder  Ausbeutungseigenthums  nicht  die  Natur,  sondern  die 
in  den  dauernden  Erzeugnissen  gleichsam  angesammelten  Arbeits- 
leistungen zum  Gegenstande  hat.  Wer  sich  die  Herrschaft  über  ein 
Naturstück  aneignet  und  den  Andern  davon  gewaltsam  ausschliesst, 
enthält  ihm  nur  das  vor,  was  er  ihm  ohne  Verletzung  der  gemein- 
samen natürlichen  Ansprüche  nicht  verweigern  kann.  Wer  dagegen 
die  fremde  Arbeitsleistung  ohne  völlig  gleichen  und  mithin  gerechten 
Austausch  an  sich  bringt,  nimmt  positiv  etwas  weg,  was  er  nicht 
nehmen  darf.  Das  Eigenthum  also,  welches  so  zu  sagen  aus  der 
Menschheitsdomäne  stammt  und  ausser  in  der  Sklaverei  in  der  Auf- 
häufung fremder  Arbeit  bestanden  hat  oder,  mit  andern  Worten, 
der  ausschliessHche  Capitalbesitz  ist  im  Allgemeinen  noch  einen  Grad 
ungerechter  als  der  Alleinbesitz  des  bereits  durch  die  blosse  Natur 
Vorhandenen.  In  dem  einen  Falle  wird  der  Mensch  nur  verhindert, 
seine  gleichen  Ansprüche  auf  die  Natur  geltend  zu  machen;  in  dem 
andern  Falle  werden  er  selbst  und  seine  Leistungen  angegriffen  und 
es  wird  ihm  das  entrissen,  was  er  bereits,  und  zwar  am  meisten  zu 
eigen  hat.  Man  wende  hier  nicht  die  Vererbung  ein;  denn  diese 
kann  keine  Eigenthumsrechte  schaffen,  die  nicht  schon  vorhanden 
sind,  und  die  gerechte  d.  h.  gleiche  Erbtheilung  trägt  nicht  nur 
nichts  zur  Aufhäufung  bei,  sondern  arbeitet  im  G^entheil  auf  eine 
gesellschaftliche  Zerlegung  der  concentrirten  Ansammlungen  hin.  Es 
giebt  daher  keinen  Weg,  auf  welchem  ein  gerechter  Arbeitsaustansch 
zu  sonderlichen  Eigenthumsmassen  verhelfen  könnte.  Sogar  die 
grössere  Umsicht  und  Arbeitsamlceit  kann  unter  natürlichen  und 
gleichen  Verhältnissen  keine  grosse  Kluft  reissen  und  namentlich 
nicht  eine  solche,  die  durch  den  Wechsel  der  Schicksale  nicht  bald 
wieder  ausgeglichen  würde.  In  einem  idealen  Gemeinwesen  müssen 
aber  derartige  Vorzüge,  nach  dem  Grundsatze  des  gleichen  Werths 
der  Arbeitszeit,  grade  wie  die  Naturvortheile  für  die  Gesammtheifc 


—     243     — 

und  nicht  für  ausschliessliche  Sonderinteressen  oder  egoistische  Auf- 
häufnngsbestrebungen  ergiebig  werden. 

Aus  der  Zwangsehe  und  dem  Gewalteigenthnm  ergiebt  sich  die 
Lehre,  dass  es  sich  im  Privatrechtsgebiet  gleichsam  um  eine  schöpfe- 
rische Kunst  handelt,  die  zu  Gebilden  besserer  menschlicher  Vereini- 
gung fuhrt.  Alle  bisherige  Geschichte  ist  in  diesem  Bereich  etwas 
Yorläufiges  gewesen.  Sie  hat  nur  Halbrechte  gekannt,  die  zwischen 
den  Gliedern  bestimmter  Classen  galten,  aber  der  Volksmasse  gegen- 
über das  Gegentheil  von  natürlichen  Rechten  waren.  Die  Gerechtig- 
keit ist  theils  in  der  Rohheit  des  ursprünglichen  Wollens  theils  in 
der  Unwissenheit  von  vornherein  untergegangen  und  muss  solange 
und  insoweit  unterdrückt  bleiben,  als  sich  nicht  das  bessere  Bewusst- 
sein  nebst  den  dasselbe  tragenden  Kräften  umfassend  und  in  ge- 
liöriger  Breite  entwickelt. 


IDrittes  Oapitel. 

Bessere  Menschheitsausprägung. 

Höher  als  die  Rücksichten  der  nothdürftigsten  Sitte  und  des 
unerlässlichsten  Rechts  stehen  die  auf  eine  edlere  Menschlichkeit 
gerichteten  Bestrebungen,  da  durch  sie  erst  recht  eigentlich  der  po- 
sitive Gehalt  und  die  vollkommnere  Artung  des  Lebens  gestaltet 
wird.  Man  erhebt  sich  über  das  gewöhnliche  Niveau  der  Moral, 
indem  man  die  Kunst  der  positiven  Veredlung  der  Menschennatur 
und  ihrer  Bethätigungsarten  in  das  Auge  fasst,  und  man  lässt  die 
Enge  rein  juridischer  Einschränkungen  und  blosser  Verneinungen 
hinter  sich,  wenn  man  das  offene  und  weite  Feld  humanitärer  Cultur 
betritt.  Hier  darf  nicht  mehr  blos  davon  die  Rede  sein,  dass  sich 
der  Mensch  selbst  beschränke,  um  den  Wirkungen  der  Ausschweifung 
zu  entgehen  und  sich  vor  Verletzungen  des  Nebenmenschen  zu  hüten; 
der  leitende  Zweck  greift  vielmehr  über  diese  Negativitäten  hinaus 
und  fordert  die  Entfaltung  derjenigen  Eigenschaften,  durch  welche 
die  menschliche  Sitte  ein  harmonisches  und  ideales,  namentlich  aber 
ein  sympathisches  Gepräge  erhält.  Mit  der  gemeinen  Ordnung  der 
Triebe  und  Affecte  sowie  mit  der  moralischen  und  juristischen  Ge- 

16* 


—    244    — 

rechtigkeit  ist  nur  eine  unerlässliche  Vorbedingung,  aber  keineswegs 
die  Hauptsache  erledigt.  Das  Leben  ist  nicht  dazu  gemacht,  um 
in  der  Ueberwindung  von  Hindernissen  und  Störungen  des  Rechts 
aufzugehen  und  den  Triumph  über  derartige  Schwierigkeiten  als  das 
letzte  Ziel  gelten  zu  lassen. 

Die  natürliche  Beschaff^heit  des  Menschen  wird  durch  Cultur 
und  Erziehung  bestimmter  gestaltet,  bleibt  aber  immer  die  maass- 
gebende  Schranke.  Da  uns  die  ursprüngliche  Artung  des  Menschen, 
wie  sie  durch  die  blosse  Hand  der  Natur  verzeichnet  wurde,  praktisch 
gleichgültig  bleiben  kann,  so  haben  wir  unser  Augenmerk  auf  das- 
jenige Natürliche  zu  richten,  welches  sich  im  Rahmen  der  Cultur 
producirt.  Aus  dem  Mutterschooss  geht  der  Mensch  bereits  mit  einer 
Ausstattung  von  Eigenschaften  hervor,  die  in  den  Gewohnheiten  und 
Sitten  der  früheren  Geschlechter  ihren  Grund  haben.  Von  der  blossen 
Muskelfiinction  bis  zur  Gedankenbildung  hinauf  macht  sich  die  üeber- 
lieferung  geltend,  und  das  beharrliche  Festwerden  der  besondem 
Anlagen  und  Eigenschaften  kann  als  eine  Art  langsamer  Verfassungs- 
änderung des  gesammten  Organismus  gelten.  Für  Schöpfung  und 
Vernichtung  von  guten  oder  schlimmen  Sondergebilden  und  Mischungs- 
compositionen ist  die  Geschlechterfolge  von  entscheidender  Bedeutung. 
Zufall  oder  Auswahl  der  Gesellung  oder  gar  systematische  Zucht  ver- 
fügen in  souverainster  Weise  über  Dasein,  Artung  und  Schicksal 
eines  Wesens,  welches  einst  seine  harmonische  oder  disharmonische 
Constitution  zu  empfinden  und  glücklich  oder  unglücklich  zu  erproben 
haben  wird.  An  dieser  Ausstattung,  mit  der  es  in  die  Welt  kommt, 
vermag  es  nachträglich  nicht  viel  zu  ändern.  Es  mag  im  Rahmen 
derselben  das  beste  Theil  erwählen,  aber  es  kann  die  Mängel  und 
Gebrechen  nicht  nur  nicht  fortschaffen,  sondern  wird  dieselben  wenig- 
stens zum  Theil  noch  weiter  fortpflanzen.  Erst  eine  Reihe  von  Ge- 
schlechtem ist  im  Stande,  erhebUch  und  nachhaltig  an  der  physio- 
logischen Unterdrückung  des  Schlimmen  und  an  der  Häufung  des 
Gelungenen  zu  arbeiten.  Die  bessere  Composition  und  Vervollkomm- 
nung des  menschlichen  Typus  wird  aber  trotzdem  die  Racen-  und 
Stammeseigenschaften  nur  erst  in  sehr  grossen  Zeiträumen  berühren 
und  sich  übrigens  damit  begnügen  müssen,  innerhalb  des  gegebenen 
nationalen  oder  noch  engeren  Rahmens  die  Vervollkommnung  schaf- 
fend und  ausmerzend  zu  •  bewerkstelligen.  Ohne  Vernichtung  oder 
Zerst(3rung  der  Übeln  Eigenschaften  und  ohne  ein  Hinwirken  auf  die 
Femhaltung  der  ungünstigen  Mischuugsgebilde  wird  es  hiebei  nicht 


—     245     — 

abgehen  können.  Die  rein  positive  Fürsorge  fSr  die  edleren  Com- 
binationeu  würde  an  sich  selbst  ungenügend  bleiben,  wenn  sie  nicht 
von  zerstörenden  Mächten  begleitet  wäre,  die  sich  gegen  die  Fort- 
existenz oder  gegen  die  ursprüngliche  Entstehung  und  Uebertragung 
des  Schlimmen  kehrten.  Nicht  die  Darwinistischen  Phantasien  über 
den  Kampf  um  das  Dasein  und  auch  nicht  die  wahrhaften  Wirkungen 
desjenigen  Kampfes,  den  die  Naturmechanik  in  der  That  aufzuweisen 
hat,  liefern  uns  ein  Bild  von  den  eigentlichen  Chancen  der  Vervoll- 
kommnung oder  Entartung.  Der  bewusste  und  alsdann  völlig  un- 
moralische Kampf,  durch  welchen  das  eigne  Dasein  egoistisch  und 
ungerecht  auf  Kosten  des  fremden  Lebens  gesteigert  wird,  kann  nur 
dazu  fähren,  die  innern  Anlagen  zur  Feindschaft  des  Menschen  gegen 
den  Menschen  und  zur  Raubthiersitte  zu  vermehren.  Die  sich  auf- 
lösenden Zustände  politischer  und  gesellschaftlicher  Fäulniss  mögen 
jenen  Kampf,  der  in  einigem  Maass  und  ohne  sonderliches  Bewusst- 
sein  den  rohen  Ursprungszuständen  am  ehesten  eigen  ist,  in  raffi- 
nirter  Weise  wieder  hervorbringen ;  sie  werden  hiemit  nur  eine  Sitten- 
verderbniss  und  eine  Yerschlechterung  der  Charaktereigenschaften 
einleiten,  die  da  beweist,  dass  es  sich  um  die  gegenseitige  Vernich- 
tung der  verkehrtgewordenen  Bestrebungen  handelt.  Diejenigen, 
welche  nichts  als  den  brutalen  Kampf  um  das  Dasein  kennen  und 
wollen,  verdienen  in  der  That,  dass  sie  von  einem  kannibalischen 
Schicksal  ereilt  werden  und  ärgere^  Erfahrungen  machen,  als  die 
blos  unglücklichen  Schiffbrüchigen,  die,  auf  ihrem  Boote  vor  den 
Wellen,  aber  nicht  vor  dem  Hunger  gerettet,  die  menschenverzehren- 
den Ureigenschaffcen  des  Geschlechts  gleich  vielen  heutigen  Wilden 
von  Neuem  bethätigen.  Die  modernen  Wilden  einer  untergehenden 
Civilisation  mögen  sich  in  dem  Chaos  der  Auflösung  um  ihr  eignes 
Fleisch  und  Blut  balgen  und  sich  in  diesem  Handwerk  noch  obenein 
als  Kämpfer  für  die  Cultur  und  als  Fürsorger  für  eine  bessere  Gat- 
tung verherrlichen  lassen.  Sie  werden  zeitweilig  in  einigen  Schichten 
allerdings  eine  Veränderung  des  menschlichen  Typus  zu  Wege  brin- 
gen, aber  eine  solche,  welche  die  kurzlebige,  den  baldigen  Tod  ver- 
kündende Eigenart  der  zufällig  triumphirenden  Bestie  für  eine  Spanne 
Zeit  sichtbar  macht,  um  alädann  in  den  bestienhaft  vergossenen 
Strömen  von  Blut  selbst  endgültig  zu  versinken.  Von  dieser  Seite 
ist  mithin  nur  die  Steigerung  der  Lebensunfähigkeit  und  die  Ent- 
wicklung derjenigen  Eigenschaften  zu  gewärtigen,  welche  das  Leben 
den  verkommenden  Elementen  verleiden,  dann  seiner  selbst  gar  nicht 


—     246     — 

mehr  werth  erscheinen  lassen  und  schliesslich  auch  durch  fremde 
Abschneidung  der  verkünstelten  Bedingungen  unmöglich  machen, 
Ueberraschen  darf  dieser  Gang  der  Dinge  nicht;  denn  der  egoistische 
Kampf  um  das  Dasein  ist  die  principielle  Ungerechtigkeit  selbst  und 
kann  daher  als  leitender  Gesichtspunkt  nur  zu  einem  Chaos  der  uni- 
versellen Feindschaft,  Auflösung  und  sowohl  moralischen  als  physi- 
schen Vernichtung  fähren. 

2.  Angesichts  der  Bedeutsamkeit  der  Fortpflanzung  für  Fest- 
haltung, Ausmerzung  und  Mischung  sowie  sogar  für  neue  gestaltende 
Entwicklung  von  Eigenschaften  muss  man  die  letzten  Wurzeln  des 
Menschlichen  oder  Unmenschlichen  zu  einem  grossen  Theil  in  der 
geschlechtlichen  Gesellung  und  Auswahl  und  überdies  noch  in  der 
Sorge  für  oder  gegen  einen  bestimmten  Ausfall  der  Geburten  suchen. 
Das  Gericht  über  die  Wüstheit  und  Stumpfheit,  welche  in  diesem 
Gebiet  herrschen,  muss  praktisch  einer  späteren  Epoche  überlassen 
bleiben.  Jedoch  ist  wenigstens  soviel  von  vornherein  auch  unter 
dem  Druck  der  Vorurtheile  begreiflich  zu  machen,  dass  weit  mehr 
als  die  Zahl,  sicherHch  die  der  Natur  oder  menschlichen  Umsicht 
gelungene  oder  misslungene  Beschaffenheit  der  Geburten  in  Anschlag 
kommen  muss.  Ungeheuer  sind  allerdings  zu  allen  Zeiten  und  unter 
allen  Rechtszuständen  der  Vernichtung  anheimgegeben  worden;  aber 
die  Stufenleiter  vom  Regelrechten  bis  zur  vollständigsten  Verzerrung 
in  das  nicht  mehr  Menschenähnliche  hat  viele  Sprossen.  Auch  ist 
der  Aberglaube  an  die  Unfehlbarkeit  der  Natur  einer  der  schlimm- 
sten. Im  Groben  durch  die  Missgeburten  widerlegt,  zieht  er  trotz- 
dem seine  Consequenzen  in  der  ganzen  Breite  des  nicht  grade  ab- 
solut monströsen  Daseins.  Da  indessen  seine  mittelalterliche  Ein- 
wurzelung  eine  grosse  Zähigkeit  in  Aussicht  stellt,  so  lohnt  es  sich 
heute  noch  nicht,  eine  noch  ziemlich  entfernte  Zukunftsfrage  im 
Hinblick  auf  eine  unmittelbare  Praxis  zu  erörtern.  Die  vorausgehende 
Fürsorge,  die  vor  der  Erzeugung  an  das  Ergebniss  denkt,  ist  der 
heutigen  Vorstellungsweise  gegenüber  etwas  weit  eher  Plausibles. 
Wird  dem  Entstehen  eines  Menschen  vorgebeugt,  der  doch  nur  ein 
schlechtes  Erzeugniss  werden  würde,  so  ist  diese  Thatsache  offenbar 
ein  Vortheil.  Natur  und  Mensch,  die  in  diesem  Falle  als  ein  ein- 
ziges Wesen  zusammenwirken,  sind  vor  der  Schöpfung  eines  aus- 
schweifenden und  unzuträgHchen  Gebildes  bewahrt.  Ja  man  kann 
sagen,  dass  die  allgemeine  Natur  in  ihrer  rohen  Wirksamkeit  der- 
artige Correctureu  erfordere,  wenn  nicht  in  dem  Hauptpunkte,  näm- 


—     247     — 

lieh  in  dem  künftiges  Leben  und  Bewusstsein  schaffenden  Drange, 
Chaos  nnd  Zufall  die  erste  Rolle  spielen  sollen. 

Unter  Verachtung  der  Darwinistischen  Art  der  Naturzüchtung, 
deren  Unzutreffendes  wir  schon  früher  blosgestellt  haben,  wenden 
wir  uns  unmittelbar  zu  den  höheren,  echt  menschlichen  Beweggründen 
der  heilsamen  Geschlechts  Verbindungen.  Hier  ist  die  menschlich 
veredelte  Gestalt  der  Geschlechtserregung ,  deren  Steigerung  sich  als 
leidenschaftliche  Liebe  kundgiebt,  in  ihrer  Doppelseitigkeit  die  beste 
Bürgschaft  für  die  auch  in  ihrem  Ergebniss  zuträgliche  Verbindung. 
Die  Anzeigen  der  gegenseitigen  Liebe  müssen  als  ästhetische  Urtheile 
über  den  Werth  der  Vereinigung  angesehen  werden,  und  es  ist  nur 
eine  Wirkung  zweiter  Ordnung,  dass  aus  einer  an  sich  harmonischen 
Beziehung  auch  ein  Erzeugniss  von  zusammenstimmendem  Gepräge 
hervorgehe.  Hieraus  folgt  wiederum,  dass  jeder  Zwang  schädlich 
wirken  muss,  indem  er  nicht  nur  die  Freiwilligkeit  der  Natur  von 
den  angemessenen  Gegenständen  ablenkt,  sondern  auch  den  Ge- 
schlechterverkehr auf  die  niedrigsten,  ihrer  veredelnden  Empfindungs- 
bestandtheile  beraubten  Triebformen  einschränkt.  Ein  derartiges 
Herunterkommen  auf  gemeinere  Triebbethätigungen  ist  nun  freilich 
der  gewöhnliche  Fall,  und  sehr  häufig  ist  nicht  einmal  ein  Herunter- 
kommen in  Frage,  weil  die  Höhe  selbst  unbekannt  und  unerprobt 
blieb.  Hierin  liegt  ja  aber  grade  der  Beweis  für  den  niedrigen  Stand 
der  gemein  menschlichen  Beschaffenheit  im  Bereich  der  bisherigen 
Cultur.  Das  rein  thierische  Dasein  steht  oft  höher  als  die  gedrückte 
und  entartete  Menschlichkeit;  denn  es  ist  bisweilen  solcher  Erregungen 
fähig,  welche  sich  in  ihrer  so  zu  sagen  sittlichen  .Gestaltung  edler 
ausnehmen,  als  die  entsprechenden,  zur  Leidenschaftslosigkeit  ent- 
arteten und  fast  zu  einer  vegetativen  Function  herabgesunkenen 
Triebe  des  animalisch  nivellirten  Menschenwesens. 

Obwohl  uns  die  Liebe  hier  zunächst  in  ihrer  Bedeutung  für  das 
schöpferische  Ebenmaass  der  Erzeugungen  entgegengetreten  ist,  so 
hat  sie  doch  ihren  Werth  in  sich  selbst  und  ist  keineswegs  darauf 
angelegt,  vorzugsweise  eine  Rolle  als  Mittel  für  einen  ausser  ihr 
liegenden  Zweck  zu  spielen.  In  der  natürhchen  Liebe  ist  der  ein- 
zelne Gegenstand,  auf  den  sich  diese  Art  der  Gemüthsbewegung 
richtet,  das  Band,  durch  welches  auch  der  geistige  Zusammenhang 
mit  der  Gattung  geknüpft,  und  durch  welches  die  Vereinzelung  des 
Wollens  aufgehoben  wird.  Die  Geschlechtsliebe  und  die  sich  daran 
knüpfende  Liebe    zu    dem  Erzeugniss    ist    der  Grundtypus    für  alle 


—     248     — 

Affectionen  des  aufrichtigen  und  sympathischen  Wohlwollens.  In 
den  Elementen  der  menschlichen  Natur  findet  sich  nichts,  was  eher 
zu  einer  echten  Menschenhebe  fuhren  könnte,  als  diejenige  Gesin- 
nungsrichtung, welche  sich  unter  dem  Eindruck  des  höheren  Natur- 
antriebs entwickelt  und  nicht  blos  für  den  Entstehungsfall  sondern 
auch  in  den  allgemeinen  Uebertragungen  des  Wohlwollens  ihre  Wir- 
kung übt.  Wenigstens  lässt  sich  die  Thatsache  der  enthusiastischen 
Menschenliebe,  die  doch  nie  ganz  weggeleugnet  werden  kann,  nicht 
anders  erklären,  als  aus  einer  Gemüthsrichtung,  in  welcher  sich  das, 
was  sonst  Geschlechtsliebe  sein  würde,  in  einer  unbestimmteren  Ge- 
stalt als  Liebe  zum  Menschengeschlecht  kundgiebt.  Auch  darf  diese 
Annäherung  von  zwei  verwandten  Affecten  nicht  überraschen,  da  ja 
in  beiden  Fällen  die  Gattung  als  solche  und  ein  geistiges  Hinaus- 
strebeu  über  die  Vereinzelung  des  Daseins  in  Frage  kommt,  üebri- 
gens  gäbe  es  für  die  Erkläining  des  Wohlwollens  nur  die  Hinweisung 
auf  die  Rückwirkungen  empfangener  Wohlthaten,  die  aber  selbst 
wiederum  nur  dann  eine  wohlwollende  Gesinnung  erzeugen  können, 
wenn  sie  selbst  von  einer  solchen  ausgehen.  Es  bliebe  daher  als 
ursprüngliche  Ursache  nur  die  Güte  des  Gemüths  und  Charakters 
offen.  Die  Annahme  derselben  muss  nun  zwar  ebenso  gestattet  sein, 
wie  diejenige  der  Bosheit  und  Tücke;  aber  wir  müssen  uns  diese 
Güte  selbst  verständlicher  machen,  indem  wir  sie  mit  den  edleren 
Gestaltungen  der  Geschlechts-  und  Mutterliebe  vergleichen. 

3.  Die  Philanthropie,  in  dem  modernen  Sinne  des  Worts,  ist 
mit  so  grossen  Schwächen,  Selbsttäuschungen  und  thatsächlichen 
Trugbestandthejlen  versetzt,  dass  ein  Anschlagen  ihrer  Saiten  für 
den  Kenner  nicht  mehr  recht  einen  reinen  Klang  geben  will.  Der 
muthlose  Beccaria,  der  ja  eine  Hauptfigur  dieser  Gattung  war,  hat 
selbst  eingestanden,  dass  er  zwar  der  Menschheit  nützen,  aber  doch 
lieber  die  klare  Wahrheit  hinter  Dunkelheiten  der  Darstellung  ver- 
stecken, als  irgend  ein  Märtyrerthum  für  sie  auf  sich  nehmen  wollte. 
Wenigstens  war  dies  seine  vertrauliche  Entschuldigung,  als  ihm  von 
einem  seiner  üebersetzer  die  Unverständlichkeit  vieler  Gedanken  und 
der  Mangel  an  Zusammenstimmung  vorgehalten  wurde.  Wohin  eine 
ehrliche  und  hochherzige  Natur,  die  zuerst  an  die  Criminalphilan- 
thropie  des  Italieners  anknüpfte,  von  diesem  Ausgangspunkt  her 
schliesslich  gelangen  mochte,  bezeugt  ein  grosses  Beispiel,  wie  es 
nicht  leicht  auf  gleicher  geschichtlicher  Höhe  gefunden  werden  dürfte, 
nämlich  dae  Verhalten  des  durch  Verleumdung  und  Geschichtsfälschung 


—    249    — 

80  arg  entstellteu  J.  P.  Marat.  Sein  Plan  einer  Strafgesetzgebung 
war  eine  Schrift,  in  welcher  das,  was  Beccaria  im  Dunkel  belassen 
hatte,  von  der  zugleich  humanitären  und  charakterfesten  Gesinnung 
in  das  vollste  Licht  gestellt  wurde.  Jedoch  sollte  Marat,  der  übri- 
gens auch  als  Mann  der  Wissenschaft,  nämlich  als  originaler  physi- 
kalischer Scliriftsteller  Bedeutung  hatte,  in  dem  Ringen  der  Revo- 
lution es  noch  gleichsam  naturgesetzlich  darthun,  wie  jene  Philan- 
thropie in  die  Vernichtung  der  Girondisten  auslaufen  musste.  Im 
Kampfe  für  die  Menschenrechte  wird  die  gemeine  Philanthropie  regel- 
mässig dann  fehlen,  wenn  sich  die  Dinge  ernsthaft  gestalten,  und 
sie  wird  mit  ihrer  typischen  Charakterschwäche  denen  das  Feld 
räumen  müssen,  die  gleich  einem  Marat  an  die  Stelle  iln-er  zaghaften 
und  schmiegsamen  Verschwommenheiten  die  eherne  Nothwendigkeit 
einer  wirklichen  Menschheitsaction  setzen.  In  der  That  ist  der  Platz 
der  vulgären,  meist  mit  einer  guten  Dosis  eitler  Wichtigthuerei  auf- 
tretenden Philanthropie  vornehmlich  da,  wo  es  gilt,  zwischen  den 
Beinen  der  Gewalthaber  mit  einer  Ladung  gehorsamster  Linderungs- 
mittel durchzusegeln,  und  zwar  dürfen  die  fraglichen  Milderungen 
die  delicatesten  und  schlimmsten  Punkte  gar  nicht  berühren.  Am 
auffälligsten  hat  sich  dies  in  der  neusten  Kriegsphilanthropie  gezeigt, 
welche  sich  wohl  hütete,  die  schlimmsten  Gräuel  und  namentlich 
diejenigen  der  Bürgerkriege  irgend  anzutasten.  Ihre  Officiosität  ist 
so  unverkennbar,  dass  ihr  Mangel  an  Stimme  Angesichts  der  ärgsten 
Gräuel  und  ihre  Betonung  der  amtlichen  Nebendinge  bisweilen  direct 
den  Charakter  einer  Parteinahme  gegen  echte  Menschlichkeit  ange- 
nommen hat.  Fast  ausschliesslich  auf  die  Sorge  für  die  Verwundeten 
der  regelrechten  Heere  eingeschränkt,  hat  sie  vorzugsweise  die  sen- 
timentale Rührmalerei  cultivirt  und  ist  ffeleo^entlich  auch  unter  den 
Machthabern  grade  den  Afrikanischen  Hyänen,  die  sich  durch  einen 
gleichen  Grad  von  Feigheit,  Grausamkeit  und  Liebhaberei  für  Ca- 
daver auszeichneten,  eifrig  nachgelaufen.  Diese  logiklose  Bettelphi- 
lanthropie spielt  auch  ein  wenig  in  sogenannte  christliche  Liebe 
hinein  und  pflegt  sich  gern  ein  wenig  mit  diesem  Mantel  zu  dra- 
piren.  Nun  hat  aber  leider  die  seit  anderthalb  Jahrtausenden  pri- 
vilegirte  Barmherzigkeit  nie  etwas  Ganzes  und  Durchgreifendes  für 
die  Menschheit  ausgerichtet,  sondern  im  günstigsten  Falle  nur  in 
vereinzelter  Weise  einige  Linderung  für  diejenigen  Üebel  geschafft, 
zu  deren  Entstehung  und  Fortbestand  eben  die  Träger  jenes  christ- 
lichen Systems   ihren   vollen  Segen   gespendet  hatten.     Der  heuch- 


—    250    — 

lerische  Zug,  dem  ,die  sogenannte  Feindesliebe  naturgesetzlich  von 
vornherein  anheimfällt,  hat  sich  auch  in  der  neuern  Philanthropie 
dieses  Schlages  nicht  verleugnen  können. 

4.  Auf  eine  andere  Gattung,  nämlich  die  Socialphilanthropie,  die 
in  den  unklaren  und  politisch  restaurativen  Zuständen  mit  ihrer  Halb- 
romantik am  ehesten  heimisch  geworden  ist  und  der  es  ebenfalls, 
aber  doch  nicht  in  gleichem  Maasse  an  Charakter  gebrach,  brauchen 
wir  hier  nicht  einzugehen.  Dagegen  ist  die  Criminalphilanthropie, 
die  trotz  ihrer  schwachen  Seiten  und  trotz  der  Yaterschaffc  Beccarias 
immerhin  in  der  Richtung  milderer  Cultur  mitgewirkt  hat,  noch  be- 
züglich ihrer  Tendenz  gegen  die  Todesstrafe  und  ihres  Einti'etens 
für  Himianisirung  der  Strafmittel  ein  wenig  ins  Auge  zu  fassen. 
Der  Tod  als  Abschreckungsmittel  und  der  Tod  als  eigentliche  Ge- 
rechtigkeitsstrafe sind  zwei  ganz  verschiedene  Einrichtungen.  Der 
terroristische  Gesichtspunkt  hat  mit  der  Ahndung  einer  Verletzung, 
die  vom  Menschen  gegen  den  Menschen  verübt  ist,  nur  zufälHg  oder 
vermittelst  entfernter  Ableitungen  etwas  zu  schaffen.  Sowenig  die 
Tödtung  im  kriegerischen  Kampfe  als  die  Verhängung  eines  Actes 
der  Gerechtigkeit  angesehen  wird,  ebensowenig  darf  die  gleichsam 
polizeiliche  Androhung  des  Todes,  vermittelst  deren  eben  nm*  ein 
Zweck  erreicht  werden  soll,  oder  gar  der  die  Rolle  eines  politischen 
Ausrottungsmittels  spielende  Tod  an  sich  selbst  und  ohne  Weiteres 
für  einen  Ausdruck  jener  natürlich  rückwirkenden  Gerechtigkeit  ge- 
halten werdeu,  aus  welcher  sich  einzig  und  allein  eine  eigentliche 
und  sühnende  Strafe  herleiten  lässt.  Man  betrachtet  den  Menschen 
fast  nur  als  Sache,  d.  h.  ohne  Rücksicht  auf  sein  Recht,  wenn  man, 
um  ihn  als  Werkzeug  kräftig  zu  bestimmen  oder  als  Hinderoiss  aas 
dem  Wege  zu  räumen,  im  Voraus  die  Androhung  oder  sofort  den 
Tod  selbst  in  Anwendung  bringt.  Zwischen  beiden  Verfahrungs- 
arten  ist  kein  so  überaus  grosser  Unterschied,  und  man  wird  daher 
schon  viel  Licht  über  die  einschlagenden  Fragen  verbreiten,  wenn 
man  sich  daran  gewöhnt,  den  systematischen  oder  irgendwie  orga- 
nisirten  Mord  sowie  auch  die  in  den  Formen  der  Justiz  vollzogene 
WegräumuQg  nicht  mit  der  Todesstrafe  zu  verwechseln.  Vor  der 
natürlichen  Gerechtigkeit  würden  vielmehr  diese  Arten  der  Todes- 
verhängung  selbst  die  tödtliche  Rache  herausfordern  und  sich  mithin 
in  diesem  Sinne  die  Todesstrafe  oder  deren  humanen  Ersatz  verdient 
haben.  Dringt  man  bis  auf  den  letzten  Gmnd  der  Verhältnisse,  so 
werden    allerdings    überall   nur  zwei  Möglichkeiten  von  Bedeutung 


—    251     — 

sein.  Entweder  ist  die  Tödtung  ein  Mord,  der  als  ursprüngliches 
Verbrechen  von  Einzelnen  und  Völkern  aus  Raubsucht,  Bosheit  oder 
andern  Beweggründen  geübt  wird,  oder  sie  ist  ein  Racheact,  wohin 
auch  die  zufälligen  Wirkungen  und  Rückwirkungen  eines  nicht  von 
vornherein  auf  das  Aeusserste  angelegten  Streites  und  Kampfes  ge- 
hören, xluf  irgend  einer  Seite  und  in  irgend  einer  Beziehung  wird 
eine  imgerechte  Verletzung  zu  Grunde  liegen ;  denn  nur  aus  der  ur- 
sprünglich verletzenden  Gewalt  kann  die  Berechtigung  der  wiederum 
geübten  Gewalt  hergeleitet  werden.  Alle  den  Tod  bringende  Gewalt 
ist  also  entweder  spontane  Verletzung  oder  gerechte  Rückwirkung 
gegen  eine  solche.  Die  Frage  ist  nun  die,  ob  die  höher  entwickelte 
Humanität  von  dieser  Art  der  Rückwirkung  absehen  könne  oder, 
mit  andern  Worten,  ob  sich  die  veredelte  und  ihrer  Rohheit  ent- 
kleidete Rache,  zu  welcher  sich  Rücksichten  und  Affecte  entgegen- 
gesetzter Art  gesellen,  an  der  Verhängung  anderer  Uebel  genügen 
lasse. 

Die  behäbige  Gelassenheit,  mit  welcher  die  Justiz  ihre  Opfer  in 
den  Tod  schickt,  entfernt  sich  sehr  weit  von  der  unmittelbaren 
Natürlichkeit  der  frischen  oder  Angesichts  der  fortdauernden  Macht 
des  Verletzers  irisch  erhaltenen  Rache.  Die  Natur  dieses  Affects  ist 
zwar  ursprünglich  meist  roher  und  unter  Umständen  grausamer;  aber 
sie  ist  es  selten  über  die  lebendige  Empfindung  hinaus,  und  sie  kommt 
nicht  leicht  in  den  Fall,  einen  Feind,  der  vollkommen  unterworfen 
und  seiner  Selbständigkeit  gänzlich  verlustig  ist,  vom  Standpunkt 
unvergleichlicher  Uebermacht  mit  kaltem  Muthe  abzuschlachten.  Oft 
ist  der  Tod,  den  sie  austheilt,  nur  eine  zufällige  Wirkung  des  un- 
mittelbaren Kampfes  oder  eine  Maassregel  der  Nothwehr.  Die  Rache 
will  den  feindlichen  Willen  treffen  und  niedergebeugt  sehen;  aber 
der  Tod  seines  Trägers  ist  ihr  bisweilen  eine  sich  unerwünscht  ein- 
mischende Vorbedingung  der  Anthuung  einer  geistigen  Pein.  In 
ihrer  fm'chtbarsten  Steigerung  würde  sie  dem  Verletzer  sogar  den 
Zauber  einer  immer  wiederholten  Auferweckung  gönnen,  um  ihn  von 
Neuem  sterben  zu  lassen,  und  sie  würde  sich  um  diesen  Preis  auch 
allenfalls  mit  seinem  ewigen  Leben  aussöhnen.  Sie  würde  sich  hiebei 
bald  erschöpfen  oder  ausgeglichen  finden  und  in  ihrem  Verhalten 
deutlich  beweisen,  um  was  es  ihr  eigentlich  zu  thun  ist.  Mit  dem 
Tode  geht  sie  über  ihr  wahres  Ziel  hinaus,  und  sie  kann  den  Tod 
selbst  nicht  mehr  wollen,  sobald  ihr  die  Möglichkeit  offensteht,  den 
Verletzer  ohnedies  gehörig  zu  treffen.     Hiezu  kommt,  dass  der  ein- 


—    252     — 

zige  Fall,  in  welchem  naturgemäss  die  Tödtung  als  gerecht  erscheiuen 
kann,  nämlich  die  vorgängige  tödtliche  Verletzung  durch  den  Mör- 
der, nur  äusserst  selten  von  dem  Betroffenen  selbst  wahrgenommen 
werden  wird.  Der  erfolglose  Mordversuch  ist  jedenfalls  ein  nicht  so 
klarer  Grund  für  die  Gegentödtung,  die. mehr  als  Wirkung  des 
Kampfes  oder  der  Nothwehr,  nämlich  wahrhafte  Gerechtigkeit  sein 
soll.  Das  Eintreten  der  Augehörigen  oder  überhaupt  Anderer  fährt 
nun  freilich  nicht  zum  Verzicht  auf  die  äusserste  Befriedigung  der 
Rache,  schwächt  aber  da,  wo  nicht  ein  Band  besonderer  Liebe  und 
Aufopferung  den  Rächer  an  den  Verletzten  kettete,  die  Ressenti- 
ments durchschnittlich  eher  ab  und  verschärft  sie' nur  ausnahmsweise. 
Der  Regel  nach  wird  also  der  Rächer,  der  nicht  für  die  eigne  Person 
eintritt,  so  handeln,  als  wenn  ihm  ein  grosses  Unheil  zugefügt,  aber 
nicht  so,  als  wenn  er  selbst  eine  tödtliche  Verletzung  empfangen 
hätte.  Er  wird  die  Unbill  als  gegen  einen  Lebenden,  nämlich  gegen 
ihn  selbst  gerichtet  verfolgen  und  in  dieser  Lage  eher  geneigt  sein, 
sich  mit  der  Uebernahme  eines  Uebels  durch  den  Verletzer  oder  mit 
der  Aufzwingung  eines  solchen  zufrieden  zu  geben.  Ein  geschicht- 
licher Beweis  für  diese  Richtung  der  Menschennatur  ist  das  schon 
im  vorigen  Capitel  erwähnte  Compositionensystem.  Die  Tödtung  des 
Mörders  ist  hienach  im  Allgemeinen  selbst  dann  keine  naturgesetz- 
liche Nothwendigkeit,  wenn  nichts  als  die  Logik  der  gesicherten 
Rache  in  Frage  kommt.  Die  Tödtung  ist  unter  allen  Umständen 
ein  Zuviel,  und  man  muss  in  ihr  stets  einen  Ueberschuss  über  das 
hinaus  erblicken,  was  lebende  Menschen  einander  anthun  dürfen, 
weun  sie  Rache  und  Gerechtigkeit  mit  Verstand  üben  wollen. 

Nimmt  man  aber  auch  an,  dass  der  eben  bezeichnete  Unterschied 
nicht  so  ins  Gewicht  fällt,  imi  die  Gegentödtung  zu  einem  Mehr 
oder  zu  einem  Weniger  zu  machen,  als  die  eigentliche  Gerechtigkeit 
mit  sich  bringt,  so  muss  das  Princip  der  Humanisirung  der  Straf- 
arten die  Sache  vollends  entscheiden.  Mit  dem  Rechtsgefühl  lassen 
sich  glücklicherweise  auch  höhere  Rücksichten  vereinbaren.  Die 
Menschheit,  die  sich  durch  die  Naturgesetze  dem  Verbrechen  unaus- 
weichlich verfallen  sieht  und  ihr  allgemeines  Loos  erkennt,  wird  die 
individuellen  Regungen  der  Rache  nicht  aufheben,  aber  im  Sinne 
der  Solidarität  und  collectiven  Verantwortlichkeit  massigen  und 
veredeln.  Sie  wird  von  der  Zurechnung  nicht  absehen,  aber  den 
mildernden  Umstand  der  allgemeinen,  in  der  Constitution  des  Men- 
schenwesens    angelegten    Fehlbarkeit    und    Verbrechensverhängung 


—     253    — 

gelten  lassen.  Sie  wird  dies  im  Laufe  der  Entwicklung  nicht  blos 
können,  sondern  auch  müssen,  und  so  ergiebt  sich  dann  erst  die 
wahre  Erhabenheit  über  die  ausschliessliche  Geltung  des  Ursprung - 
heben  rohen  Naturspiels.  Die  Natm-  war  nur  ein  roher  Anschlag, 
der  sich  in  seiner  weitern  culturmässigen  Entwicklung  berichtigen 
musste.  So  wird  sogar  der  Gewaltmechanismus  in  edlere  Formen 
gebracht  und  die  Enthaltung  von  der  Tödtung  auch  da  ein  Gesetz, 
wo  es  sich  um  die  gerechte  Rückwirkung  gegen  einen  Mord  handelt. 
Alle  bessere  Sitte  in  der  Wahl  der  Strafmitfcel  beruht  auf  einer  ähn- 
Kchen  Verfcieftmg  und  Einkehr  des  menschlichen  Bewusstseins  in  sich 
selbst.  Das  unselige  Uebel,  welches  der  Mensch  über  den  Menschen 
bringt,  soll  in  allen  Richtungen  und  mithin  auch  da  gemässigt  wer- 
den, wo  es  nur  den  Zweck  hat,  ein  noch  grösseres  moralisches  Uebel 
und  nebenbei  auch  eine  Gefahr  zu  vermeiden. 

5.  Die  Vermenschlichung  der  Strafen  setzt  besser  gewordene 
Menschengruppen  voraus  oder  wenigstens  solche,  für  deren  Lebens- 
weise und  Denkart  die  einfache  Freiheitsbeschränkung  oder  die 
zwangsweise  auferlegte  Arbeit  bereits  ein  hinreichend  empfindliches 
Uebel  bildet.  Ein  Uebel  muss  nämlich  die  Strafe  unter  allen  Um- 
ständen bleiben,  wenn  sie  ihrem  Begriff  entsprechen  und  nicht  über- 
haupt aufhören  soll,  ein  Act  der  vergeltenden  Gerechtigkeit  zu  sein. 
Angesichts  der  nicht  etwa  blos  durch  die  sehr  unzulängliche  Grimi- 
nalstatistik,  sondern  aus  innern  Gründen  feststehenden  Nothwendig- 
keiten  einer  je  nach  Umständen  grössern  oder  geringern  Summe  von 
Vergehen,  könnte  man,  sobald  diese  Summe  durch  Culturverbesse- 
ruugen  sehr  klein  wird,  allenfalls  daran  denken,  die  Gesichtspunkte 
der  Gerechtigkeit  und  Abschreckung,  die  beide  von  der  Natur  in 
der  Rache  vereinigt  sind,  gegen  die  Sorge  um  nachträgliche  Siche- 
rung und  Besserung  zurücktreten  zu  lassen.  Es  gehören  zum  Ver- 
brechen wie  zur  guten  Handlung  positive  Gründe,  und  man  kann 
nicht  behaupten,  dass  die  allgemeine  Menschennatur  als  solche  von 
vornherein  zu  Uebelthaten  neige.  Sind  also  Zustände  vorhanden,  in 
denen  sich  die  Beweggründe  zu  Verletzungen  stark  vermindert  und 
vielleicht  auf  sehr  vereinzelt  vorkommende  Situationen  beschränkt 
finden,  so  mögen  die.  alsdann  eintretenden  verbrecherischen  Abnor- 
mitäten der  Handlungsweise  immerhin  gleich  Störungszuständen  des 
Geistes  aufgefasst  und  ausschliesslich  mit  solchen  moralischen  Heil- 
mitteln behandelt  werden,  in  denen  die  Absichtlichkeit  eines  ver- 
geltenden Uebels  nicht  mehr  als  wesentlicher  Bestandtheil  erscheint. 


—     254    — 

Irgend  ein  üebel  wird  ohnedies  schon  darin  liegen,  dass  der  Ver- 
letzer nach  Art  eines  Unzurechnungsfähigen  in  seiner  Freiheit  beein- 
trächtigt und  zwangsweise  einem  Verfahren  unterworfen  wird,  wel- 
ches gegen  etwaige  neue  Ausschreitungen  seinerseits  sichern  und  ihn, 
wenn  möglich,  dauernd  bessern  d.  h.  mit  einer  nachhaltig  umgewan- 
delten Gesinnung  ausstatten  soll.  Bei  den  kleinem  Vergehen  zeigt 
es  sich  sogar,  dass  der  Mangel  der  Zurechnung  und  das  Anheim- 
fallen an  ein  Besserungsverfahren  ein  grösseres  Uebel  sein  müsste, 
als  die  gemeine  Strafe.  Niemand  will  unter  dem  Vorwande  der  all- 
gemeinen Unzurechnungsfähigkeit  für  geringere  Vergehen  in  öflFent- 
liche  Zucht  genommen  oder  gleich  einem  Gemüthskranken  zu  einem 
Heilverfahren  eingesperrt  oder  wohl  gar  unter  Vormundschaft  gestellt 
werden.  Dies  wäre  aber  der  Sinn  der  allzu  grossen  Philanthropie. 
Ist  der  Verbrecher,  wie  z.  B.  bei  einem  trotz  des  sonst  guten  Cha- 
rakters im  Zorn  verübten  Todtschlag,  selbst  innerlich  von  der  That 
bedrückt,  so  wird  er  zu  irgend  einer  Art  nützlicher  Abbüssung  imd 
zu  einem  Versuch  der  dauernden  Disciplinirung  der  maasslosen  Af- 
fecte  aus  eignem  Antriebe  geneigt  sein.  Selbst  in  den  idealsten  Zu- 
ständen wird  man  aber  auch  nicht  mehr  als  dies  voraussetzen  können, 
und  dann  wäre  es  offenbar  besser  und  rationeller,  eine  geringe  und 
eigentliche  Strafe  bestehen  zu  lassen,  übrigens  aber  nur  dafür  zu 
sorgen,  dass  es  dem  Einzelnen  nicht  an  Gelegenlieit  fehle,  sich  frei- 
willig einem  Besserungsregime  zu  unterwerfen  oder  in  solche  Lebens- 
lagen einzutreten,  in  denen  sein  etwa  nicht  zu  beseitigender  Fehler 
vom  Schadenstiften  möglichst  zurückgehalten  wird. 

Weit  verstandesmässiger  als  die  doch  stets  etwas  nebelhaften 
und  sich  selbst  leicht  missverstehenden  Wünsche,  den  Verbrecher 
von  der  künftigen  Gesellschaft  ausschliesslich  wie  einen  Kranken  be- 
handelt zu  sehen,  sind  die  auf  die  Vorbeugung  gerichteten  Forde- 
rungen. Sind  einmal  Verletzungen  vorhanden,  so  kann  keine  Macht 
der  Welt  die  Natumothwendigkeit  irgend  einer  Art  der  Sühne  gänz- 
lich überwinden.  Die  Formen  der  Ausgleichung  und  Versöhnung 
tnögen  sich  veredeln;  aber  das  Uebel  wird  in  dreierlei  Gewalt,  näm- 
lich als  doppelte  äusserliche  Schädigung  und  dann  noch  als  mora- 
lische Regelwidrigkeit  bestehen  bleiben.  Ueber  alle  drei  Unheils- 
bestandtheile  zusammen  können  nur  die  vorbeugenden  Mittel  positiver 
Art  triumphiren.  Man  muss  danach  streben,  anstatt  den  Anreiz  zum 
Verbrechen  durch  die  drohende  Rache  und  Strafe  aufwiegen  zu 
wollen,  von  vornherein  die  antreibenden  Kräfte  selbst  zu  beseitigen 


—     255     — 

.;ud  durch  zweckmässige  Gestaltung  der  gesellschaftlichen  Verhält- 
nisse die  bösen  Neigungen  zu  entwurzeln.  Lässt  sich  in  dieser  Rich- 
tung auch  noch  keineswegs  eine  vollständige  üeberwindung  aller 
störenden  Regungen  absehen,  so  ist  es  doch  möglich,  ganze  Classen 
von  Verirrungen  wegzuschaffen,  die  fast  ausschliesslich  in  der  socialen 
Organisation  ihren  Gnmd  haben,  und  vermöge  deren  eine  Summe 
von  Vergehungen  wie  von  einer  grossen  Maschine  producirt  wird. 
NotH,  Rohheit,  Unwissenheit  und  positiver  Aberglaube  sind  aller- 
dings nicht  die  einzigen  Schöpfer  aller  Verbrechen.  Es  bleiben  auch 
genug  für  den  Uebermuth  und  das  Raffinement  übrig.  Wohl  aber 
sind  beide  Arten  von  Entstehungsgründen  für  die  überwiegend  grosse 
Masse  der  Verbrechen  als  Verzweigningen  einer  und  derselben  ün- 
zuträglichkeit  der  gesellschaftlichen  Verfassungszustände  aufzufassen. 
Der  Uebermuth  ist  nur  das  Gegenstück  der  Gedrücktheit  durch  die 
Noth,  und  er  würde  mit  seiner  verdorbenen  Verkünstelung  und  seinen 
maasslosen  Begehrlichkeiten  von  ungerechter  und  oft  vergifteter  Art 
gar  nicht  in  dem  thatsächlichen  Umfange  existiren,  wenn  ihm  nicht 
Mangel,  Elend  und  Ohnmacht  auf  der  andern  Seite  gegenüberständen. 
Durch  die  letztern  wird  seine  Kraft  in  einer  doppelten  Beziehung 
erzeugt;  erstens  empfängt  er  von  hier  seinen  Reichthum,  und  zwei- 
tens kann  er  denselben  gegen  die  mit  der  Noth  Kämpfenden  als  eine 
um  so  stärkere  Waffe  gebrauchen.  Will  man  daher  die  Ungerechtig- 
keit einschränken,  so  muss  man  die  Verhältnisse  von  Ohnmacht  und 
Uebermacht  politisch  und  wirthschaftlich  ausgleichen. 

Das  entscheidende  Princip  wird  die  Ablenkung  der  menschlichen 
Kräfte  von  dem  gegenseitigen  Kampf  durch  die  positive  Hinleitung 
derselben  auf  die  Arbeit  an  der  Natur  sein.  Der  Wetteifer  muss 
fortbestehen ;  aber  er  muss  sich  darauf  richten,  in  der  Üeberwindung 
der  Naturhindernisse  des  veredelten  Daseins  die  grössten  Erfolge  zu 
erzielen.  Die  Einzelnen  und  die  Völker  können  nur  dann  friedlich 
und  gerecht  nebeneinander  hergehen  oder  gar  sich  positiv  in  der 
besten  Form  und  am  nachhaltigsten  fördern,  wenn  sie  sich  ent- 
schliessen,  statt  zum  grössten  Theil  vom  offenen  oder  verdeckten 
Raube,  ausschliesslich  von  ihrer  an  der  Natur  bethätigten  Arbeit  zu 
leben.  Ein  System,  in  welchem  die  Ausbeutung  des  Menschen  durch 
den  Menschen  als  nothwendiger  Bestandtheil  figurirt,  ist  in  der 
Wurzel  ungerecht  und  muss  daher  auch  weitere  Ungerechtigkeiten 
in  allen  Richtungen  massenhaft  hervorbringen.  Wo  die  Aneignung 
fremder  Arbeit  den' Reichthum  der  Minderzahl  schafft,  da  ist  schon 


—     256     — 

hiemit  der  Raub  zum  herrschenden  Motiv  gemacht,  und  man  kann 
sich  nicht  wundern,  wenn  er  sich  in  den  kleinern  Angelegenheiten 
nicht  ausmerzen  lässt.  So  bedeutsam  nun  für  die  gegenseitigen  Be- 
ziehungen der  Völker  und  der  Einzelnen  die  Ablenkung  der  sich 
zum  Raub  versucht  fühlenden  Kräfte  auf  die  Natur  auch  ist,  so 
kann  diese  versöhnende  Richtung  der  Thätigkeiten  doch  unter  den 
heutigen  Culturverhältnissen  nur  äusserst  beschränkt  zur  Anwendung 
kommen.  Solange  das  Ablohnungssystem  der  Arbeit  besteht  und 
der  Zugang  zur  Natur  hiemit  für  die  grosse  Masse  der  Menschen 
versperrt  bleibt,  kann  die  Arbeit  direct  nicht  viel  ausrichten,  sondern 
bleibt  für  ihre  Erfolge  an  den  Kampf  des  Menschen  mit  dem  Men- 
schen gebunden.  Eine  solche  Einrichtung  muss  aber  stets  viele  Ver- 
brechen und  Vergehen  in  ihrem  Gefolge  haben,  indem  sie  die  Inte- 
ressen und  Begierden  in  einem  künstlich  gesteigerten  feindlichen  Con- 
flict  erhält. 

6.  Erinnern  wir  uns  nach  dem  Blick,  den  wir  auf  die  Störung  en 
der  bessern  Menschhchkeit  gethan  haben,  nun  wieder  daran,  dass 
die  edlere  Ausprägung  menschhcher  Sitte  schliesslich  immer  am 
meisten  von  dem  positiven  Gehalt  abhängen  wird,  den  man  ihr  über 
die  blosse  Ueberwindung  der  Hemmungen  hinaus  zu  geben  vermag. 
Wir  gingen  davon  aus,  dass  der  Mensch  schon  in  den  Generationen 
besser  zu  formen,  zu  produciren  und  zu  sichten  sei.  Die  Griechische 
Kunst,  den  Menschen  in  Marmor  zu  idealisiren,  wird  nicht  das  gleiche 
geschichtliche  Gewicht  behalten  können,  sobald  die  weniger  künst- 
lerisch spielende  und  daher  für  das  Lebensschicksal  der  Millionen 
weit  ernstere  Aufgabe  in  Angriff  genommen  wird,  die  Menschen- 
bildung in  Fleisch  und  Blut  zu  vervollkommnen.  Diese  Art  Kunst 
ist  keine  blos  steinerne,  und  ihre  Aesthetik  betrifft  nicht  die  An- 
schauung todter  Formen  und  die  davon  abgeleiteten  Eindrücke,  son- 
dern das  ursprüngliche  Leben  und  Weben  der  Empfindungen  und 
Gefühle  lebendiger  Wesen.  Auch  der  von  den  Philologen  so  ge- 
nannte Humanismus  hat  nicht  viel  mit  echter  Menschlichkeit  zu 
schaffen.  Er  steht  tief  unter  der  Griechischen  Kunstüberlieferung; 
deim  die  Hellenischen  Marraormenschen,  welche  glücklicherweise  un- 
mittelbar zu  unsern  Sinnen  und  nicht  das  Griechisch  der  Pedanten 
reden,  dürften  alle  andern  Reste  des  Alterthums  noch  am  längsten 
überdauern.  Sie  dürften  noch  dann  etwas  bedeuten,  wenn  schon 
der  Inhalt  der  Griechischen  Literatur  zu  den  abgelegten  Bildungs- 
stoffen einer  überwundenen  ersten  Einachulungsphase  der  neuen  Zeit- 


—     257     — 

alter  gerechnet  werden  wird.  Der  aber  schon  längst  verrottete  Phi- 
lologenhiimanismus,  der  eigentlich  nur  im  Zeitalter  der  Renaissance 
einige  von  der  Folie  der  mittelalterlichen  Trägheit  günstig  gehobene 
Frische  für  sich  hatte,  —  diese  abgestorbene  und  immer  mehr  aus- 
getrocknete Pflanze  von  vermeintlich  dauernder,  schon  ursprünglich 
überschätzter,  jetzt  aber  nicht  nur  vollends  nichtiger,  sondern  sogar 
schädlicher  Bedeutung  für  die  Cultur  hat  ihr  Wesen  und  Unwesen 
durch  vier  Jahrhunderte  wohl  zur  Genüge  sichtbar  gemacht.  Man 
kennt  jetzt  ihren  Bau  mehr  als  hinlänglich*,  und  man  wird  sich 
weiterhin  nicht  versucht  finden,  ihre  Elemente  auch  nur  als  zum 
Dünger  der  Zukunft  geeignet  gelten  zu  lassen.  Die  sogenannte  hu- 
manistische Bildungsart  entspricht  ihrem  Namen  so  wenig,  dass  man 
sie  getrost  als  eine  der  Unmenschlichkeiten  bezeichnen  kann,  mit 
denen  die  Jugend  heimgesucht  und  um  das  frische  Fühlen  und  Wissen 
betrogen  wird. 

Die  Menschlichkeit  der  Griechen  beschränkte  sich  in  allen  Gat- 
tungen auf  die  künstlerische  Form  und  war  übrigens  im  Leben  nicht 
von  sonderlichem  Werth,  sobald  man  die  falschen  Idealisirungen  der 
neuern,  offenbar  romantischen  Auffassungen  entfernt  und  ausserdem 
den  höhern  Maassstab  unserer  heutigen  Forderungen  anlegt.  List 
und  Trug  der  Hellenischen  Welt  spiegelten  sich  schon  im  Odysseus 
ihrer  Urdichtung,  sowie  die  rohe  Grausamkeit  in  Achilleus  und  seiner 
an  Hektor  ausgelassenen  Rachewuth.  Strengere  Wissenschaft  ist  in 
der  classischen  Zeit  nur  in  geringem  Umfang  hervorgebracht  wor- 
den, und  so  bleibt  denn  auch  in  der  Literatur,  also  namentlich  bei 
den  Dichtem  und  Geschichtsdarstellem  nichts  als  die  ebenmässige 
Form  übrig,  die  uns  Neueren  überdies  zunächst  als  ein  unüb  er  treff- 
bares Muster  menschlicher  Natürlichkeit  erscheinen  konnte,  weil  uns 
der  Byzantinismus  und  das  Mittelalter  in  lauter  Unnatur  begraben 
hatten.  Dieser  Zauber  des  Contrastes,  der  noch  heute  so  viele  Geister 
gefangen  hält,  wird  jedoch  vollständig  gelöst  werden,  sobald  die 
heutigen  Nach-  und  Fortwirkungen  des  Mittelalters  endgültig  ver- 
schwinden. Alsdann  wird  die  grössere  Freiheit  des  rein  Menschlichen 
in  den  verschiedensten  Richtungen  Thaten  verrichten  und  Werke 
schaffen,  die  auch  in  der  Form  für  das  lebendige  Dasein  einen 
grössern  Werth  einschliessen  werden,  als  die  sämmtlichen  todten 
Ueberlieferungen  der  Vergangenheit. 

7.   Die  Kunst  beginnt  in  der  Natur  mid  wird  dort  in  der  zweck- 

Dühriiig,  Cursus  der  Philosophie.  1" 


—     258     — 

und  ebenmässigen  Einrichtung  -  des  Kräftespiels  und  der  Lebens- 
functionen  mit  mehr  oder  minder  Erfolg  ausgeübt.  Von  dem  Men- 
schen soll  diese  Kunst  an  seinem  eignen  Leibe  und  an  den  Grup- 
pirungsformen  der  gesellschaftlichen  Gruppen  fortgesetzt  werden.  Die 
schöne  Kunst,  im  gewöhnlichen  und  engem  Sinne  des  Worts,  und 
innerhalb  ihres  Gebiets  vornehmlich  die  Poesie,  ist  nach  ihrer  bis- 
herigen Rolle  nur  als  eine  Art  Vorspiel  für  bedeutendere  und  tiefer 
wurzeltreibende  Regungen  des  menschlichen  Wesens  anzusehen.  Von 
der  Einmischung  des  Kinderhaften,  ja  überhaupt  von  dem  nicht  blos 
kindlichen  sondern  auch  kindischen  Charakter,  der  die  Kunst  und 
Poesie  der  bisherigen  Menschheitsepoche  mit  falschen  Spielen  der 
Phantasie  und  albernen  Auffassungen  der  Dinge  und  des  Lebens 
entstellt  hat,  soll  hier  nicht  eingehender  geredet  werden.  Wohl 
aber  ist  im  Hinblick  auf  die  Sitte  daran  zu  erinnern,  dass  die  Dich- 
tung, welche  in  die  Leidenschaften  gestaltend  und  veredelnd  ein- 
greifen mag,  sich  doch  auch  thatsächlich  der  Fortpflanzung  des  Ver- 
kehrten im  Wollen  und  Wissen  und  zwar  in  der  umfassendsten 
Ausdehnung  dienstbar  erwiesen  hat.  Ihr  haftete  stets  dieselbe  Ueber- 
lieferung  an,  welche  die  Mängel  und  Rückständigkeiten  des  wirk- 
lichen Lebens  verschuldete.  Ja  sie  stattete  die  vom  Leben  über- 
wundenen Vorstellungen  durch  eine  Art  conventioneller  Galvanisirung 
mit  dem  trügerischen  Scheine  der  idealen  Unsterblichkeit  aus,  indem 
sie  die  Fiction  des  Absurden  als  ein  Recht  künstlerischer  Freiheit 
in  Anspruch  nahm.  Auf  diese  Weise  erhob  sie  sich  nur  wenig  über 
das  Kindheitsstadium  der  Menschheit  und  Menschlichkeit.  Sie  lernte 
im  Grossen  und  Ganzen  niemals,  sich  die  reine  und  hohe  Aufgabe 
stellen,  die  naturwahren  Empfindungen,  Gemüthsbewegungen,  An- 
schauungen und  Gedanken  in  einer  ungemischten,  geklärten  und 
fictionslosen  Weise  vorzuführen.  Die  erhabene  poetische  Function, 
durch  welche  dem  Menschen  Herz  und  Sinne  erst  vollends  aufge- 
schlossen und  eines  gesteigerten,  aber  trotzdem  maassvolleren  Fühlens 
und  Wollens  theilhaft  gemacht  werden,  musste  auf  diese  Weise  stark 
beeinträchtigt  werden.  Setzen  wir  aber  auch  als  Ideal  der  Zukunft 
eine  mythenfreie,  superstitionslose  und  direct  menschliche  Poesie  und 
Kunst  voraus,  so  werden  die  von  ilir  abzuleitenden  Affectionen  und 
Veredlungen  doch  vergleichungs weise  nur  als  Wirkungen  zweiter 
Ordnung  gelten  dürfen,  wenn  man  auf  der  andern  Seite  die  hohe 
Emmgenschaft  erwägt,  die  in  einer  physiologisch  stärker  ausgeprägten 


—     259     — 

Befähigung  zur  eignen  und  ursprünglichen  Hervorbringung  lebendiger 
und  maassvoller  Wahrnehmungen  und  Erregungen  enthalten  sein 
müsste.  Die  intensive  Kraft  des  Genies  wird  zwar  stets  nur  in  der 
Vereinzelung  seltener  individueller  Steigerungen  vorhanden  sein  kön- 
nen; aber  auch  das  allgemeine  Niveau  mag  sich  nach  dieser  Höhe 
hin  heben  und  so  die  Masse  der  Menschen  und  nicht  blos  deren 
Empfänglichkeit,  sondern  auch  deren  ursprünghche  und  selbständige 
Thätigkeit,  also  auch  die  positive  Kraft  zum  entgegenkommenden 
Verständniss  auf  der  Stufenleiter  der  Typusveredlung  einen  höheren 
Platz  einnehmen  lassen.  Der  Urquell  der  Poesie  ist  das  gesteigerte 
und  ebenmässig  geformte  Lebensgefühl.  Die  Wirkung  auf  diesen 
Urquell  ist  aber  wichtiger,  als  die  Sorge  um  die  blos  abgeleiteten, 
erst  durch  die  Uebertragung  auf  Andere  in  grösserer  Breite  fongi- 
renden  Erregungen.  Die  Wellenspiele,  die  von  der  Poesie  im  Ge- 
müth  erzeugt  werden,  haben  keinen  grossen  Werth  für  die  dauernde 
Veredlung  des  Menschen,  solange  nicht  die  eigne  innere  Verfassung 
des  mitempfindenden  Wesens  mit  einer  nachhaltigen  Gestaltungskraft 
in  einigem  Maasse  ausgestattet  ist. 

8.  Wenn  die  in  einem  weiteren  und  ernsteren  Sinne  des  Worts 
ästhetische  Formung  der  Triebe  und  Leidenschaften  zu  einem  grossen 
Theil  in  der  Poesie  ihren  Ausdruck  findet  und  zu  einem  andern 
Theil  von  der  Poesie  ausgeht,  so  wird  die  Sprache  nicht  nur  eine 
praktisch  hochwichtige  Rolle  spielen,  sondern  auch  ein  treffendes 
Bild  für  den  Entwicklungsgrad  der  höheren  Menschlichkeit  abgeben. 
An  der  Sprachveredlung  mag  Jeder  leichter  als  vermöge  anderer 
Merkmale  die  Unterschiede  der  Cultur  und  der  Verwahrlosung  er- 
kennen. Eine  zugleich  affectiv  volle  und  im  Verstände  genaue 
Sprachgestaltung  ist  sogar  die  Vorbedingung  eines  befriedigenden 
und  bequemen  Verkehrs.  Die  Verunstaltungen  der  Sprachgewohn- 
heiten tragen  die  Spuren  geschichtlicher  Thorheiten  und  Uebelstände 
deutlich  genug  zur  Schau.  Welche  Verrenkung  des  Natürlichen 
liegt  nicht  beispielsweise  in  der  Anrede  eines  Einzelnen  als  einer 
Mehrheit  unä  als  eines  Dritten!  Das  ist  die  Unnatur  und  Unter- 
thänigkeit  Byzantinischer  Art.  Auch  die  Art  von  Logik,  die  sich 
in  der  vornehmlich  als  gebildet  bezeichneten  Sprachgestaltung  der 
Literatur  verkörpert  hat,  und  die  sehr  oft  mehr  Unlogik  als  der 
entsprechende  Volksdialekt  enthält,  würde  den  Anfechtungen  weniger 
entgehen,  wenn  nicht  grade  die  Sprachzergliederer  dem  Autoritären 

17* 


—     260     - 

und  Privilegienhaften  am  blindesten  ergeben  wären.  Das  falsche 
Denken  und  das  falsche  Fühlen  verkörpern  sich  oft  schon  in  den 
Bezeichnungen  und  noch  weit  mehr  in  den  Bildern,  Vergleichungen 
oder  noch  volleren  Sprachwendungen.  Die  Unsitte  hat  gleich  der 
Sitte  auch  hier  ihr  Reich,  so  dass  man  sich  auch  in  der  Sprache 
nicht  ohne  Kritik  dem  thatsächlichen  Herkommen  zu  unterwerfen 
hat.  Hier  reden  wir  jedoch  nur  von  dem  Werth,  welchen  die  Sprache 
als  Ausdruck  und  Hülfsmittel  der  edleren  Menschheitsausprägung  in 
Anspruch  nehmen  kann.  Solange  die  Sprache  der  Yolksmasse  der 
Vernachlässigung  anheimfällt  und  nur  die  sehr  rasch  in  eine  träge 
Stauung  gerathende  und  in  der  Trennung  von  ihren  Quellen  schliess- 
lich absterbende  Büchersprache  einer  sehr  zweideutigen  Pflege  ge- 
würdigt wird,  kann  das  allgemein  seinsollende  Yerständigungsmittel 
seinen  Beruf  noch  nicht  zu  einem  Zehntel  erfüllen.  Die  Kluft  zwi- 
schen den  verschiedenen  Schichten  bleibt  alsdann  zu  gross,  als  dass 
in  Rücksicht  auf  eine  bewusstere  Sitte  und  ein  bewussteres  Recht 
die  in  dieser  Richtung  unentbehrliche  Gemeinsamkeit  vorhanden  sein 
könnte. 

Der  durch  die  Sprache  vermittelte  Verkehr  schliesst  Alles  ein, 
was  von  den  gröbsten  Interessen  bis  zu  den  feinsten  Rücksichten 
hinauf  für  gute  oder  schlechte  Sitte  in  Frage  kommt.  Auch  die 
zarteren  Benehmungsarten  spiegeln  sich  in  den  gewohnheitsmässigen 
Sprachwendungen.  Die  Rohheit  der  Natur  wird  durch  das  Gewählte 
der  rücksichtsvollen  und  im  echten  Sinne  des  Worts  bescheidenen 
Ausdrucksart  verfeinert.  Die  leichtesten  Verletzungen,  die  sich  un- 
willkürlich und  ohne  böse  Absicht  einfinden  mögen,  werden  ver- 
mieden, und  wenn  auch  oft  von  einer  verschnörkelten  Sitte  schliess- 
lich nur  die  todten  Formen  übrig  bleiben,  so  ist  dies  kein  stich- 
haltiger Einwand  gegen  den  Vortheil,  den  die  in  den  Grenzen  wahrer 
Natur  edel  ausgebildeten  Gesetze  des  geselligen  Verkelirs  an  sich 
selbst  haben  müssen.  Hohlheit  und  Verzerrung  sind  allerdings  hier 
gegenwärtig  das  Ueberwiegende;  aber  hieraus  folgt  nur,  dass  man 
sich  im  ferneren  Menschheitsleben  zu  bemühen  habe,  die  edle  Ein- 
fachheit des  Natürhchen  mit  der  bewussteren  Rücksicht  auf  die  zu 
meidenden  Verletzungen  zu  vereinbaren.  Auch  die  Geselligkeits- 
gewohnheiten und  die  ihnen  dienstbaren  Sprachwendungen,  Be- 
grüssuugsformeln  oder  sonstigen  Aeusserungsarten  sollen  in  jeder 
Beziehung  wahr  sein.     Wenn  sie  in  der  Wirklichkeit  unserer  hier 


—     261     -. 

ebenso  wie  anderwärts  gemischten  und  aufzulösenden  Zustände  ein 
Reich  der  Heuchelei  und  Verlogenheit  vorstellen,  so  ist  eine  solche 
Beschaffenheit  glücklicherweise  kein  dauerndes  Natur-  und  Cultur- 
gesetz. 

Wer  an  der  späteren  allgemeinen  Verbreitung  einer  wahr  und 
gut  gearteten,  die  gesellige  Rohheit  überwindenden  Sitte  zweifeln 
möchte,  der  möge  bedenken,  dass  wir  in  einem  verwandten,  aber 
leichter  verständhchen  Fall  trotz  aller  Rückständigkeiten  der  bis- 
herigen Geschichte  die  spätere  Nothwendigkeit  der  Veredlung  bereits 
klar  genug  absehen  können.  Trunk  und  Völlerei  oder  Annäherungen 
daran,  also  überhaupt  Ausschweifungen,  die  sich  an  die  gemeinsten 
Triebe  des  Eigenlebens  anknüpfen,  werden  grade  in  den  höheren 
Gesellschaftsschichten  und  zwar  zum  grossen  Theil  aus  Langerweile 
im  weitesten  Umfange  beliebt  und  von  Geschlecht  auf  Geschlecht 
als  herkömmliche  Sitte  vererbt.  Ebenso  ist  die  abstumpfende  Nar- 
kose in  oft  schon  von  vornherein  ekelhaften  Formen  ein  Stückchen 
Sitte  oder  vielmehr  Unsitte,  in  welcher  sich  die  Völker  nach  Maass- 
gabe ihrer  verschiedenen  Mittel  ergehen,  und  mit  welcher  sie  den 
Typus  besserer  Menschlichkeit  verunstalten.  Ob  es  die  Unsauber- 
keiten  der  Einlassung  mit  dem  Tabak  oder  die  Verzückungen  des 
Opiumrausches  sind,  oder  ob  die  Getränke  und  Nahrungsmittel  wider- 
wärtig erregende  oder  überhaupt  für  die  feinere  Empfindung  ver- 
werfliche Eigenschaften  haben,  —  dies  Alles  entscheidet  ebensowenig, 
wie  die  grössere  oder  geringere  Barbarei  in  der  Wahl  der  umnebeln- 
den oder  sonst  schädlichen  Stoffe,  gegen  den  allgemeinen  Grundsatz, 
dass  jede  Art  und  jedes  Maass  von  Abirrung  in  dieser  Richtung  mit 
einer  vervollkommneten  Sittengestaltung  unverträglich  werden  müsse. 
Nicht  blos  das  eigne  Befinden,  sondern  auch  der  Eindruck  im  ver- 
edelten geselligen  Verkehr  hängt  von  der  Ausmerzung  solcher  Miss- 
gebilde eines  falschen  Lebensgenusses  ab.  Die  Wüstheit  oder  gar 
Abgestumpftheit  der  Gehirnverrichtungen  in  der  allgemeinen  Behand- 
lung und  in  den  besondern  Geschäften  des  Lebens  ist  zu  einem 
grossen  Theil  auf  jene  gröberen,  rein  sinnlichen  Elemente  der  Un- 
sitte zurückzuführen.  Auch  die  öffentlichen  Angelegenheiten  haben 
hierunter  in  mehr  als  einer  Hinsicht  zu  leiden;  jedoch  sind  sie  es 
auch,  zu  deren  Stand  eine  Gesellschaft  passt,  die  ihren  verfügbaren 
Ueberschuss  an  Kräften  und  Mitteln  vielfach  nicht  anders  unterzu- 
bringen  weiss^    als   indem  sie  beide  im  Rafßnement  naturwidriger 


—     262     — 

Gemissmittel  und  in  Ausschweifangen  vergeudet  und  verdirbt.  Der 
Mangel  an  Gelegenheiten  zu  einer  besseren  Thätigkeit  und  zu  einem 
wahrhaft  gesteigerten  Lebensgenuss  erklärt  hier  sehr  viel.  Man  darf 
nicht  erwarten,  dass  die  auf  eine  Privatexistenz  unpolitischer  und 
unsocialer  Art  reducirten  Menschen  sonderlich  bessere  Wege  finden, 
ihre  Lebenslust  geltend  zu  machen.  Mit  der  ümschaffung  des  ge- 
sammten  Gemeinlebens  werden  daher  auch  für  jene  gröbsten,  aber 
darum  nicht  unwichtigsten  Grundlagen  der  Sitte  bessere  Stützen  zu 
gewinnen  sein. 


FGnfter  Abschnitt. 

Gremeinwesen  und  G-escMclite. 


Erstes   Oapitel. 
Freie    Gesellschaft. 

Jjine  genauere  und  den  Namen  der  Wissenschaft  verdienende  Lehre 
von  den  Grundgesetzen  des  menschlichen  Gemeinlebens  ist  erst  in  ver- 
einzelten Anfängen  vorhanden.  Sie  darf  sich  nicht  mit  Thatsachen 
begnügen,  sondern  muss  ableitend  und  gestaltend  verfahren.  Die 
einzige  bedeutende  Probe  dieser  Richtung  ist  die  Rousseausche  Arbeit 
über  den  Gesellschaftsvertrag  nebst  den  ihr  zu  Grunde  liegenden 
oder  verwandten  Speculationen  desselben  grossen  Schriftstellers.  Zu- 
treffend konnte  er  behaupten,  dass  für  das  natürliche  politische 
Recht  und  für  die  entsprechende  Politik  noch  erst  der  Grund  zu 
legen  sei;  denn  Hobbes  hatte  zwar  in  originaler,  aber  rückläufig 
verfehlter  Richtung  im  Sinne  des  Despotismus  geschrieben.  Die. 
Aufstellungen  Macchiavellis  hatten  nicht  einer  natürlichen  Con- 
struction  des  Gemeinwesens,  sondern  nur  den  Maximen  gegolten, 
welche  in  verderbten  Zuständen  den  Kampf  der  Regierenden  mit 
den  Regierten  im  Sinne  der  ersteren  regeln  sollten.  Diese  Maximen 
setzten  den  zwiespältigen  Unterdrückungsstaat  mit  seinem  ewigen 
innern  Kriegszustand  voraus,  und  der  pessimistische  Formulirer  der 
von  allen  Rechtsrücksichten  entbundenen  Regeln  der  List  und  Ge- 
walt konnte  nicht  daran  denken,  die  Bestandtheile  und  Vorbedin- 
gungen eines  naturgemäss  gesunden  Gemeinwesens  darzulegen,  üebri- 
gens  hat  aber  diejenige  Halbwissenschaft,  die  sich  Politik  nennt  und 
von  den  im  Dienste  der  Regierungen  stehenden  Historikern  oder 
Juristen  behandelt  worden  ist,  nichts  aufeuweisen,  was  im  günstig- 
sten Falle  über  die  grob  wahrnehmbaren  Thatsachen  und  deren  ein- 


—     264     — 

seitige  Beleuchtung  hiuausreichte.  So  ist  denn  bis  auf  den  heutigen 
Tag  Rousseau  der  einzige  bedeutende  Vorgänger  auf  der  neuen  Bahn 
geblieben.  Jedoch  hat  er  den  Grund  nicht  tief  genug  gelegt,  indem 
er  von  der  Volkssouverainetät  ausging  und  den  Willen  des  Einzelnen 
allzu  leichten  Kaufs  einem  Mehrheitswillen  unterworfen  sein  liess. 

Das  politische  Recht  muss  sich  ebenso,  wie  alle  Gerechtigkeit, 
auf  ein  einfaches  Schema  der  Verhältnisse  zwischen  einzelnen  Men- 
schen zurückführen  lassen.  Der  einzige  Unterschied  wird  bei  diesen 
Ableitungen  darin  bestehen,  dass  die  Beziehungen  von  zwei  Menschen 
nur  für  die  Entwicklung  der  obersten  Principien  ausreichen,  während 
die  Verwirklichung  derselben  die  Hinzufügung  einer  Mehrheit  gleich- 
sam als  einer  dritten,  in  den  besondem  Streit  nicht  verwickelten 
oder  wenigstens  dabei  nicht  gleich  stark  betheiligten  Macht  voraus- 
setzt. Der  beliebige  Wille  wird  hier  an  sich  selbst  gar  nichts  gelten, 
sondern  auch  dann ,  wenn  er  Allen  in  übereinstimmender  Weise  an- 
gehört, noch  an  der  natürlichen  Gerechtigkeit  zu  messen  sein.  Zwei 
Menschen  können  eine  Gesellschaft  nur  durch  Verständigung  über 
ein  Zusammenwirken  bilden.  Sie  mögen  sich  in  Rücksicht  auf  die 
Wirthschaft  oder  andere  Zwecke  verbünden  und  unterstützen;  aber 
sie  sind  nicht  im  Stande,  sich  gegenseitig  die  Enthaltung  von  Ver- 
letzungen eigentlich  zu  garantiren.  Im  Falle  eines  Streits  mag  ein 
moralisches  Band  des  Willens  ausgleichend  mitwirken;  aber  eine 
äussere  Garantie,  dass  nicht  Kampf  und  Gewalt,  ganz  wie  in  der 
ursprünglichen  Isolirung,  die  einzigen  Austragsformen  und  hiemit 
ebenso  die  Stützen  des  Rechts  wie  des  Unrechts  werden,  ist  offenbar 
nicht  vorhanden.  Denkt  man  sich  Beide  mit  gleicher  Stärke  und 
Klugheit  sowie  auch  sonst  mit  gleichen  Mitteln  des  Angriffs  und 
der  Vertheidigung  ausgerüstet,  so  wird  die  Zuflucht  zu  Gewalt  und 
List  allerdings  durchschnittlich  dem  Einen  nicht  mehr  Erfolg  als 
dem  Andern  in  Aussicht  stellen,  und  es  wird  daher  Jeder  eher  ge- 
neigt sein,  von  unnützen  Versuchen  abzustehen  und  die  anderseitige 
Einsicht  zur  Verständigung  anzurufen.  Indessen  ist  weder  diese 
Gleichheit  so  genau  bemessen,  noch  sind  die  Zufälle  so  unerheblich 
oder  die  Leidenschaften  von  vornherein  so  gezügelt,  dass  sich  auf 
die  gegenseitige  Enthaltung  vom  Kampf  sonderlich  rechnen  Hesse. 
Jm  Allgemeinen  wird  die  Vereinigung  von  zwei  Personen,  welche 
durch  Interesse  oder  auch  durch  sympathische  Regmigen  gestiftet  sein 
mag,  nur  soviel  Frieden  einschliessen,  als  die  Zwischenfiille  der  sich 
kreuzenden  Interessen  gestatten.     Allerdings  gehört  zur  Feindschaft 


—     265     — 

und  Veruneiuigaug  so  gut  eine  besondere  Ursache,  wie  zur  Ver- 
gesellschaftung und  Freundschaft.  Auch  ist  die  menschliche  Natur 
in  ihrem  reineren  und  besseren  Typus  nicht  auf  gegenseitige  Berau- 
bung angelegt.  Dennoch  genügt  aber  schon  dieselbe  Rohheit ,  die 
dem  unentwickelten  Verstände  in  seiner  Einsichtsgestaltung  anhaftet, 
auch  im  Gebiet  des  Willens  und  der  noch  nicht  an  das  Maass  ge- 
wöhnten Triebe  und  Leidenschaften,  um  gelegentlich  die  schärfsten 
Conflicte  zu  erzeugen.  Nun  hat  in  unserm  Schema  Keiner  von  Beiden 
das  Recht,  dem  Andern  seinen  Willen  aufzudrängen;  wie  die  Ver- 
bindung freiwillig  ist,  so  sind  es  auch  alle  einzelnen  Acte  in  der- 
selben; ja  in  der  Summe  dieser  Acte  besteht  eigentlich  das  ganze 
Verhältniss.  Die  einseitige  Verletzung  eines  Abkommens  ist  natür- 
lich ein  unrecht;  aber  die  Berufung  auf  die  natürliche  Gerechtigkeit 
kann  sich  nur  an  den  Verletzer  selbst  richten,  der  alsdann  in  eigner 
Sache  entscheidet.  Von  üeber-  oder  Unterordnung,  also  überhaupt 
von  Herrschaft  kann  in  dem  Verhältniss  Beider  naturgemäss  nicht 
die  Rede  sein.  Bringt  irgend  ein  Zweck  ein  planmässiges  Zusammen- 
wirken mit  sich,  so  wird  die  zeitweilige  Uebertragung  der  Leitung 
an  den  einen  Theil  nicht  im  Entferntesten  eine  Herrschaft  ein- 
schliessen.  Die  Unterordnung  der  eignen  Thätigkeit  nach  Maassgabe 
des  vereinbarten  Plans  ist  eine  rein  technische  und  überdies  frei- 
willige, die  jeden  Augenblick  zurückgenommen  werden  kann,  wenn 
sie  die  Gleichheit  der  Interessen  erheblich  kreuzen  sollte.  Ausserdem 
muss  sie  zwischen  beiden  Theilen  wechseln,  damit  auch  der  Schein 
eines  eigentlichen  Vorrechts  vermieden  werde.  In  einem  derartigen 
Verhältniss  liegt  mithin  das  höchste  Fundamentalprincip  alles  voll- 
kommenen menschlichen  Gemeinlebens,  nämlich  die  Ausschliessung 
von  Hen'schaft  und  Knechtschaft  und  mithin  aller  eigenthchen  Hen- 
schaft  angedeutet.  Die  freie  Vergesellschaftung  kann  nie  zum  Herren- 
thmn  des  Einen  über  den  Andern  führen. 

2.  Es  würde  ein  erster,  äusserst  folgenreicher  Fehler  sein,  wenn 
man,  im  Hinblick  auf  den  Mangel  an  äussern  und  körperlich  zwin- 
genden Garantien  der  Gerechtigkeit,  nun  einen  mächtigen  Dritten 
fordern  wollte,  der,  stärker  als  jeder  von  den  beiden  Andern,  zum 
Frieden  und  Recht  nöthigte.  Dies  würde  nur  das  Recht  von  Sklaven 
ergeben  und  auf  der  willkürlichen  Gnade  beruhen.  Zwischen  den 
Beiden  auf  der  einen  und  dem  Dritten  auf  der  andern  Seite  würde 
ein  Verhältniss  von  Knechtschaft  und  Herrschaft  und  als  Zubehör 
eine  fortdauernde  Feindschaft  vorwalten.     Um  zur  Vergewaltigung 


-     266     - 

zu  gelangen,  braucht  man  den  Dritten  nicht.  Bringt  nämlich  der 
Kampf  zwischen  den  Beiden  einen  entscheidenden  Sieg  des  Einen 
mit  sich,  der  jedoch  nicht  in  die  Tödtung  sondern  nur  in  die  Ent- 
waffnung und  sonstige  Wehrlosmachung  des  Andern  ausläuft,  so 
haben  wir  die  Sklaverei,  gleichviel  ob  das  Recht  oder  das  Unrecht 
triumphirte.  Sobald  der  Kampf  entscheiden  soll,  ist  nicht  mehr  das 
Recht,  sondern  nm-  noch  die  Mechanik  der  Macht  in  Frage.  Der 
verhältnissmässig  beste  Ausgang  müsste  daher  stets  die  Unentschieden- 
heit  sein,  und  in  der  That  ist  auch  die  gegenseitige  Gleichheit  der 
Kräfte  ursprünglich  und  in  allen  folgenden  Entwicklungen  der  Ge- 
schichte die  beste  Bürgschaft  dafür,  dass  nicht  die  Macht  an  die 
Stelle  des  Rechts  trete,  und  dass  die  moralische  Wirkung  der  Ge- 
rechtigkeitsgedanken am  weitesten  und  nachhaltigsten  platzgreife. 
Es  lässt  sich  mithin  keine  letzte  und  ursprüngliche  Garantie  des 
Rechts  anders  als  in  der  eignen  und  möglichst  gleichen  Macht  der- 
jenigen finden,  welche  einander  verletzen  können.  Die  dritte  Macht, 
mit  der  man  so  viel  gerechnet  hat,  ist  in  Bezug  auf  Gerechtigkeit 
und  Frieden  eine  illusorische  Garantie.  Sie  kann  ein  Recht  schaffen, 
aber  nm*  das  Sklavenrecht;  auch  kann  sie  Frieden  gewähren,  aber 
nur  den  Frieden  eines  Kirchhofs  der  Freiheit.  Weit  einfacher  ge- 
langt man  zu  diesem  grossen  Ergebniss  auf  dem  schon  angeführten 
kürzeren  Wege  der  unmittelbaren  Unterwerfung  des  Einen  durch 
den  Andern.  In  diesem  Falle  kann  sogar  gelegentlich  einmal  der 
Rechthabende  der  Sieger  sein,  und  dann  würde  sich  seine  Gewalt- 
übung an  dem  Verletzer  innerhalb  gewisser  Grenzen  sogar  als  eine 
Vorkehrung  zur  Abwendung  künftigen  neuen  Unrechts  charakteri- 
siren  können.  Die  Einschränkung  der  fremden  Freiheit  würde  aber 
auf  die  Dauer  nicht  weiter  als  der  Zweck  selbst  reichen  dürfen,  und 
es  würde  sogar  die  Pflicht  begründet  werden,  dem  an  mehr  Unrecht 
Gehinderten  Gelegenheit  zu  lassen,  fiir  sein  ferneres  Verhalten  andere 
Bürgschaften  darzubieten.  Niemals  kann  aber  die  positive  Unter- 
werfung, Ausraubung  und  Versklavung  irgendwie  als  der  Inhalt 
eines  Rechts  angesehen  werden. 

Die  wirklichen  Gestaltungen  der  Geschichte  sind  bis  auf  den 
heutigen  Tag  meistens  die  Einseitigkeiten  der  Unterdrückung  ge- 
wesen und  entsprechen  daher  demjenigen  Schema,  in  welchem  der 
Eine  vom  Andern  wehrlos  gemacht  und  in  irgend  einer  Gestalt  an 
dessen  Willen  gebunden  oder  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  ge- 
kettet wird.   Die  Ketten  der  eigentlichen  und  uneigentlichen  Sklaverei 


—     267     — 

haben  denselben  Ursprung;  denn  jeder  Grad  der  politischen  Unfrei- 
heit kann  als  eine  partielle  Sklaverei,  und  die  im  engern  Sinne  so 
bezeichnete  Sklaverei  als  die  vollständige  politische  und  privatrecht- 
liche Freiheitslosigkeit  angesehen  werden.  Freilich  hat  sich  auch 
etwas  von  der  gleichen  Vergesellschaftung  eingemischt;  aber  dies  ist 
niemals  dauernd  in  einer  alle  Schichten  umfassenden  Weise  geschehen. 
Stets  sind  es  nur  besondere  Gruppen  und  Classen  gewesen,  die  sich 
im  günstigsten  Falle  unter  sich  auf  ziemlich  gleichen  Fuss  einrich- 
teten, dagegen  nach  unten  hin  eine  niedertretende  Gewalt  übten. 
Die  Rechte,  die  sie  unter  sich  anerkannten,  hatten  zwar  an  dem 
Princip  der  Gerechtigkeit  Theil,  galten  aber  nur  mit  der  Beimischung 
derjenigen  Ungerechtigkeit,  welche  in  der  Hinwegsetzung  über  die 
natürlichen  Ansprüche  der  durch  die  Unterdrückung  Verletzten  lag. 
So  ist  der  Unterdrückungs-  oder_Gewa,ltstaat  in  seinen  verschiedenen 
Formen,  von  der  auf  die  Sklaverei  gepfropften  Demokratie  bis  zur 
Oligarchie  und  Alleinherrschaft  hin,  aus  dem  Gesichtspunkt  unseres 
emfachen  Schema  zugleich  logisch  und  historisch  begreiflich.  Er  ist 
ein  Ergebniss  von  Gewalt  und  List,  und  der  in  ihm  verwirklichte 
Ueberschuss  von  sieggekrönter  Uebermacht  und  glücklichem  Trug 
nennt  sich  in  seinen  besondern  Formen  Staats-  und  Völkerrecht. 
Ganz  besonders  ist  das  innere  Staatsrecht  zum  grössten  Theil  ein 
Inbegriff  von  Verhältnissen,  welche  nicht  nur  durch  die  rohe  Ge- 
walt, sondern  auch  gegen  die  natürliche  Gerechtigkeit  geschaffen 
worden  sind.  Dieser  Sachverhalt  reicht  soweit,  dass  man,  um  über 
die  Grundbeziehungen  der  politischen  Gerechtigkeit  ohne  Missver- 
ständniss  reden  zu  können,  zeitweilig  sogar  das  Wort  Staat  über- 
haupt, als  mit  der  historischen  Unterdrückungsform  eng  verwachsen, 
aufgeben  muss,  und  zur  Bezeichnung  der  gleichen  und  gerechten 
Verbindung  den  Ausdruck  freie  Gesellschaft  anzuwenden  wohlthut. 
Wären  die  Ideen,  welche  sich  günstig  an  das  Wort  Staat  knüpfen, 
nicht  oft  ein  so  nebelhaft  verworrenes  Gemisch,  und  diente  der  all- 
gemeine Ausdruck  Staat  nicht  auch  dem  Schein  des  grössten  Frei- 
sinns sogar  in  den  Zukunftstheorien  zum  Deckmantel,  so  würden 
wir  ohne  Weiteres  dem  Unterdrückungs-  oder  Gewaltstaat  den  Ge- 
rechtigkeitsstaat entgegengesetzt  haben.  Es  bedurfte  aber  um  so 
mehr  einer  noch  schärferen  sprachlichen  Trennung,  da  der  Gerechtig- 
keitsstaat leicht  an  den  herkömmlich  sogenannten  Rechtsstaat  erin- 
nern könnte,  der  ein  Widerspiel  des  Polizeistaats  sein  soll,  aber 
auch  nur  eine  gemässigte  Form  des  Gewaltstaats  sein  kann,   wo  er 


—     268     — 

nicht    etwa    gar    thatsächlich    eine    zur  Verzierung    dienende   Lüge 
bleibt. 

3.  Auch  eine  Vielheit  von  Menschen  kann  nicht  die  Rolle  der 
vorher  als  illusorisch  nachgewiesenen  dritten  Macht  spielen.  Aller- 
dings hätte  diese  Vielheit  in  der  Vereinigung  unvergleichlich  mehr 
Kraft  als  die  Beiden,  die  wir  als  im  Conflict  begriffen  vorausgesetzt 
haben.  Das  Aufzwingen  dieser  Uebermacht  wäre  aber  an  sich  selbst 
ebensogut  eine  Vergewaltigung,  wie  wenn  sie  von  einem  Einzelnen 
und  seinen  untergebenen  Werkzeugen  ausginge.  Ob  sich  eine  Ge- 
sammtheit  auf  gleichem  Fuss  verbündet,  um  die  schwächeren  Ein- 
zelnen zu  irgend  Etwas  zu  nöthigen,  was  ihr  grade  so  und  nicht 
anders  gefällt;  oder  ob  ein  Despot  diese  Rolle  spielt,  —  das  macht 
in  der  Hauptsache  nur  einen  geringen  Unterschied.  Völlig  anders 
gestaltet  sich  aber  das  Verhältniss  einer  Vielheit  zu  ihren  Gliedern, 
wenn  man  in  allen  Richtungen  Uebereinkünfte  eines  Jeden  mit  jedem 
Andern  voraussetzt,  und  wenn  diese  Verträge  die  gegenseitige  Hülfe- 
leistuug  gegen  ungerechte  Verletzungen  zum  Gegenstande  haben. 
Alsdann  wird  nur  die  Macht  zur  Aufrechterhaltung  des  Rechts  ver- 
stärkt, und  aus  keiner  blossen  Uebergewalt  der  Menge  über  den 
Einzelnen  oder  der  Mehrheit  über  die  Minderheit  ein  Recht  abge- 
leitet. Die  Gestaltung  der  Kräfteverhältnisse  ist  hiebei  die  denkbar 
natürlichste;  aber  trotzdem  soll  eben  diese  Gestaltung  nur  das  mindesfc- 
schädliche  Mittel  werden,  eine  Rechtsgarantie  zu  organisiren,  die 
über  die  eignen  Kräfte  der  Parteien  hinausreicht.  Es  ist  daher  aus- 
schliesslich die  Einhaltung  der  Gerechtigkeit,  was  auch  dieser  Col- 
lectiveinmischung  ihren  mehr  als  blos  gewalttbätigen  Charakter  ver- 
leiht. Der  geringste  Fehlgriff  in  der  Auffassung  der  Rolle  des  Ge- 
sammtwillens  würde  die  Souverainetät  des  Individuums  vernichten, 
und  diese  Souverainetät  ist  es  allein,  was  zur  Ableitung  wirklicher 
Rechte  führt.  Eine  rationelle  Atomistik  hat  nicht  blos  in  der  Natur- 
wissenschaft, sondern  auch  in  der  Politik  die  Wahrheit  auf  ihrer 
Seite. 

Wenn  man  will,  kann  mau  für  das  ursprüngliche  Recht  auch 
von  einer  Uebereinkunft  absehen.  Der  Beistand,  welcher  im  Sinne 
der  Gerechtigkeit  geleistet  wird,  giebt  sich  eben  durch  seine  Be- 
deutung nicht  als  nackte  Machtübung,  sondern  als  ein  sympathisches 
oder  im  AUgemeinen  interessirtes  Eintreten  gegen  die  Verletzungen. 
Uebrigens  liegt  aber  in  dem  ausdrüclclichen  Vertrage  über  solchen 
Beistand  nichts  weiter,  als  eine  schöpferische  Erweiterung  der  uatür- 


—     269     — 

liehen  Verhältnisse,  und  der  unbegründete  Bruch  eines  solchen  Ver- 
trages würde  selbst  als  eine  ungerechte  Verletzung  gelten  müssen. 
Es  ist  mithin  die  Vereinigung  eine  blosse  Organisation  derjenigen 
Rechtsgarantien ,  •  die  nie  und  nirgend  anderwärts  als  in  den  eignen 
Kräften  der  Individuen  gefunden  werden  können.  Der  Beistand,  den 
sich  diese  Kräfte  gegenseitig  leisten,  hat  zum  Bande  eben  jene  Ge- 
rechtigkeit selbst,  die  gesichert  werden  soll.  Er  hat  daher  selbst 
keine  andere  Bürgschaft,  als  die  Kräfte  derjenigen,  welche  das  Ge- 
rechte in  ihrem  eignen  Interesse  und  aus  Mitgefühl  für  den  Andern 
wollen.  Ein  Vereinigungsvertrag  ist  insofern  nichts  Willkürliches 
und  beliebig  Conventionelles ,  als  sich  in  ihm  das  Bedürfniss  der 
gegenseitigen  Rechtshülfe  und  die  natürlichen  Bestrebungen  zu  dem 
entsprechenden  Beistand  eben  nur  vollkommener  befriedigen  und  mit 
technischer  Planmässigkeit  verwirklichen.  Eine  derartige  üeberein- 
kunffc  muss  sich  da  naturgesetzlich  vollziehen,  wo  die  moralischen 
Vorbedingungen  erfüllt  sind,  was  freilich  in  der  bisherigen  Geschichte 
nur  zu  einem  äusserst  geringen  Theil  der  Fall  gewesen  ist. 

An  Stelle  der  freien  und  gleichen  Vereinigung  finden  wir  in 
der  Geschichte  die  einseitige  Unterdrückung  und  den  Zwang  zum 
Verzicht  auf  Vereinigungen  vorherrschend.  Sobald  ein  Einzelner 
stärker  ist  als  ein  Jeder,  der  ihm  aus  einer  Anzahl  zum  Kampfe 
gegenübertreten  kann,  wird  er  die  ganze  Anzahl  niederhalten,  wenn 
er  nur  dafür  zu  sorgen  vermag,  dass  er  sich  nie  mit  einer  planmässig 
handelnden  Verbindung  Mehrerer,  sondern  stets  nur  mit  einem  Ein- 
zigen zu  messen  habe.  Verhindert  er  die  Vereinigung,  die  schon 
an  sich  selbst  nicht  leicht  ist,  so  wn-d  er  im  Besitz  der  Uebergewalt 
bleiben.  Nun  denke  man  sich  an  Stelle  jenes  starken  Einzelnen 
irgend  eine  despotische  Macht  mit  ihrer  Zurüstung  oder  auch  irgend 
eine  raubende  und  herrschende  Gruppe  behebiger  Art,  die  unter  der 
Anführung  eines  Häuptlings  fähig  ist,  kleinere  und  vielleicht  fried- 
liche Menschengruppen  unter  das  Joch  zu  zwingen,  so  hat  man  das 
geschichtliche  Bild  von  dem  Grundschematismus  aller  Ünterdrückungs- 
politik.  Jene  raub-  und  herrschsüchtige  Macht  kann  die  sich  ihr 
widersetzenden  Elemente  nur  in  der  Vereinzelung  besiegen  und 
wiederum  nur  in  der  Vereinzelung  niederhalten.  Der  erste  Grund- 
satz ihres  Gewaltstaates  wird  daher  dahin  lauten,  dass  die  politischen 
Vereinigungen  zu  hindern  seien.  Auch  ist,  wie  man  sieht,  dieses 
Princip,  die  natürhche  Vereinigungsfreiheit  zu  unterdrücken  und 
hiemit  eine   colossale  Gerechtigkeitsverletzung  zu  begehen,   nur  das 


—     270     — 

einfaclie  Zubehör  zum  unterjochenden  Gewaltacte  selbst.  Die  soge- 
nannte Staatsbildung  und  zugehörige  Staatserhaltung  war  meistens 
in  diesem  Hergang  enthalten.  Das  Wesen  oder  vielmehr  Unwesen 
des  Staats,  wie  ihn  auch  die  neuere  Geschichte  kaum  anders  kennt,- 
spiegelt  sich  in  jener  Sperre  aller  erheblichen  politischen  Vereini- 
gungen. Der  historische  Unterdrückungsstaat  muss  den  keimenden 
Gerechtigkeitsstaat,  der  sich  durch  innere  politische  Vereinigungen 
bilden  will,  nach  Kräften  ersticken;  denn  nur  solange  dies  gelingt, 
währt  sein  eignes  Reich  des  von  einer  sich  selbst  privilegirenden 
Gruppe  geübten  Zwanges. 

4.  Es  ist  vergebens,  ein  Recht  zum  Zwange  anders  für  eine 
Vielheit  und  deren  Organe  ableiten  zu  wollen,  als  es  sich  auch 
schon  in  dem  Schema  von  zwei  Einzelnen  ergeben  kann.  Die  ver- 
letzende Gewalt  fuhrt  wiederum  zur  Gewalt,  und  wieweit  Gerechtig- 
keit dabei  im  Spiele  sei,  ist  eine  Frage,  die  moralisch  d.  h.  aus  der 
Einsicht  entschieden  werden  muss.  Die  Gewalt  ist  als  solche  auch 
dann  ein  Uebel,  wenn  sie  der  Gerechtigkeit  dient.  Der  Einzelne, 
gegen  den  sie  sich  richtet,  und  die  anderseitige,  angeblich  strafende 
Macht  bleiben  unter  allen  Umständen  zwei  Parteien,  mag  auch  noch 
so  viel  staatliches  Zwischenwerk  diesen  natürlichen  Sachverhalt  ver- 
schleiern. Die  Unparteilichkeit  kann  sich  im  günstigsten  Falle  nur 
auf  die  Hervorbringung  einer  allgemeineren,  von  der  Verwicklung 
in  die  besondere  Sache  freien  Einsicht  beziehen.  Auch  ist  der  Col- 
lectiv verstand  in  manchen  Richtungen  normaler,  als  die  befangene 
Einsicht  eines  Einzelnen,  nämlich  insoweit,  als  sich  in  der  Vielheit 
der  Ansichten  die  Unterschiede  gegenseitig  aufheben  und  nur  einen 
übereinstimmenden  Rest  bestehen  lassen.  Derartige  Ergebnisse  sind 
zwar  meist  dürftig  und  platt;  aber  sie  entschädigen  wenigstens  durch 
eine  gewisse  Nüchternheit  und  Zuverlässigkeit  dafür,  dass  sie  un 
Groben  und  Gewöhnlichen  verbleiben.  Die  Bildung  einer  Rechts- 
ansicht ist  mithin  eine  Function,  in  welcher  die  Vielheit  vor  den 
streitenden  Einzelnen  zwar  nicht  immer  die  genauere  Würdigimg 
der  Verhältnisse,  aber  doch  ein  durchschnittlich  anwendbares  Maass 
von  parteiloserem  Urtheil  insoweit  voraushat,  als  es  sich  nicht  etwa 
um  die  Rechte  dieser  Vielheit  selbst  handelt.  Tu  der  moralischen 
Berufung  auf  die  Gerechtigkeit  hat  die  Bildung  einer  Einsicht  und 
eines  Willens,  die  von  Vielen  ausgeht,  in  denjenigen  Angelegenheiten 
des  Lebens,  die  Allen  bekannt  und  verständlich  sind,  offenl)ar  etwas 
vor  dem  gewöhnlichen  Einzelartheil  voraus.    Man  kann  hienach  be- 


—     271     — 

Laupten,  dass  nicht  die  Macht  au  sich  selbst,  wohl  aber  die  Chancen 
der  bessern  Einsicht  und  des  geklärten  Wollens  fiir  die  günstige 
Einmischunffsfunction  der  Vielheit  in  die  Aucjeleorenheiten  der  Ein- 
zelneu  sprechen.  Die  Gewalt  ist  auch  im  ursprünglichen  Zustande 
nicht  zu  vermeiden,  sobald  sie  einmal  von  der  einen  Seite  geübt 
worden  ist.  Man  verschlimmert  daher  die  Lage  noch  nicht,  wenn 
man  sich  darein  ergiebt,  dass  die  Gewalt  in  organisirter  Form  fort- 
bestehe. Dieses  Üebel  ist  auf  keinem  Wege  auszumerzen.  That- 
sächlich  kann  zwar  die  rückwirkende  Gewalt  mit  der  ursprünglich 
verletzenden  ebenfalls  verschwinden;  aber  auch  in  diesem  Ideal- 
zustande, in  welchem  die  Menschen  von  vornherein  gerecht  handel- 
ten, würde  ein  gewisses  Maass  von  Möglichkeit  der  Abweichung 
noch  immer  vorgesehen  werden  müssen;  denn  es  ist,  wenn  auch 
nicht  widersinnig  und  unmöglich,  so  doch  sehr  schwer  zu  denken, 
dass  alle  Innern  und  äussern  Ursachen  und  mithin  die  ganze  Fähig- 
keit zu  Yergehungen  einst  von  der  Menschennatur  abgethan  werden 
sollten. 

Wenn  der  Einzelne  dem  Staate  gegenüber  in  absoluter  Weise 
gezwungen  wird,  so  hat  dieser  Zwang  wesentlich  keinen  andern 
Charakter,  als  denjenigen,  der  auch  im  ünorganisirten  Zustande  von 
Seiten  des  Einzelnen  gegen  den  Einzelnen  obwaltet.  Beiderlei  Fälle 
des  Zwanges  können  sich  nur  insoweit  rechtfertigen,  als  sie  wirklich 
der  natürlichen  Gerechtigkeit  dienen.  Es  giebt  mithin  keine  Auto- 
rität der  Macht  als  solcher,  ja  überhaupt  keine  stichhaltige  Autorität 
im  gewöhnlichen  Sinne  des  W^orts,  sondern  das  Ansehen,  welches 
irgend'  eine  Instanz  haben  soll,  ist,  abgesehen  von  der  blossen  Furcht 
vor  der  üebergewalt,  die  auch  Angesichts  jedes  drohenden  Raub- 
thiers  für  den  Wehrlosen  platzgreifen  muss,  einzig  und  allein  auf 
das  Maass  von  Theilnahme  für  eine  einsichtsvollere  Gerechtigkeit  zu 
gründen.  Dieses  Ansehen  ist  aber  seiner  Natur  nach  ein  moralisches ; 
denn  es  wurzelt  in  der  Üeberzeugiing,  dass  Einsicht  und  Wille  der 
fraglichen  Instanz  dem  natürlichen  Recht  entsprechen,  und  schwindet 
auch  mit  dieser  Voraussetzung.  Die  richterliche  Function  kann  sich 
daher  in  der  freien  Gesellschaft  nur  aus  der  umfassenden  Vielheit 
der  Einzelwillen  heraus  constituiren.  Sie  entstellt  und  besteht  in 
dieser  Gesellschaft  durch  ein  freies  Bündniss  zum  gegenseitigen 
Schutz  der  Unverletztheit  der  Personen  und  ihrer  frei  eingegangenen 
mit  der  allseitigen  Freiheit  und  gleichen  Gegenseitigkeit  verträglichen 
Verbindlichkeiten  oder  dauernden  Lebensverhältnisse.  Wo  sie  gelegent- 


—     272     — 

lieh  körperlich  eine  zwingende  Gewalt  bethätigen  muss,  thnt  sie  dies 
vermöge  jener  Nothwendigkeit,  die  nicht  blos  im  unorganisirten  Zu- 
stande sondern  auch  in  den  vollkommensten  Organisationsformen 
platzgreift.  Sie  wird  sich  aber  hiebei  vor  einer  scheinheiligen  Be- 
rufung auf  etwas  Anderes,  als  auf  eben  jene  rohe  naturwüchsige 
Nöthigung,  zu  hüten  haben.  In  der  That  wäre  es  auch  wunderlich, 
dass  sich  der  Mensch  über  den  Menschen  als  Richter  aufwürfe,  an- 
statt einzugestehen,  dass  er  nur  eine  Gewalt  übt,  welche  auch  im 
Naturzustande,  dort  aber  ohne  geregelte  Organisation  existirt.  Ein 
Richter,  der  sich  selbst  als  solcher  aufwirft,  ist  so  gut  wie  keiner; 
er  maasst  sich  eine  Function  an,  die  zwar  für  Sklaven  oder  Halb- 
sklaven als  einseitige  Gewaltübung,  für  freie  Menschen  aber  nur  als 
Ergebniss  ihrer  auf  eben  diesen  Zweck  gerichteten  Vereinigung  einen 
Sinn  haben  kann.  In  der  Geschichte  ist  nun  freilich  die  Usurpation 
die  Regel,  und  die  historisch  constituirten  Richtergewalten  sind  aucli 
meist  nur  Werkzeuge  der  jedesmal  herrschenden  und  knechtenden 
Macht  gewesen,  die  nebenbei  für  die  Unterworfenen  den  Frieden  der 
Unfreiheit  und  eine  Art  von  Halbrecht  für  sie  und  unter  ihren  eignen 
Gliedern  aufrechterhielt.  Der  Unterdrückungsstaat  hat  eben  auch 
keine  richterlichen  Organe  und  Functionen  hervorbringen  können, 
die  nicht  seinen  Willkür-  und  Gewalts tempel  trügen  und  mehr  eine 
Organisation  des  Unrechts  als  des  Rechts  wären.  Die  Justiz  als  Aus- 
fluss  einer  despotischen  Macht  kann  in  ihrem  Wesen  nur  das  Gegen- 
stück der  Gerechtigkeit  und  nur  zufälligerweise  für  einiges  Recht 
von  untergeordneter  Bedeutung  empfänglich  sein. 

5.  Die  Theilung  politischer  Functionen  ist  nur  in  sehr  be- 
schränktem Maass  mit  der  Sicherung  der  Freiheit  verträghch.  Ge- 
setzgebung und  Richterthum  müssen  bei  der  Gesammtheit  bleiben 
und  können  nur  in  technischer  Beziehung  und  in  ganz  speciellen 
Richtungen  auf  besonders  sachverständige  Hülfsorgane  und  auch  so 
nur  theilweise  übertragen  werden.  Am  deuthchsten  zeigt  sich  die 
Unmöglichkeit,  allgemeine  und  wesentliche  Functionen,  die  zur  eignen 
Sicherung  noth wendig  sind,  rückhaltlos  Andern  in  die  Hände  zu 
geben,  in  dem  unvergleichHch  wichtigsten  Stück  des  politischen  Da- 
seins, nämlich  in  der  Waffenführung.  Der  Wehrlose  ist  dem  Be- 
waffneten gegenüber  thatsächlich  so  gut  wie  ohne  Recht.  Es  kann 
daher  keine  in  sich  verbundene  Gruppe  es  ohne  Thorheit  geschehen 
lassen,  dass  die  Ausstattung  mit  Waffen  die  ausschliessliclie  Eigen- 
schaft einer  besondeni  Classe  werde.   Der  freieste  Bund  müsste  durch 


—     273     — 

die  Schöpfung  einer  Kriegerkaste  schliesslich  in  Knechtschaft  ge- 
rathen.  Auf  die  Waffen  kann  der  Einzelne  nicht  verzichten,  wenn 
er  nicht  damit  zugleich  seine  Freiheit  preisgeben  will.  Auch  in  der 
planmässigen  mihtairischen  Action  darf  er  die  technische  Leitung 
und  die  Führerschaften  nicht  an  einen  besondem  Stand  gerathen 
lassen.  Das  Zusammenstehen  im  Heere  oder  in  einer  zum  innern 
Sicherheitsdienst  gehörigen  Executivabtheilung  muss  sich  als  die 
Wirkung  eines  Wehrbundes  kundgeben  und  darf  die ,  Individual- 
souverainetät  nicht  verleugnen.  Die  Führer  sind  nicht  nur  zu  wählen, 
sondern  auch  da,  wo  eine  besondere  technische  Kenntniss  und  Er- 
fahrenheit nöthig  ist,  aus  der  Mitte  des  Volks  heraus  ohne  Unter- 
schied vorzubilden  und  zwar  in  solcher  Menge,  dass  bei  der  Wahl 
jedesmal  nur  ein  Bruchtheil  zu  zeitweiliger  und  wechselnder  Aus- 
füllung der  Posten  gelangt.  Ueberhaupt  muss  das  Niveau  der  all- 
gemeinen militairischen  Bildung  so  hoch  gehalten  werden,  dass  der 
Abstand  von  dem  Wissen  und  Können  der  speciellen  Techniker  nie 
so  gross  wird,  um  eine  Controle  der  augenfälligsten  Maassnahmen 
auszuschliessen.  Selbstverständlich  darf  nicht  von  bhndem  Gehorsam, 
sondern  nur  von  Pünktlichkeit  und  Strenge  in  der  Ausfuhrung  aller 
derjenigen  Anordnungen  die  Rede  sein,  ohne  deren  Beobachtung  ein 
planmässiges  Zusammenwirken  hinfällig  werden  müsste.  Der  Waffen- 
bund ist  hienach  nichts  als  ein  Theil  des  allgemeinen  politischen 
Bündnisses  und  muss  daher  als  eine  Erweiterung  der  ursprünglichen 
Wehrhaftigkeit  des  Einzelnen  angesehen  werden.  Wie  der  Einzelne 
im  unverbundenen  Zustande  genÖthigt  war,  zum  Kampf  bereit  zu 
sein,  so  ist  es  nun  die  aus  den  Einzelneu  zusammengesetzte  Ge- 
sammtheit.  Sie  kann  hiebei  nach  Innen  viele  Kräfte  sparen,  da  die 
moralischen  Bindemittel  doch  immer  Einiges  bedeuten;  und  sie  kann 
nach  Aussen  eine  grössere  Macht  entwickeln,  an  welcher  wiederum 
nur  dann  Einschränkungen  zulässig  sind,  wenn  sich  der  Bund  über 
die  ersten  natürlichen  Grenzen  ausdehnt  und  zur  einheitlichen  Ver- 
gesellschaftung ähnlicher  Art  mit  andern  Gemeinwesen  gelangt.  Nie- 
mals aber  kann  von  irgend  Jemand  auf  dasjenige  Maass  von  Wehr- 
haftigkeit verzichtet  werden,  welches  der  entwickelten  Technik  und 
den  materiellen  Möglichkeiten  gegenüber  als  die  allgemeine  Vor- 
bedingung der  Sicherheit  und  der  Kraftgleichheit  gelten  muss.  Die 
Erfindungen  von  besseren  Kampfmitteln  werden  einerseits  die  Ten- 
denz haben,  die  körperliche  Ungleichheit  der  Kräfte  unerheblicher 
zu  machen,  andererseits  aber  durch  sorgfältige  Vorkehrungen  ergänzt 

Du  bring,  Cuisus  der  Philosophie.  18 


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werden  müssen,  wenn  sich  nicht  die  Mittel  der  überlegenen  Gewalt 
thatsächlich  bei  bestimmten  Gruppen  coucentriren  und  der  allgemeinen 
Freiheit  gefährlich  werden  sollen.  Die  Minderung  der  auf  die  mili- 
tairische  Gewaltübung  zu  verwendenden  Kräfte  kann  mit  der  Aus- 
dehnung der  politischen  Gemeinschaft  nach  Aussen  und  mit  der 
innern  Einwurzelung  des  gerechten  Willens  und  der  friedlichen,  auf 
die  Arbeit  an  der  Natur  abgelenkten  Gewohnheiten  schritthalten. 
Sogar  der  yuterdrückungsstaat  erreicht  wenigstens  zu  einem  Theil 
etwas  scheinbar  Aehnliches;  denn  er  dehnt  auch  seinen  Friedeji  der 
Unfreiheit  mit  den  neuen  Unterjochungen  und  Einverleibungen  weiter 
aus  und  lässt  in*  seinem  Rahmen  die  zahme  Lebensart  wehrloser 
Sklaven  oder  Halbsklaven  sehr  gern  gedeihen,  soweit  er  dieses  Ve- 
getiren  nicht  selbst  durch  seinen  eignen  Raub  zu  stören  hat. 

Das  Beispiel  des  Waffengebrauchs  hat  uns  über  die  grundsätz- 
liche Unveräusserlichkeit  der  fundamentalen  politischen  Functionen 
belehrt.  Auf  die  Selbsthülfe  darf  man  also  niemals  ganz  verzichten, 
sondern  nur  einwilligen,  dieselbe  als  Bestandtheil  einer  organisirten 
Gesammthülfe  und  daher  nicht  mehr  nach  ausschliesslich  eignem 
Urtheil  auszuüben.  Es  kann  daher  auch  die  Verantwortlichkeit  des 
Einzelnen  in  den  entscheidenden  Hauptaugelegenheiten  niemals  weg- 
fallen. Er  wird  zu  seinem  Theil  über  Krieg  und  Frieden  ein  Urtheil 
und  eine  Stimme  haben.  Er  wird  nicht  wider  seinen  Willen,  wie 
er  ihn  im  Bunde  kundgegeben  hat,  zu  einer  Action  gezwungen  wer- 
den. Wohl  aber  wird  er  sich  entweder  der  allgemeinen  Nothwendig- 
keit  zu  unterwerfen  haben  oder,  wenn  er  dies  nicht  thut,  den  Ver- 
bündungsvertrag  verletzen.  Eine  solche  Verletzung  isolirt  ihn  ähn- 
lich, wie  wenn  er  sich  im  unorganisirten  Zustande  befände,  und  das 
Recht  oder  Unrecht,  welches  ihm  alsdann,  je  nach  den  Umständen, 
von  Seiten  der  freien  Gesellschaft  widerfährt,  kann  nie  etwas  Schlim- 
meres sein,  als  was  auclj  der  Naturzustand  mit  sich  bringen  würde. 
Jedenfalls  kann  nirgend  in  höherem  Grade  als  in  der  auf  freier  Ver- 
bündung beruhenden  Gesellschaft  dafür  gesorgt  werden,  dass  der 
Einzelne  selbst  da,  wo  er  sich  dem  Willen  der  Mehrheit  anschliessen 
muss,  zu  nichts  genöthigt  wird,  was  nicht  eine  andere,  «also  etwa 
die  isolirte  Lage  in  noch  schlimmerer  Weise  mit  sich  brächte.  Im 
so  zu  sagen  wilden  Zustande  der  Freiheit  nöthigt  die  Situation  eben 
auch  zum  Kampfe  gegen  den  Feind;  in  der  organisirten  Gesellschaft 
kann  der,  welcher  gegen  den  äussern  wirklichen  oder  angeblichen 
Feind  nicht  ziehen  will,  nur  in  die  Lage  gerathen,  mit  einem  innern 


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Widersacher  zu  thun  zu  bekommen.  Beides  mag  im  einzelnen  Falle 
sich  schlimm  und  ungerecht  gestalten;  aber  von  diesen  Chancen,  zur 
Ausübung  von  Gewalt  genöthigt  zu  werden,  könnte  schliesslich  nur 
die  universelle  und  völlig  ideale  Gesellschaft  befreien,  in  welcher  sich 
der  Krieg  und  die  innere  Gewalt  durch  den  allerseits  guten  und 
friedlichen  Willen  ersetzt  fänden. 

6.  Es  klingt  sehr  annehmbar,  dass  ein  besonderes  Wissen  oder 
eine  besondere  Kunst  von  denen  ausgeübt  werde,  welche  sich  in  ihr 
ausgebildet  haben.  Nach  4iesem  Grundsatz  würde  sich  ein  geschultes, 
um  nicht  zu  sagen  ein  gelehrtes  Richterthum  nicht  vermeiden  lassen, 
vorausgesetzt  nämlich,  dass  ein  Yerständniss  für  Recht  und  Unrecht 
und  dessen  Bethätigung  den  Charakter  einer  Wissenschaft  und  Kunst 
unter  allen  Umständen  an  sich  tragen  müsste.  Nun  ist  aber  das 
allgemeine  Urtheil  über  Recht  und  Unrecht  in  allen  wesentlichen, 
sei  es  öffentlichen  oder  privaten  Angelegenheiten  des  Lebens,  durchaus 
nicht  geeignet,  veräussert  und  vormundschaftlich  ausgeübt  zu  werden. 
Wer  hier  auf  das  eigne  Urtheil  und  die  eigne  Rechtswahrnehmung 
verzichtet,  ist  beinahe  noch  in  schlimmerer  Lage,  als  derjenige, 
welcher  die  Kampfmittel  in  andere  Hände  giebt.  Jedenfalls  aber 
vollendet  der  Verzicht  auf  die  geistige  Selbständigkeit  die  Preis- 
gebung der  physischen  Macht.  Die  gerichtliche  Action  ist  ursprüng- 
lich nichts  als  eine  Umwandlung  des  Privatkampfes  in  einen  Rechts- 
streit gewesen,  und  zwar  zeigen  sich  »die  Spuren  davon  grade  in  der 
Geschichte  des  Civilprocesses.  Der  moderne  Ausdruck  Klage  ist  ein 
Erbstück  aus  der  Zeit  des  Römischen  Kaiserdespotismus,  und  ur- 
sprünglich sowie  in  den  freieren  Zuständen  bezeichnete  man  das 
ganze  Verfahren  als  eine  Action,  also  als  eine  Handlung,  in  welcher 
der  jetzt  so  genannte  Kläger  natürlich  auch  dem  Worte  nach  nicht 
die  Rolle  eines  um  Recht  Bittenden  und  sich  bei  einer  gnädigen 
Herrschergewalt  über  seinen  Nebensklaven  Beklagenden  spielen  konnte. 
Er  agirte  vielmehr  im  wahren  Sinne  des  Worts,  und  in  einem  ähn- 
lichen Geiste  gestaltete  sich  auch  die  Verfolgung  der  Verbrechen. 
Wir  dagegen  sind  so  tief  in  die  politische  Vormundschaft  gerathen, 
dass  schon  die  gewöhnlichsten  Formen  des  Processes  diese  künst- 
liche Unmündigkeit  der  Knechtschaft  zur  Schau  tragen.  In  der  That 
ist  es  arg,  dass  uns  die  Alterthümer  der  bessern  Zeit  der  Römischen 
Republik,  die  doch  auch  keine  Ideale  waren  und  das  Recht  nur  in 
sehr  besöhränkter  Weise  für  die  Freien  und  noch  nicht  einmal  für 
alle  Classen  derselben  gleichmässig  verwirklichten,  in  ernster  Selb- 

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ständigkeit  noch  Lectionen  ertheilen  können.  Indessen  erklärt  der 
Wust  des  Mittelalters  und  die  neuere  Polizeidespotie  des  monarchisch- 
büreankratischen  Staats  im  Bunde  mit  der  von  den  Priestern  ver- 
erbten Unwissenheit  und  positiven  Volksumnebelung  sehr  viel  von 
der  Verkommenheit  in  der  selbständigen  Rechtsvertretung.  Freilich 
ist  schon  im  alten  Rom  ursprünglich  aus  den  Formen  der  Rechts- 
betreibung ein  aristokratisches,  priesterartig  dem  allgemeinen  Ge- 
brauch vorenthaltenes  Ceremoniell  gemacht  worden.  Aber  grade  aus 
diesem  Umstände  können  wir  lernen,  was  eine  besondere  Rechts- 
wissenschaft im  grössten  Theil  ihres  Inhalts  zu  bedeuten  habe.  Sie 
ist  mindestens  zu  neun  Zehnteln  eine  blosse  Folge  der  Absonderung 
und  Kluft,  die  zwischen  der  Gesaromtheit  und  einem  Juristenstande 
durch  das  Princip  der  politischen  Vormundschaft  gerissen  worden 
ist.  Eine  vormundschaftliche  Justiz  kann,  auch  ganz  abgesehen  von 
dem  Charakter  des  Gewaltstaats,  keine  echte  Gerechtigkeit  sein. 

Politik  und  Recht  sind  Dinge,  in  denen  jedes  Glied  der  freien 
Gesellschaft  für  alle  gemeinen  Angelegenheiten  Bescheid  wissen  muss. 
Sogar  der  Gebrauch  von  Sachverständigen  darf  keine  absolut  auto- 
ritäre Bedeutung  erhalten.  Ob  Jemand  für  die  gewöhnlichen  Ge- 
schäfte des  Lebens  handlungsfähig  sei,  kann  von  Jedem,  der  ihn  in 
diesen  Geschäften  beobachtet  hat,  hinreichend  entschieden  werden, 
und  gegen  ein  solches  Zeugniss  der  Verkehrs-  und  Geschäftsgenossen 
darf  kein  irrenärzthches ,  sich  auf  verborgene  oder  gleichgültige 
Eigenschaften  berufendes  und  vielleicht  Behufs  der  Bewerkstelligung 
einer  Einsperrung  erkauftes  Gutachten  irgend  ein  Gewicht  in  An- 
spruch nehmen.  Es  giebt  eben  einen  Kreis  von  Angelegenheiten, 
in  denen  innerhalb  eines  bestimmten  Rahmens  eine  allgemeine  Sach- 
verständigkeit bestehen  muss  und  daher  Experten  nichts  voraushaben 
dürfen.  Nur  wo  die  natürliche  Grenze  der  allgemeinen  Sachverständig- 
keit in  offenbar  technischen  Specialitäten,  wie  z.  B.  in  der  subtileren 
Beurtheilung  der  Ausfuhrung  eines  Baues,  beginnt  und  daher  selbst- 
verständlich nicht  politische  sondern  nur  technische  Functionen  be- 
trifft, da  mögen  Wissenschaft  und  Kunst  ihr  Urtheil  abgeben,  jedoch 
so,  dass  es  sich  stets  als  controlirbares  Material  darstellt  und  die 
Thatsachen  von  den  blossen  Schlüssen  sorgfältig  gesondert  enthält. 
Besondere  Verkehrsgebiete  werden  in  ihrer  feineren  Gestaltung  vor- 
zugsweise von  den  Betheiligten  gekannt,  und  man  kann  Angesichts 
der  manuichfaltigen  Gestaltung  des  Lebens  nicht  umhin,  dieser  tech- 
nischen' Specialisirung  der  Rechtsverhältnisse  in  Gesetzgebung  und 


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Gerichtswesen  durcli  besondere  Saehverständigkeit  zu  entsprechen. 
Hier  scheint  also  die  allgemeine  politische  Function  der  Rechtswahr- 
nehmung auf  eine  bedenkliche  Schranke  zu  treffen;  denn  die  Ent- 
fernung von  dem  allgemeinen  Verständniss  bringt  nicht  nur  die 
Principlosigkeiten  und  Verwicklungen,  sondern  auch  die  sich  alsdann 
leicht  vor  der  Gesammtheit  verbergenden  Ausnahmen  und  Ungleich- 
heiten mit  sich.  Das  Verlagsrecht  oder,  besser  gesagt,  das  Verleger- 
recht ist  hiefiir  ein  Beispiel;  denn  in  ihm  haben  sich  die  grössten 
Ungleichheiten  und  das  schroffste  Unrecht  gegen  die  Schriftsteller 
verkörpert.  Aehnlich  verhält  es  sich  aber  mit  aller  Fach-  und  Classen- 
gesetzgebung,  und  wenn  man  zu  den  einseitigen  Rechtsregeln  auch 
noch  Fachelemente  mit  richterlichen  Functionen  hinzufügt,  so  ist  an 
uninteressirte  Gerechtigkeit  kaum  mehr  zu  denken.  Glücklicherweise 
ist  jedoch  in  der  freien  Gesellschaft  auch  jene  Klippe  der  unbeherrsch- 
baren  Verwicklung  und  Specialisirung  zu  umschiffen.  Man  hat  nur 
nöthig,  die  technische  Anwendung  der  allgemeinen  Rechtsprincipien 
durch  scharfe  Absonderung  der  rein  fachmässigen  Thatsachen  zu 
controliren.  Geschieht  dies,  so  werden  sich  die  im  engern  Kreise 
Betheiligten  weit  weniger  dem  allgemeinen  öffentlichen  Urtheil  ent- 
ziehen können.  Die  Gesammtheit  wird  daher  hier  das  Sachver- 
ständigenprincip ,  aber  eben  nur  dieses  und  nichts  weiter  gewähren 
lassen  und  sich  die  freie  Entscheidung  auf  Grund  der  fachmässigen 
Beleuchtungen  bei  der  Feststellung  der  Rechtsregeln,  bei  der  Bildung 
der  richterlichen  Hülfsorgane  und  mithin  bei  der  unmittelbaren  Praxis 
vorbehalten. 

7.  Der  Augenblick  zeigt  uns  die  klaffenden  Widersprüche  recht 
deutlich,  indem  die  Ueberlieferung  der  Geschichte  die  wunderliche 
Mischung  eines  gelehrten,  im  Solde  der  herrschenden  Gewalt  stehen- 
den, ja  zum  Theil  rein  büreaukratischen  Justizpersonals  und  der  für 
das  Strafverfahren  theilweise  beliebten  Heranziehung  von  Geschwor- 
nen  aus  den  höheren  und  mittleren  Classen  der  Gesellschaft  präsen- 
tirt.  Diese  bizarre  Auffrischung  des  sich  schon  in  England  selbst 
nichts  weniger  als  modern  ausnehmenden  Geschworneninstituts  spielt 
inmitten  der  scholastisch  verzwickten  und  nicht  blos  durch  die  ge- 
lehrte, sondern  auch  durch  die  politische  Unnatur  verschrobenen 
Zustände  eine  klägliche  Rolle.  Ganz  abgesehen  von  den  Vorurtheilen 
und  der  Parteilichkeit  der  Besitzenden,  die  das  Geschwornenwesen 
in  erheblichen  Richtungen  zu  einer  reinen  Classenjustiz  werden  lassen, 
steht  dem  Richterthum  von  Leuten,  die  sich  nur  in  ihre  gewerblichen 


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Geschäfte  eingelebt  haben,  von  vornherein  die  gelehrte  Verwicklung 
und  üeberladung  der  einfachsten  Rechtsbegriffe  entgegen.  Um  eine 
wahrhafte  Volksjustiz  zu  schaffen,  muss  man  auch  aus  der  Theorie, 
aus  den  Gesetzen  und  mithin  vor  allen  Dingen  aus  den  Zuständen 
die  verschrobenen  Widerspiele  aller  Natürlichkeit  und  Volksmässig- 
keit  entfernen.  Nur  für  einfach  geordnete  und  der  allgemeinen 
Kenntniss  zugänghche  Rechtszustände  ist  auch  eine  einfache  und 
unmittelbare  Ausübung  des  Richterthums  durch  Jedermann  aus  dem 
Volke  denkbar.  Das  Aeusserste,  was  aber  die  neuste  Zeit  im  Gegen- 
satz zu  der  gelehrten  Ueberlieferung  für  eine  verbesserte  Existenz- 
form der.  Rechtsregeln  geleistet  hat,  beschränkt  sich  auf  die  Unter- 
nehmung von  umfassenden  Gesetzbüchern.  So  unvollkommen  diese 
Arbeiten  auch  ausgefallen  sind  und  ferner  ausfallen  werden,  so  liegen 
sie  doch  wenigstens  auf  demjenigen  Wege,  auf  welchem  sich  das 
Uebel  der  allgemeinen  Rechtsunkenntniss  ein  wenig  zu  mindern  ver- 
mag. Uebrigens  haben  sich  diese  Codificationen  am  ausgiebigsten 
im  Privatrecht  ergangen,  nächstdem  in  weit  weniger  befriedigender 
Art  für  das  Dasein  allgemeiner  Zuchtruthen  in  Gestalt  von  auch 
formell  höchst  unzulänglichen  Strafgesetzbüchern  gesorgt,  und  alles 
Uebrige  als  Nebensache  behandelt  oder  nicht  behandelt.  Ausserdem 
fehlt  sehr  viel  daran,  dass  die  codificirten  oder  auch  nur  die  allgemein 
erlassenen  und  leicht  zugänglichen  Gesetze  die  Summe  der  maass- 
gebenden  Rechtsregeln  erschöpften.  Die  bunte  Mischung  von  Orts-, 
Provinzial-  und  Landesrechten,  die  sich  in  sehr  willkürhcher  Weise 
bald  als  Gewohnheitsrecht,  bald  als  geschriebenes  Gesetz,  oft  unter 
Einkleidung  der  wichtigsten  Angelegenheiten  in  reine  Statutarform, 
in  den  verschiedensten  Richtungen  kreuzen,  —  diese  Musterkarte 
von  Unordnung  und  Widerspruch,  auf  welcher  die  Einzelheiten  das 
Allgemeine  und  dann  gelegentlich  wiederum  die  Allgemeinheiten  das 
Besondere  hinfallig  machen,  ist  wahrlich  nicht  geeignet,  ein  klares 
Rechtsbewusstsein  bei  irgend  Jemand,  so  rechtsgelahrt  er  auch  sein 
möge,  geschweige  bei  jedem  Bürger  des  Gemeinwesens  möglich  zu 
machen.  Die  Doctrin  giebt  sich  freilich  das  Ansehen,  als  wenn  eine 
solche  Verworrenheit  ihr  gemäss  und  der  regelrechte  Zustand  wäre. 
Für  eine  verdorbene  Theorie  ist  das  Verschrobene  allerdings  die 
Existenzbedingung;  aber  der  natürlichen  Wissenschaft,  die  auch  mit 
genauen  Thatsachen  und  überdies  mit  einer  strengen  Logik  operirt,  wer- 
den die  chaotischen  Erzeugnisse  zufälliger  Mischung  und  blossen  Conse- 
quenzmangels  nicht  als  historische  Schönheiten  und  Harmonien  gelten. 


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Das  bestimmtere  Recht  besteht  wesentlich  zwischen  einem  Kreis 
von  Personen  und  reicht  soweit  als  die  entsprechende  Gemeinschaft. 
Für  die  allgemeinen,  pohtischen  oder  nichtpolitischen  Verhältnisse 
des  Lebens  muss  ein  Jeder  sohon  durch  Erziehung  und  mit  der 
Jugendschulung  vorläufig  orientirt  sein,  so  dass  die  praktische  Er- 
fahrung nur  noch  im  Einzelnen  grössere  Sicherheit  und  volleres 
Verständniss  zu  gewähren  hat.  Für  die  specialistisch  technischen 
Voraussetzungen  einzelner  Lebenskreise  bringt  aber  die  Einführung 
.in  den  Beruf  den  Betheiligten  das  Besondere,  was  sie  hier  an  Rechts- 
kenntniss  brauchen,  und  man  wird  in  dieser  Richtung  nicht  erwarten 
dürfen,  dass  sich  auch  der  Unbetheiligte  und  mithin  Uninteressirte 
mit  diesen  Sondergestaltungen  abgebe.  Man  darf  aber  hieraus  nicht 
die  Nothwendigkeit  von  speciell  auf  diese  Verhältnisse  einstudirten 
Richtern  ableiten  wollen;  denn  mit  demselben  Recht  könnte  man 
verlangen,  dass  der,  welcher  eine  richterliche  Function  üben  soll,  in 
jedem  Fache  zugleich  ein  Specialsachverständiger  sei.  Die  Geltend- 
machung der  besondern  Einsichten  gehört  mehr  in  die  selbstver- 
ständhch  völlig  freie  und  allgemeine  Advocatur,  als  in  die  Richter- 
fiinction.  Die  Parteien  mögen  in  civilen  und  criminellen  Angelegen- 
heiten für  die  Specialaufklärung  sorgen,  und  auch  die  richtende 
Instanz  kann  allenfalls  im  Interesse  ihrer  eignen  Aufklärung  die 
specialistische  Beleuchtung  des  grade  fraglichen  Gebiets  und  Falles 
durch  blosse  Hülfsorgane  veranlassen.  Auf  diese  Weise  schwindet 
jeder  Vorwand,  die  richterliche  Souverainetät  dem  Volksindividuum 
abhanden  kommen  zu  lassen.  Auch  die  allgemeinen  Grundsätze  der 
Theorie  werden  sich  ebenmässiger  und  klarer  gestalten,  wenn  sie 
nur  eine  indirecte  Bedeutung  als  Hülfsmittel  bei  der  Führung  der 
Sachen,  aber  nicht  als  Verkörperungen  im  gelehrten  Richterthum 
eine  formelle  und  privilegirte  Autorität  in  Anspruch  zu  nehmen 
haben. 

8.  Hätte  die  natürliche  politische  Vergesellschaftung  sich  irgendwo 
ohne  erhebliche  Störung  von  Seiten  des  Raubsystems  entwickeln  kön- 
nen, so  würden  die  Colosse  von  Grossstaaten  mit  ihren  schwachen 
Stützen  nicht  existiren.  An  ihrer  Stelle  würde  i^an  umfassende 
Vereinigungen  mit  gediegen  festen  Grundlagen  und  mit  einer  nur 
durch  den  Erdball  selbst  begrenzten  Ausdehnungsfähigkeit  vor  sich 
sehen.  Die  natürlichen  Bedürftiisse  des  Verkehrs  würden  jedesmal 
Art  und  Grenze  der  Organisirung  von  weitreichenden  politischen 
Verbindungen  bestimmt  haben.     Ein  verhältnissmässig  kleiner  Kreis 


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von  Personen  imisa  im  natürlichen  System  die  erste  und  wichtigste 
Einheit  des  politischen  Verbandes  bilden.  Nur  in  einem  derartig 
bemessenen  Rahmen  kann  Jeder  seine  Genossen  hinreichend  kennen, 
um  mit  ihnen  im  Verein  die  politischen  Hauptiunctionen  wirksam 
auszuüben.  Nur  innerhalb  dieser  Begrenzung  kann  der  Mensch  vom 
Menschen  fordern,  dass  die  vorkommenden  Vergehungen  von  Jedem 
als  ein  Uebel  betrachtet  werden,  für  dessen  Verhütung  und  Ahn- 
dung er  so  verantwortlich  ist,  als  wenn  es  sich  um  die  Disciplin 
eines  kleinen  Hauswesens  und  um  die  Ordnung  in  der  Familie  han- 
delte. Keine  aufgezwungene  Polizei  kann  je  das  leisten,  was  die 
übersichtliche  Solidarität  und  die  genossenschaftliche  Selbstwahr- 
nehmung der  politischen  Hauptaufgaben  auch  in  der  Richtung  auf 
Vorbeugung  zu  garantiren  vermag.  Wo  man  sich  um  jede  mögliche 
oder  thatsächliche  Ausschreitung  als  um  eine  Angelegenheit  kümmert, 
von  der  man  mittelbar  selbst  betroffen  wird,  da  kann  sich  ein  an- 
derer Geist  bethätigen,  als  jene  entfernte  und  völlig  kalte  Theil- 
nahme,  mit  welcher  im  heutigen  Staatswesen  die  Verbrechensstatistik 
betrachtet  wird.  Freilich  ist  die  Zurückführung  der  gesammten  Po- 
litik auf  naturgemäss  kleine  Grundvereinigungen,  die  sich  alsdann 
weiter  mit  Ihresgleichen  zu  verbünden  haben,  im  Bereich  der  heu- 
tigen Zustände  nicht  zu  vollziehen,  ja  nicht  einmal  anzubahnen,  weil 
der  Gewaltstaat  bereits  Alles  absorbirt  hat.  Aber  wir  setzen  hier 
auch  eine  principielle  Umschaffung  der  Verhältnisse  voraus  und  sehen 
die  Bildung  der  kleinen  selbständigen  Gruppen  als  den  Anfangspunkt 
einer  neuen  Aera  der  Gesellschafts  Verfassung  an.  Namentlich  ist 
ohne  die  Ausdehnung  des  Gerechtigkeitsprincips  auf  das  Wirth- 
schaftsleben  keine  politisch  befriedigende  Gestaltimg  durchzuführen. 
Die  materielle  Existenz  ist  selbst  ein  ursprüngliches  Recht,  nämlich 
insofern  sich  die  Störung  ihrer  Möglichkeit  durch  einen  Andern  als 
ungerechte  Verletzung  kennzeichnet.  Wer  mir  den  Zugang  zu  den 
Naturstoffen  und  Naturkräften  vorenthält,  hindert  mich  am  Lebftn. 
Er  beraubt  mich  meiner  natürlichen  Freiheit  in  einer  entscheidenden 
Richtung  und  macht  mich  indirect  dienstbar  und  tributär.  Er  mo- 
nopolisirt  ohn^  jeden  natürlichen  Rechtstitel  alle  von  vornherein 
gemeinschaftlichen  Mittel,  aus  deren  Fond  allein  eine  selbständige 
Sorge  für  die  Existenz  mögUch  war.  Hieraus  folgt,  dass  die  Nutzungs- 
rechte an  der  Natur  politisch  und  zwar  nach  dem  Princip  der  gleich- 
heitlichen Gerechtigkeit  zu  ordnen  sind.  Für  den  Gebrauch  des  Grund 
und  Bodens  sind  positive  und  organische  Einrichtungen  uoth wendig, 


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da  es  in  der  socialitären  Wirthschaft  nicht  genug  ist,  blos  die  un- 
gerechten Hinderungen  abzustellen.  Das  wirthschaftliche  Zusammen- 
wirken erfordert  eine  neue  Uebereinkunft ,  die  aber  durch  das  Be- 
dürfniss  unausweichlich  gemacht  wird,  und  die  in  nichts  Anderm 
bestehen  kann,  als  dass  ein  Jeder  sich  verbindlich  macht,  seine  Kraft 
zur  Versorgung  Aller  nach  dem  technisch  nothwendigen  Plane  ein- 
zusetzen. Die  Feststellung  des  Princips,  nach  welchem  sich  der  An- 
theil  an  den  Früchten  der  Gesammtarbeit  bestimmt,  wird  ebenfalls 
eine  Angelegenheit  der  politischen  Gerechtigkeit.  Die  eingesetzten 
Kräfte  eines  Jeden  können  sich  hiebei  als  gleichwerthig  geltend 
machen;  denn  im  gegenseitigen  Austausch  der  Erzeugnisse  kommt 
volkswirthsftihaftlich  nur  die  Beschaffungsschwierigkeit,  also  der  Auf- 
wand an  Arbeitszeit  als  werthbestimmend  in  Frage.  Politisch  kann 
aber  Niemand  einwilligen,  dass  die  gleichheitliche  Einsetzung  seiner 
allgemeinen  Menschenkraft  für  die  Production  etwas  Anderes  als  den 
Anspruch  auf  einen  ebenfalls  gleichheitlichen  Genuss  zur  Folge  habe. 
Oekonomisch  macht  sich  dies  sogar  von  selbst,  wenn  nur  bei  der 
Berechnung  der  Werthe  und  demgemäss  bei  der  Feststellung  der 
Preise  von  der  Anzahl  der  bei  der  Production  betheiligten  Menschen- 
kräfte ausgegangeu  wird.  Die  Gleichsetzung  dieser  Menschenkräfte, 
mögen  die  Einzelnen  nun  Mehr  oder  Weniger  oder  zufällig  auch 
Nichts  geleistet  haben,  ist  aber  ein  politischer  Act,  welcher  der  will- 
kürlichen Hinabdrückung  der  Geltung  oder,  anders  ausgedrückt,  des 
Werths  des  Arbeiters  contrastirend  entgegensteht. 

Noch  weit  mehr,  als  die  ausschliessliche  Herrschaft  über  die 
Natur,  ist  die  Verfügung  über  die  Aufhäufungen  der  dem  Menschen 
entfremdeten  und  in  Erzeugnissen  verkörperten  Arbeit  als  eine  ur- 
sprüngliche und  fortbestehende  Verletzung  der  Gerechtigkeit  aufzu- 
fassen. Einen  grossen  Theil  dieser  Aufhäufung  bilden  die  unent- 
behrlichen Arbeitsmittel  und  mithin  die  der  Production  dienstbaren 
Capitalien.  Durch  sie  findet  sich  das  echte  Princip  des  Eigenthums 
noch  ärger  beeinträchtigt,  als  durch  die  Abpferchung  der  Naturmittel. 
Die  Arbeit  oder  der  volle  Werth  derselben  gehört  dem  zu  Eigen, 
von  dem  sie  ausgeht.  Gegen  dieses  Eigenthum  verstösst  aber  das 
blos  so  genannte  Eigenthum,  wie  es  vornehmlich  als  Gewalteigen- 
thum  mit  dem  ünterdrückungsstaat  gross  geworden  ist.  Hier  hat 
also  ebenfalls  die  pohtische  Gemeinschaft  xommunitäre  Ansprüche  zu 
erheben;  denn  ein  Zustand  voller  wirthschaftlicher  Gerechtigkeit 
hätte    den    ausschliesslichen   Capitalbesitz    und   die  Capitaloligarchie 


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von  vornherein  verhindert.  Die  Entfremdung  des  Eigensten,  worüber 
der  Mensch  von  Natur  verfügte,  heisst  sonderbarerweise  mit  ihrem 
historischen  Namen  selbst  Eigenthum,  und  diese  Bizarrerie  des 
Sprachgebrauchs  begründet  sich  nur  dadurch  einigermaassen ,  dass 
auch  das  Gewalteigenthum  innerhalb  des  Kreises  der  gegenseitig  für 
dasselbe  politisch  Versicherten  ein  relatives  Recht  ist. 

9.  Am  meisten  pflegt  man  die  Möglichkeit  in  Frage  zu  stellen, 
das  Wirthschaftsrecht  politisch  im  Sinne  der  freien  Socialität  zu 
ordnen.  Die  Schwierigkeit  ist  hier  aber  nicht  grösser,  als.  in  der 
Bestimmung  sonstiger  Functionen  und  Functionäre  der  Gesellschaft. 
Wie  man  die  jedesmaligen  Richter  dort  durch  Wahl  abordnen  mag, 
wo  nicht  unmittelbar  alle  Glieder  der  GrundvereiniguÄg  eintreten 
müssen,  und  wie  man  durch  wählende  Bezeichnung  aus  dem  Kreise 
technisch  Vorgeschulter  die  militairischen  Führer  bestimmt,  so  wird 
man  auch  die  Functionäre  der  Wirthschaftsverfassung,  gleich  denen 
jeder  andern  Verwaltung,  regelrecht  zu  beschaffen  verstehen.  Nur 
wenn  es  an  den  materiellen  Grundsätzen  selbst  fehlte  und  so  die 
wirthschaftliche  Gerechtigkeit  ohne  Compass  wäre,  würde  man  sich 
vor  einer  wirklichen  Schwierigkeit  befinden.  Glücklicherweise  ist 
sich  aber  sogar  die  wirthschaftliche  Wissenschaft,  deren  Fehlen  an 
sich  selbst  die  unmittelbar  klaren  Rechte  wahrlich  nicht  mi  {vernichten 
würde,  noch  obenein  deutlich  bewusst  geworden,  wie  das  einfachste 
Spiel  des  Werthgesetzes  unter  übrigens  gleichheitlichen  Verhältnissen 
grade  ohne  willkürlichen  Zwang  dahin  fuhrt,  das  Recht  der  Arbeit 
auf  gleichen  Genuss  zu  verwirklichen.  Ja  selbst  wenn  man  Unter- 
schiede der  Arbeitsamkeit  als  maassgebend  zuliesse,  würden  in  dem 
natürlichen  System  der  Gesellschaft  doch  nur  verhältnissmässig  kleine 
Verbrauchsabweichungen  platzgreifen.  Die  Aufhäufungen  würden 
immer  nur  der  Consumtion  dienen,  nie  aber  die  Knechtung  und 
Aneignung  der  fremden  Arbeitskraft  ermöglichen.  Auch  das  Ge- 
währenlassen der  erblichen  Uebertragung  solcher  Vortheile  bliebe 
naturgemäss;  denn  die  Wirthschaftsverfassung,  welche  die  Miethe 
der  Arbeitskraft  als  ein  Verhältniss  der  Halbsklaverei  ausschliesst  und 
auch  sonst  thatsächlich  jeder  Arbeitskraft  ihren  selbständigen,  keinem 
andern  Menschen  dienstbaren  Platz  anweist,  verhinderte  von  vorn- 
herein jede  privatökonomische  Machtbildung. 

Die  technischen  Leiter  der  Production  würden  nicht  mit  den 
Organen  der  wirthschaftlichen  Rechtsordnung  zusammenfallen.  Um 
jene  zu  bestimmen,   würde  mau  schon   der  allgemeinen   Schule  die 


—     283     — 

Auswahl  oder  nöthigenfalls  Ausloosiing  derjenigen  aufzugeben  haben, 
welche  zum  besondem  Fachunterricht  höherer  Art  in  der  einen  oder 
andern  Richtung  übergehen  sollen.  Der  Reiz  des  Aufsteigens  zu 
Thätigkeiten,  die  mehr  Fähigkeiten  und  Vorbildung  ins  Spiel  setzen, 
würde  ausschliesslich  auf  der  Neigung  zu  der  betreffenden  Beschäfti- 
gung und  auf  der  Freude  an  der  Ausübung  grade  dieser  und  keiner 
andern  Sache  beruhen.  Er  würde  nicht  mehr  jener  Stachel  sein,  der 
die  Eroberung  einer  Stellung  zu  Erwerb  und  Herrschaft  sowie  da- 
neben noch  die  Befriedigung  von  ein  wenig  Eitelkeit  oder  gemeinem 
Ehrgeiz  als  entscheidendes  Ziel  vor  Augen  hat  und  fast  niemals  von 
einem  erhebhchen  Maass  ursprünglicher  Liebe  zur  Sache  begleitet 
ist.  Jener  edlere,  aus  wirklicher  Neigung  entsprungene  Antrieb  würde 
auch  den  Wetteifer  nicht  vergiften  und  das  feindliche  Element  der 
Mitbewerbung  durch  eine  wilhge  Unterwerfung  unter  diejenige  Noth- 
wendigkeit  ersetzen,  durch  welche  der  Sache  am  besten  gedient  wird. 
Die  Personen  würden  lernen,  sich  zu  bescheiden,  wo  die  Gesetze  der 
Sache  und  hiemit  des  allseitigen  Wohls  gesprochen  haben.  Das  Ur- 
theil  über  die  Fähigkeiten  würde  nicht  nur  methodisch  sorgfältig, 
sondern  auch  schon  von  den  ersten  Stufen  der  Schulung  her  mit 
aller  Rücksicht  auf  die  freien  Formen  eines  Gemeinwesens  festzu- 
stellen sein.  Unter  den  gleich  Fähigen  würde,  falls  die  Anzahl  zu 
gross  wäre,  wie  schon  angedeutet,  der  unparteiliche  Zufall  d.  h.  das 
Loos  zu  entscheiden  haben.  Durch  die  Vorbildung  verkörpert  sich 
in  ihrem  Träger  auf  rein  persönliche  Weise  eine  Menge  von  Arbeits- 
kraft, die  erforderlich  war,  um  durch  Unterricht  und  Einübung  den 
tüchtigen  Kopf  und  die  geschickte  Hand  herzustellen.  Aus  dieser 
Verkörperung  darf  nun  der  auf  diese  Weise  schon  persönlich  Be- 
günstigte nicht  etwa  noch  einen  Anspruch  auf  besondere  Belohnung 
und  gesteigerten  Genuss  ableiten.  Er  darf  seine  verbesserten  leib- 
lichen und  geistigen  Organe  in  dieser  Beziehung  nicht  anders  be- 
trachten, als  irgend  ein  anderes,  äusserliches  Arbeitsmittel,  welches 
ihm  von  der  Gesellschaft  zugerichtet  und  zur  Benutzung  übergeben 
ist.  Die  Herstellung  von  beiderlei  Werkzeugen  Imt  die  Ausgabe  einer 
Menge  von  Arbeitskraft  gekostet,  welche  von  der  Person,  die  nun 
über  diese  Werkzeuge  verfügt,  nicht  hätte  geleistet  werden  können. 
Die  entsprechende  Ausstattung  mit  besonderer  Geschicklichkeit  oder 
•mit  Maschinen  ist  daher  ihrem  ökonomischen  Werthe  nach  ein  Auf- 
wand der  Gesellschaft  und  so  zu  sagen  eui  Eigenthum,  welches  von 
ihr  producirt  worden  ist.    Derjenige  nun,  welcher  in  die  bevorzugte 


—     284    — 

Lage  kam,  Gegenstand  dieser  Ausstattung  zu  werden,  mag  sich  hiezu 
Glück  wünschen,  hat  gber  nicht  das  mindeste  Recht,  noch  obenein 
auf  besondern  Entgelt  für  das  Anspruch  zu  machen,  was  an  ihm 
wesentlich  von  dem  Zusammenwirken  Aller  herstammt. 

Der  Andrang  zu  den  höheren  Specialitäten  muss  übrigens  in 
der  socialitären  Gesellschaft  noch  dadurch  gemässigt  werden,  dass 
die  Bildung  der  allgemeinen  Schule  Alles  bietet,  was  an  sich  selbst 
und  principiell  für  den  Menschen  einen  Reiz  haben  kann.  Die 
Grundlage^  und  Hauptergebnisse  aller  die  Welt-  und  Lebensansicht 
berührenden  Wissenschaften  gelangen  hier  zu  ihrem  Recht  für  die 
allgemeine  Bildung  und  für  die  Gestaltung  oder  Gewöhnung  des 
Denkens,  Fühlens  und  Wollens.  Genaue  und  sichere  Kenntnisse  über 
das,  was  auch  der  Nichtspecialist  für  die  eigne  und  fremde  Gesund- 
heit vorbeugend  oder  nachhelfend  thun  kann,  dürfen  schon  darum 
nicht  fehlen,  weil  man  hiedurch  nicht  nur  an  ärztlichen  Functionären 
der  Gesellschaft  viel  ersparen,  sondern  auch  die  Thätigkeit  dieses 
Berufs  durch  ein  derartiges  Zusammenwirken  erfolgreicher  machen 
kann.  Ebenso  werden  die  Hantirungen  und  Kunstfertigkeiten  von 
allgemeinem  Interesse,  also  namentlich  die  gewöhnlichsten  und  leicht 
zugänglichsten  Verrichtungen  in  Ackerbau,  Industrie  und  Verkehr, 
soweit  sie  irgend  zu  einer  Steigerung  der  allgemeinen  leibHchen  und 
geschäftlichen  Tüchtigkeit  oder  zu  einem  übersichtlichen  Verständniss 
der  Gesammtverhältnisse  beitragen  mögen,  bereits  von  der  allgemeinen 
und  gleichen  Schule  berücksichtigt.  Die  Voraussetzung  einer  solchen 
fundamentalen  Schule,  in  welcher  sich  gleichmässig  für  Alle  eine 
walirhaft  allgemeine  wissenschaftliche  und  sifcten veredelnde  Menschen- 
bildung concentrirt,  gestattet  es,  die  höhereu  specialistischen  Stufen 
mit  andern  Augen  zu  betrachten,  als  im  heutigen  Staat.  In  dem 
letzteren  finden  sich  die  Specialitäten  mit  der  politischen  Autorität 
und  der  ökonomischen  Macht  gemischt  und  übrigens  auf  einen  Stamm 
von  Volksunwissenheit  und  äusserst  unzulänglicher  Mittelbildung  ge- 
pfropft. In  der  freien  Gesellschaft  ist  aber  eine  so  klaffende  Un- 
gleichheit der  geistigen  Ausstattung  nicht  vorhanden.  In  ihr  wird 
man  den  fähigen  oder  gar  schöpferischen  Specialisten  zwar  achten 
und  überdies,  was  heute  se>ten  der  Fall  ist,  sogar  in  einem  gewissen 
Sinne  lieben;  aber  man  wird  in  ihm  keine  autoritäre  Macht  sehen, 
welche  das  allgemein  Menschliche  der  universellen  Bildung  wesentr 
lieh  überragte.  In  der  Hauptangelegenheit,  nämlich  im  allgemeinen 
Lebensbewusstsein   wird   er  sich  von  der  Gemeinschaft  Aller  nicht 


—     285    — 

erheblich  entfernt  haben  können,  und  seine  allgemeine  Bildung  wird 
dieselbe  sein,  wie  die  jedes  Andern,  Die  Gegenseitigkeit  zwischen 
denen,  welche  zuerst  neue  Bestand theile  des  Wissens  und  der  Bil- 
dung erringen,  und  denen,  welche  sie  alsdann  aufnehmen  und  auch 
sofort  vermittelst  jener  wahrhaften  Volksschule  fortpflanzen,  muss 
beiden  Theilen  zur  Befriedigung  gereichen ;  denn  es  hört  hiemit  jene 
Entfremdung  auf,  welche  die  kühnen  Geister  nicht  blos  von  der 
Menge,  sondern  auch  von  der  höhern  aber  rückständigen  Bildung 
der  Besten  ihrer  Zeit  so  oft  isolirt  und  ihnen  eine  für  den  Augen- 
blick unfruchtbare,  erst  einem  spätem  Geschlecht  förderliche  Ein- 
samkeit und  Zurückhaltung  aufgenöthigt  hat.  Auf  der  andern  Seite 
werden  auch  manche  Ausschweifungen  und  sogenannten  Geniespiele 
an  dem  lebendigen  Wechselverkehr  ein  Maass  finden,  welches  die 
bizarre  Yerlorenheit  des  Geistes  wieder  an  das  Geleise  des  normalen 
Gedankenganges  erinnert. 

10.  In  der  freien  Gesellschaft  kann  es  keinen  Cultus  geben; 
denn  von  jedem  ihrer  Glieder  ist  die  kindische  Ureinbildung  über- 
wunden, dass  es  hinter  oder  über  der  Natur  Wesen  gebe,  auf  die 
sich  durch  Opfer  und  Gebete  wirken  lasse.  Der  Naturgesetzlichkeit 
gegenüber  sind  die  vermeintlichen  Zauberkünste  der  Religionen  ein 
offenbares  Nichts,  und  die  innere  psychische  Wirkung  ist  ein  Trug, 
der  trotz  des  mancherlei  Scheins  von  vorläufiger  Befriedigung  doch 
auf  die  Dauer  nicht  wohlthätig  sein  kann.  Die  falschen  Träume 
halten  eben  die  Probe  der  Wirklichkeit  nicht  aus,  und  die  fortge- 
setzte Pflege  derselben  ist  eine  Art  Wahnberauschung,  auf  welche 
eine  mit  üebelbefinden  verbundene  Ernüchterung  des  Einzelnen  und 
der  Völker  folgen  muss.  Hiemit  wird  alsdann  die  Aera  der  Religion , 
die  nichts  als  ein  Erzeugniss  der  unzulänglichen  Orientirung  des 
Menschengeistes  war,  endgültig  geschlossen.  Die  naturwissenschaft- 
liche Denkweise  verallgemeinert  sich  zu  einer  Erkenntniss  der  durch  - 
gängigen  Regelmässigkeit  aller  Vorgänge,  und  hiemit  ist  dem  Ge- 
danken, auf  die  Dinge  und  das  eigne  Schicksal  durch  Kundgebungen 
zu  wirken,  die  sich  an  imaginäre  und  mystische  Mächte  richten,  die 
Wurzel  abgeschnitten.  Es  bleibt  nur  die  allgemeine  Speculation, 
d.  h.  die  Bildung  von  verstandesmässigen  Ideen  und  gemüthshaften 
Eindrücken  übrig,  in  denen  sich  der  Charakter  alles  Seins  mehr  oder 
minder  zutreffend  bekunden  mag.  Diese  Speculation  oder,  mit  an- 
dern Worten,  dieses  betrachtende  Nachdenken  ist  aber  kein  Caltus  ; 
denn  es  richtet    sich  nicht  wie  dieser  auf  Vortheile,   die  durch  eine 


—     286     — 

mit  Opfern  erkaufte  oder  aber  auch  blos  erbettelte  Göttergunst  ge- 
sichert werden  sollen.  Jene  Speculation  kann  ebensogut  wie  das 
mathematische  Nachdenken  oder  wie  die  Poesie  bestehen,  auch  wenn 
ihr  keine  besondern  öffentlichen  Einrichtungen  gewidmet  sind.  Jedoch 
wird  das,  was  an  ihr  wirkliches  Wissen  oder  unumgängliches  Em- 
pfinden ist,  bereits  in  der  allgemeinen  Schule  gleich  andern  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Bestandtheilen  der  universellen  Bil- 
dung hinreichend  Wurzel  fassen,  und  es  bleibt  ja  überdies  den  Ein- 
zelnen und  den  Gruppen  unbenommen,  von  ihrer  reichlich  bemessenen 
freien  Zeit  auch  für  die  besondere  Pflege  beschaulicher  Betrachtung 
je  nach  der  Neigung  Gebrauch  zu  machen.  Um  die  moralischen  Ele- 
mente, die  sich  in  sehr  zweideutiger  Weise  mit  den  rehgiösen  Vor- 
stellungen und  Verfahrungsarten  mischten,  braucht  man  nicht  be- 
sorgt zu  sein;  denn  die  freie  Gesellschaft  hat  festere  und  edlere 
Grundlagen  der  Sittlichkeit  aufzuweisen,  als  jemals  mit  irgend  einer 
Superstition  vereinbar  gewesen  sind  oder  werden  können.  Der  freie 
Kopf  und  alle  bessern  Naturtriebe  des  Herzens  sind  hier  die  Gesetz- 
geber, und  eine  auf  Wohlwollen  und  Verstand  gegründete  Vereini- 
gung ist  in  jedem  ihrer  Glieder  und  als  organisirtes  Ganze  der  Bürge 
für  die  thatsächliche  Güte  und  Vervollkommnung  der  Sitten. 

Mit  dem  Cultus  und  der  zugehörigen  Religion  kommen  auch 
die  entsprechenden  Nebeneinflüsse  auf  die  Regeln  und  Einrichtungen 
des  bisherigen  Rechts  in  Wegfall.  So  ist  nicht  blos  kein  Eid  son- 
dern auch  kein  Analogon  desselben  mehr  denkbar.  Es  würde  nämlich 
.ein  Abweg  sein,  die  ursprünglich  von  den  religiösen  Vorstellungen 
erzeugte  Einrichtung  des  Eides  nun  etwa  fernerhin,  in  vermeintlich 
recht  verstandesmässiger  Weise,  als  eine  Versicherung  fortbestehen 
zu  lassen,  auf  deren  absichtliche  Falschheit  eine  bedeutende  Ver- 
brechensstrafe gesetzt  wäre.  Dies  hiesse,  eine  willkürliche  geistige 
Folter  grade  da  festhalten,  wo  ohne  die  ursprüngHch  freiwillige  Sitte 
des  Schwörens  das  ganze  Beweismittel  nie  in  Frage  gekommen  wäre. 
Das  Rechnen  mit  der  klaren  Wirklichkeit  kann  überhaupt  den  sub- 
jectiven  Beweismitteln  nicht  soviel  Bedeutung  einräumen,  als  die 
wenig  exacte  Auffassung  der  zwar  neuerdings  formell  ungebundenen, 
aber  dafür  auch  principlos  zwischen  Gewohnlieit  und  Willkür  schwan- 
kenden Gerichtsroutine.  Wer  da  meint,  man  könne  ohne  den  Eid 
oder  ein  rein  weltliches  Surro'gat  nicht  auskommen,  möge  nur  be- 
denken, dass  man  gegenwärtig  oft  in  der  schlimmeren  Lage  ist, 
Angesichts  des  Meineides  von  Schurken  und  der  säubern  Cousequenzen 


—     287     — 

der  vollen  Geltung    desselben  existiren  und  diesen  Eidesausbeutem 
die  Stirn  bieten  zu  müssen. 

Die  milden  Stiftungen,  die  zu  einem  grossen  Theil  den  Ver- 
tretern des  Cultus  anheimgefallen  sind,  finden  sich  in  der  freien  Ge- 
sellschaft durch  etwas  unvergleichlich  Besseres  ersetzt.  Hier  ist  die 
Humanität  der  fraglichen  Gattung  auf  das  veredelte  natürliche  Mit- 
leid gegründet  und  derartig  in  umfassenden  Organisationen  verkörpert, 
dass  sie  nicht  mehr  den  beliebigen  Einzelregungen  anheimfällt.  Der 
Beistand,  welchen  der  Mensch  dem  Menschen  in  Krankheit,  Unglück 
und  sonstiger  Hülflosigkeit  gewähren  soll,  reicht  freilich  über  die 
blosse  Gerechtigkeit  ursprünglicher  Art  hinaus,  muss  aber  dennoch 
als  eine  höhere  moralische  Pflicht  aufgefasst  werden,  weil  die  Ver- 
sagung desselben  zwar  nicht  als  eine  eigentliche  Gerechtigkeitsver- 
letzung, wohl  aber  überhaupt  als  ein  Mangel  und  zwar  als  ein  ähn- 
licher Mangel  empfunden  wird,  wie  wenn  auf  eine  Wohlthat  die 
Regung  und  Bethätigung  von  Dankbarkeit  ausbleibt.  Auch  schliesst 
die  allgemeine  Vergesellschaftung  sogar  den  Vertrag  auf  gegenseitige 
Hülfe  unter .  allen  Voraussetzungen  und  mithin  auch  für  die  Zustände 
der  Schwäche  und  Hülflosigkeit  ein.  Um  jedoch  den  Geist  der  auf- 
opfernden Mitempfindung  und  der  persönlichen  Hingebung  bei  der 
Krankenpflege  und  in  andern  Richtungen  umfassend  zu  verkörpern 
und  stets  regezuhalteu,  bedarf  man  mehr  als  des  blossen  Gedankens 
einer  gesellschaftlich  nothwendigen  Pflicht.  Man  bedarf  ausser  der 
Erkenntniss  dieser  Pflicht  auch  noch  einer  besondem  Steigerung  und 
Ausbildung  des  Mitgefühls  und  einer  Art  edler  Leidenschaft  für  die 
Uebernahme  derjenigen  Bürden  und  Geduldsproben,  welche  die  Aus- 
übung des  fraghchen  Beistandes,  gestalte  sie  sich  als  dauernder 
Beruf  oder  als  zeitweilige  Verrichtung,  stets  in  irgend  einem  Maasse 
mit  sich  bringen  wird.  Nur  die  zur  zweiten  Natur  gewordene,  frei 
aus  der  Gefühls-  und  Denkweise  entspringende  Theilnahme  kann 
hier  das  Höchste  leisten  und  über  die  äusserliche  Bethätigung  wohl- 
wollender Pflege  hinaus,  die  auch  schon  ein  wahrlich  nicht  gemeines 
Ergebniss  ist,  zur  Befriedigung  der  Gemüthsbedürfhisse  der  frag- 
lichen. Zustände  gelangen.  Das  tief  wurzelnde  Bewusstsein  von  dem 
gemeinsamen  Menschenschicksal  und  die  Erweckung  des  feineren 
Mitgefühls  für  die  einzelnen  Gestalten  individuellen  Unglücks  und 
Schmerzes  werden  allein  vermögen,  jene  opferwillige  Gesinnung  zu 
erzeugen,  ohne  welche  auch  die  besten  und  wirksamsten  äussern 
Einrichtungen  eine  Halbheit  bleiben  müssten.     Die  Versenkung  in 


—     288     — 

den  Gedanken  des  allgemeinen  Bandes,  welches  in  Lust  nnd  Schmerz 
alle  Theilhaber  an  der  Menschennatur  umschlingt,  sowie  in  die  Idee, 
dass  die  Welle,  welche  der  Einzelne  im  Strome  des  Lebens  ist,  einem 
Element  und  Wesen  angehört,  das  wir  Alle  sind  und  mannichfaltig 
ausprägen,  —  diese  lebendige  Erfassung  der  menschlichen  Sohdarität 
im  Leben  und  Sterben  darf  nicht  fehlen,  wenn  der  Mensch  dem 
Menschen  im  Unglück  und  in  der  Pein  letzter  abschliessender  Lebens- 
acte  das  sein  soll,  was  er  durch  echte  Theilnahme  wirklich  zu  sein 
vermag.  Man  vergleiche  nun  mit  dieser  natürlich  menschlichen,  aber 
darum  nur  um  so  höheren  Aufgabe  die  Bestrebungen,  welche  die 
bisherige  Geschichte  im  Reich  der  auf  Bettel  und  frömmelnden  Trug 
gegründeten  Einrichtungen  aufzuweisen  hat.  Was  sich  hier  selbst 
innerhalb  des  Rahmens  der  allgemeinen  Täuschung  an  wahrer  Mensch- 
lichkeit ausnahmsweise  bethätigen  mochte,  musste  durch  die  Mischung 
mit  den  überwiegenden  schlechteren  Bestandtheilen  geschwächt  und 
verunstaltet  werden.  Die  unnatürliche  Richtung  und  der  pietistische 
Zwang,  in  welchen  an  sich  gute  Regungen  verschoben'  und  ver- 
schroben wurden,  mussten  selbst  die  beste  Anlage  und  die  auf- 
richtigste Hingebung  mit  schädlichen  und  unleidlichen  Bestandtheilen 
versetzen.  Ueber  diese  Fälschungen  der  edelsten  Seiten  der  Menschen- 
natur kann  nur  die  freie  Gesellschaft  endgültig  triumphiren ,  weil 
sie  allein  es  ist,  in  welcher  der  Mensch  sein  theilnehmendes  Wesen 
nicht  nur  ohne  mystischen  Dunst  erkennt,  sondern  auch  unbefangen 
und  ohne  den  kindischen  Anspruch  auf  transcendent  magische  Zauber- 
künste, also  rein  und  ausschhesslich  im  Sinne  der  Wirklichkeit  aus- 
prägt. 

11.  In  dem  überlieferten  Staat  sind  die  verschiedenen  politischen 
Körperschaften  vorherrschend  nach  dem  Muster  der  allgemeinen  Ge- 
waltverfassung und  im  Sinne  des  Bevormuuduugsprincips  eingerichtet- 
Man  darf  nm*  an  die  Gemeindeverfassungen  und  an  die  privilegien- 
hafte  Entstehangs-  und  Verwaltungsar fc  der  mannichfaltigen  Corpo- 
rationen  denken,  um  sofort  inne  zu  werden,  dass  der  Rahmen  des 
Unterdrückungsstaats  keine  Bilder  fassen  kann,  die  nicht  den  gleichen 
Gegensatz  von  Herrschaft  und  Knechtschaft  weiter  ausgeführt  ent- 
halten. Die  Gleichartigkeit,  mit  welcher  sich  die  Gesammtverfassung 
in  entsprechend  unfreien  Gemeinde-  und  Corporationseinrichtungen 
geltend  macht,  gilt  nicht  blos  im  Allgemeinen,  sondeni  auch  für  die 
Unterschiede  des  Mehr  und  Minder  der  Knechtschaft,  die  uns  freilich 
hier,  wo  wir  nur  im  Grossen  Abrechnung  halten,  nicht  besonders 


—     289     — 

interessiren  können.  Jedoch  ist  die  allgemeine  Idee  von  Werth,  dass 
sich  die  kleinern  politischen  Einheiten  überall  den  staatlichen  Ge- 
sammtformen  anbequemen,  und  dass  in  der  Gemeindeverfassung 
Unterdrückung  und  Vormundschaft  auch  dann  noch  unbeschränkt 
fortzubestehen  pflegen,  wenn  übrigens  schon  in  der  Gesammtver- 
fassung  einige  Milderungen  durchgesetzt  worden  sind.  Diese  Er- 
scheinung ist  sehr  natürlich;  denn  die  klein ern  Einheiten  gelten  im 
Gewaltstaate  nur  als  Ausläufer  desselben,  und  man  muss  daher  erst 
bei  ihm  selbst  in  seinen  grossen  Dimensionen  beginnen ,  ehe  man 
seine  entfernteren  Consequenzen  zu  erreichen  vermag. 

Ursprünglich  ist  auch  die  Familie  eine  politische  Einheit,  und 
die  Herrschaft  des  Pamilienhauptes  eine  Gewalt,  welche  die  wichtig- 
sten Eigenschaften  der  Staatshoheit,  wie  z.  B.  eine  Art  Strafgerichts- 
barkeit, einschliesst.  Wo  der  Familiendespot  das  Recht  über  Leben 
und  Tod  seiner  Angehörigen  hatte,  da  war  die  Familie  zugleich  der 
Unterdrückungsstaat  im  Kleinen.  Nun  ist  freilich  im  Lauf  der  Ge- 
schichte die  private  Familiengewalt  immer  mehr  beschränkt  worden, 
und  ihre  eigentlich  politischen  Functionen  sind  -gänzlich  an  den 
Gewaltstaat  übergegangen.  Ein  bemessenes  Züchtigungsrecht  gegen 
die  Kinder  kann  kaum  als  Rest  der  ursprünglichen  Strafe  ompetenz 
angesehen  werden;  denn  es  hat  nur  einen  pädagogischen  Sinn  und 
\vürde  äusserst  fraglich  werden,  wenn  es  über  die  Zeit  der  eigent- 
lichen Erziehung  hinaus  zur  Anwendung  kommen  sollte.  Ueberhaupt 
sind  die  Bestandtheile  der  väterlichen  Gewalt,  soweit  dieselben  über 
die  Erziehung  hinausreichen  sollen,  jetzt  nur  vereinzelte  Ueberbleibsel 
und  bleiche  Schatten  der  ursprünglichen  Machtvollkommenheit.  Die 
Einwilligung  zur  Ehe  der  Kinder  ist  zu  einer  Form  herabgesunken, 
und  die  Vorenthaltung  derselben  kann  äusserstenfalls  nur  eine  auf- 
schiebende Wirkung  haben. 

Trotz  dieser  Einschrumpfung  der  Familiengewalt  bleibt  aber 
dennoch  der  Satz  bestehen,  dass  der  Unterdrückungsstaat  ,  die  Ge- 
sellschaft mit  dem  Gewalteigenthum  und  die  Familie  mit  der  Zwangs- 
ehe als  gleichartig  zueinander  gehören.  Wie  sollte  auch  das ,  was 
von  allen  politischen  Einheiten  und  körperschaftlichen  Gestaltungen 
gilt,  bei  einer  Einrichtung  nicht  zutreffen,  in  deren  Rahmen  sich 
weltgeschichtlich  die  schroffste  Ungleichheit,  nämlich  die  lebensläng- 
liche Rechtsunmündigkeit  des  Weibes  geborgen  hat !  Auch  nach 
der  heute  üblichen  Auffassung  ist  die  Ehe  eine  Unterordnung  des 
Weibes  unter  den  Willen  des  Mannes,   und  wir  haben  es  daher  in 

Dübring,  Cursus  der  Philosophie.  1^' 


—     290    — 

der  Zwangselle  so  gut  wie  im  Unterdrückungsstaate  mit  einem  Ver- 
hältniss  von  Herrschaft  und  Knechtschaft  zu  thun.  Eine  mildere 
Aussenseite,  die  sich  etwa  in  der  wirklichen  Sittengestaltung  zeigen 
mag,  darf  über  die  juristischen  Consequenzen  nicht  täuschen,  die 
aus  den  anerkannten  Rechten  jederzeit  gezogen  werden  können  und 
auch  oft  genug  direct  und  noch  öfter  indirect  benutzt  werden.  Die 
Frau  muss,  bei  Vermeidung  polizeilichen  Zwanges,  dem  Manne  folgen, 
wohin  ihm  zu  gehen  beliebt,  oder,  was  unter  Umständen  schlinuner 
sein  kann,  sich  das  von  ihm  gewählte  Domicil  anweisen  lassen, 
während  er  bezüghch  seines  thatsächlichen  Aufenthalts  völhg  un- 
gebunden bleibt.  In  dem  entscheidenden  Hauptpunkt,  auf  welchen 
das  ganze  Eheverhältniss  angelegt  ist,  hat  die  Frau  sogar  das  ge- 
meine Schutzrecht  eingebüsst,  welches  selbst  jeder  feilen  Dirne  gegen- 
über juristisch  gültig  ist.  In  der  Ehe  kennt  nämlich  das  Strafrecht 
thatsächhch  keine  Nothzucht,  und  es  wäre  auch  wunderlich,  ein 
eigentlich  juristisches  Recht  auf  den  Geschlechtsverkehr  anzuerkennen 
und  dabei  die  Eigenschaft  aller  mehr  als  blos  moralischen  Rechte, 
nämlich  die  executive  Erzwingbarkeit  auszuschliessen.  Gesellt  sich 
doch  zu  dem  fraglichen  Mangel  an  Schutz  noch  indirect  die  positiv 
gerichtliche  Anhaltung  zum  Geschlechtsverkehr  oder,  um  buchstäb- 
lich mit  den  Gesetzbüchern  zu  reden,  zur  ehelichen  Pflicht,  indem 
die  wirksame  Vorenthaltung  der  letzteren  als  ein  Treunungsgrund 
die  Ehe  selbst  in  Frage  stellt !  Auch  kann  man  nicht  einmal  sagen, 
dass  dieses  System  inconsequent  sei ;  es  ist  eben  nur  die  Folge  einer 
Rechtseinrichtung,  vermöge  deren  das  lebenslängliche  Geschlechts- 
monopol sanctionirt  wird.  Lässt  man  einmal  die  Eingehung  eines 
Rechtsverhältnisses  zu,  in  welchem,  wie  selbst  die  nichtjuristische 
Sprache  verräth,  der  „Besitz"  des  Weibes  oder,  mit  andern  Worten, 
die  volle  und  ausschliessliche  Herrschaft  über  die  geschlechtlichen 
Eigenschaften  und  Functionen  den  Gegenstand  des  Rechts  bildet, 
so  wird  man  auch  jene  Consequenzen  ziehen  und  sowohl  die  unmittel- 
bare als  auch  die  mittelbare  Erzwingung  gutheissen  und  gerichtlich 
unterstützen  müssen.  Die  bei  manchen  juristischen  Schriftstellern 
beliebte  Berufung  auf  die  mehr  sittliche  als  eigentlich  juristische 
Natur  der  fraglichen  Verhältnisse  ist  Angesichts  des  geltenden 
Systems  der  historisch  überlieferten  Ehegestaltung  nichts  weiter  als 
eine  Umgehung  der  Schwierigkeiten  des  Eherechts  und  eine  Aus- 
flucht, durch  welche  die  Widersprüche  des  veredelten  natürlichen 
Gefühls  «nd  der  Grundlagen  des  wirklichen  Rechtsinstituts  umnebelt 


—     291     — 

werden  sollen.  Der  sittliche  Anschein,  mit  dem  man  auf  diese  Weise 
der  schärferen  Untersuchung  auszuweichen  gesucht  hat,  ist  ein  Ver- 
tuschungs-  und  Beschönigungsmittel  gewesen,  mit  dem  man  sich 
und  Andern  gleichsam  sittenheuchlerisch  die  entscheidenden  Frage- 
punkte verhehlte  und  so  der  Nothwendigkeit  einer  klaren  Antwort 
möglichst  weit  aus  dem  Wege  ging. 

12.  In  Wahrheit  soll  die  Ehe  allerdings  ein  Gebilde  der  Sitte, 
aber  eben  darum  auch  in  der  Hauptsache  kein  Institut  des  Zwangs- 
rechts sein.  Geschichtlich  ist  sie  bisher  in  allen  ihren  auf  ein  Weib 
oder  mehrere  gerichteten  Gestalten  eine  geordnete,  aber  im  Sinne 
der  Unterdrückung  geordnete  Form  der  dauernden  Geschlechtsgemein- 
schaft gewesen.  Jedoch  sind  Ausdrücke  wie  Gemeinschaft  und  Zu- 
sammenleben der  Geschlechter  für  den  Gesammtverlauf  der  Geschichte 
des  Instituts  insofern  noch  zu  edel,  als  durch  sie  die  Einseitigkeit 
des  Eherechts,  die  eine  Aneignung  des  Weibes,  aber  keine  eigent- 
liche Vergesellschaftung  mit  ihm  darstellte,  leicht  im  Sinne  besserer 
Zukunftsgedanken  umgedeutet  und  so  in  ihrer  wahren  historischen 
Beschaffenheit  verhüllt  wird.  Der  Ehebruch  ist  zwar  in  den  neuem 
Gesetzgebungen  so  aufgefasst,  dass  er  auch  auf  den  anderweitigen 
Geschlechtsverkehr  der  Männer  bezogen  wird;  indessen  ist  diese 
Gleichheit  nur  scheinbar  und  künstlich  gezwungen.  Die  alten  Ord- 
nungen waren  natürlicher  und  offener.  Auch  passten  sie  weit  besser 
zur  Zwangsehe,  als  die  moderne  Seheinheiligkeit,  die  ein  gleiches 
Maass  anzuwenden  vorgiebt,  wo  Natur  und  Verhältnisse  es  Angesichts 
des  Zwangsinstituts  nun  einmal  nicht  gestatten.  Der  Geschlechts- 
verkehr der  Männer  ausserhalb  der  eignen  Ehe  ist  gar  nicht  wirk- 
sam zu  hindern  oder  zu  überwachen  und  hat  auch  nicht  wie  der- 
jenige des  Weibes  die  materiell  sehr  wichtige  Folge,  die  eigne  Familie 
mit  Kindern  fremder  Abstammung  zu  untermischen  und  so  alle  An- 
nahmen über  die  Vaterschaft  unsicher  zu  machen.  In  ihrem  alten 
Geist  und  Bestände  wird  in  der  That  die  ganze  Familienverfassung 
durch  den  weiblichen  Ehebruch  eingerissen,  während  das  entsprechende 
Verhalten  des  Mannes  ganz  spurlos  bleiben  und  im  äussersten  Fall 
nur  eine  Privatbelastung  nach  Aussen  mit  Verbindlichkeiten  für  un- 
eheliche Kinder  mit  sich  bringen  kann.  Die  Prostitution  gilt  in  der 
auf  Verkauf  des  Menschen  au  den  Menschen  gegründeten  Unter- 
drückungsgesellschaft als  ^selbstverständliche  Ergänzung  der  Zwangs- 
ehe zu  Gunsten  der  Männer,  und  es  ist  eine  der  begreiflichsten,  aber 
auch  bedeutungsvollsten  Thatsachen ,   dass  es   etwas  Aehnliches  für 

19* 


—     292     — 

die  Frauen  nicht  geben  kann.  Die  Kluft  bleibt  hier  also  Angesichts 
der  Zwangsehe  zwischen  den  Folgen  des  Verhaltens  beider  Ge- 
schlechter schon  von  ^Natur  eine  so  grosse,  dass  eine  wahrhafte  Aus- 
gleichung der  Pflichten  nur  mit  der  Abschaffung  eben  jener  Zwangs- 
ehe denkbar  ist.  Nach  der  historischen  und  dem  Wesen  des  Gewalt- 
instituts allein  entsprechenden  Auffassung  giebt  es  einen  eigentlichen 
Ehebruch  nur  auf  Seiten  des  Weibes,  und  der  Fremde  ist  auf  eigne 
Hand  nur  Störer  des  Besitzrechtes,  übrigens  aber  Theilnehmer  an 
dem  Hauptvergehen.  Auf  den  Mann  aber,  der  in  der  eignen  Ehe 
die  geschlechtliche  Ausschliesslichkeit  nicht  einhält,  findet  der  natür- 
lich geschichthche  Begriff  keine  Anwendung.  Der  Mann  verletzt 
das,  was  man  auch  an  ihm  eheliche  Treue  nennt,  und  macht  je 
nach  den  vorherrschenden  Begriffen  die  natürliche  oder  künstliche 
Eifersucht  des  Weibes  mehr  oder  minder  rege.  Man  muss  indessen 
sorgfältig  zwischen  der  naturwüchsigen  Eifersucht,  die  auf  wirklicher 
Affection  beruht,  und  jener  mehr  künstlichen  unterscheiden,  die  nur 
die  Verletzung  eines  wirklichen  oder  vermeinten  Rechts,  gleich  der 
jedes  andern  Anspruchs  oder  Besitzes,  überwachen  will.  Die  Liebe 
vor  der  Ehe  zeigt  uns  jene  noch  reih  natürlichen  Bestandtheile  der 
Eifersucht,  die  ja  unsern  frühern  Lehren  gemäss  in  der  Oekonomie 
der  menschlichen  Beziehungen  als  unentbehrliche  Gestaltungskraft 
wirken  und  grade  für  eine  wahrhaft  sittliche  Ordnung  der  Vereini- 
gung der  Geschlechter  mit  ihrer  begrenzenden  und  beschränkenden 
Function  gar  sehr  ins  Gewicht  fallen  müssen.  Dagegen  ist  die  ehe- 
liche Eifersucht  innerhalb  der  Zwangsehe  stets  von  dem  Gedanken 
eines  eigentlichen  Rechtsanspruchs  ausschliesslicher  Art  getragen. 
Sie  schmeckt  bei  dem  Manne  ein  wenig  nach  dem  Eifer,  mit  welchem 
auch  anderer  Sachbesitz  gegen  Beeinträchtigung  gehütet  wird;  bei 
dem  Weibe  aber  ist  sie  ein  Festhalten  au  der  Ausschliesslichkeit  der 
Gunst  und  in  gröberer  Weise  auch  wohl  eine  Sorge  um  die  Ge- 
schlechtsbefriedigung, für  die  nicht,  wie  bei  dem  Manne,  eine  Er- 
gänzung leicht  und  gefahrlos  zu  finden  ist.  Die  Störung  nun,  welche 
der  Mann  durch  Erregung  dieser  letztern  Art  von  Eifersucht  in  die 
Familie  bringt,  ist  nicht  nur  etwas  Zufälliges,  dem  thataächlich  meist 
ausgewichen  wird,  sondern  auch  etwas,  was  in  so  verschiedenen 
Graden  vorhanden  sein  kann,  dass  es  sich  nur  in  den  äussersten 
Fallen  einigermaassen,  und  auch  dann  nur  annähernd,  mit  dem  Un- 
heil vergleichen  lässt,  welches  durch  die  Fehltritte  des  Weibes  ziem- 
lich sicher  zu  gewärtigen  sein  wird.   Will  mau  die  Rechtseinseitigkeit 


—     293     - 

der  Zwangsehe  vertheidigen,  so  sollte  mau  auch  soviel  Offenheit  und 
Muth  haben,  einzugestehen,  dass  hier  der  Ehebruch  wesentlich  nur 
als  eine  Verletzung  des  am  Weibe  erworbenen  Rechts  vorhanden 
sein  könne. 

13.  In  der  ünterdrückungsgesellschaft  ist  die  Ehe  eine  wirth- 
schaftliche  Versorgung  für  das  Weib,  und  die  Familie  die  entschei- 
dende Hauptveranstaltung  zur  Ernährung  und  Erziehung  der  Kinder. 
Setzt  man  ein  Gemeinwesen  voraus,  in  welchem  das  Weib  so  gut 
wie  der  Mann  wirthschaftlich  selbständig  ist  und  gleich  ihm  in  der 
Gesellschaft  eine  selbstgenugsame  und  mit  dem  gehörigen  Unterhalt 
verbundene  Function  übt,  ja  auch  in  den  Fällen  von  Krankheit, 
Hülflosigkeit,  Altersschwäche  oder  sonstiger  Unzulänglichkeit  in 
gleicher  Weise  wie  sonst  unterhalten  wird,  —  setzt  man  eine  solche 
Wirthschaftscommune  voraus,  in  der  dann  auch  zugleich  für  die 
ünerwachsenen  Tisch,  Schule  und  Schutz  nach  bestimmten  Regeln 
zugänglich  sind,  so  kommen  die  hauptsächlichsten  Interessen,  unter 
deren  Einwirkung  sich  heute  auch  der  schwächere  Theil  in  die 
Zwangsehe  ergeben  und  selbst  an  ihren  unleidlichsten  Gestaltungen 
im  einzelnen  Fall  festhalten  muss,  gar  nicht  mehr  in  das  Spiel.  Ja 
selbst  die  Rücksicht  auf  die  Kinder  steht .  alsdann  der  freien  und 
wahrhaft  sittlichen  Gestaltung  der  Ehe  nicht  entgegen.  Die  Mutter 
ist  in  einem  solchen  Gemeinwesen  für  die  Zeit  der  natürlichen  Un- 
mündigkeit auch  die  natürliche  Erzieherin  der  Kinder.  Diese  Periode 
mag,  wie  im  alten  Römischen  Recht,  bis  zur  Pubertät,  also  etwa 
bis  zum  14.  Jahre  reichen.  In  der  freien  Gesellschaft  wird  nicht 
nur  die  mütterliche  Sorge,  sondern  auch  der  mütterliche  Schutz  bis 
dahin  genügen ,  und  namentlich  werden  die  guten  Schuleinrichtungen 
und  die  mit  ihnen  verbundenen  Erziehungsvorkehrungen  dahin  wir- 
ken, dass  der  gelegentliche  Mangel,  der  sich  sonst  in  einzelnen 
Fällen  bezüglich  des  Ansehens .  der  Mutter  den  älteren  Knaben  gegen- 
über herausstellen  könnte,  gehörig  ergänzt  und  nöthigenfalls  durch 
directe  öffentliche  Erziehung  unschädlich  gemacht  werde.  Der  väter- 
liche Beistand  wird  naturgemäss  in  der  ersten  Zeit  da  nicht  fehlen, 
wo  eine  freie,  der  Sitte  angehörige  Ehe  vorhanden  ist,  und  dieses 
Vorhandensein  wird  grade  in  der  freien  Gesellschaft,  in  welcher  die 
Prostitution,  d.  h.  der  Verkauf  der  Geschlechtseigenschaften ,  eine 
Unmöglichkeit  ist,  die  umfassende  und  nur  von  wenigen  Ausnahmen 
durchkreuzte  Regel  bilden.  Dieser  Beistand  des  Mannes  ist  unter 
allen  Verhältnissen  auch   für  das  Weib  und  zwar  besonders  in  den 


—    294    — 

Zeiten  der  Geburten  moraliscli  von  Wichtigkeit,  aber  in  der  freien 
Gesellschaft,  welche  für  die  Zustände  der  Hülflosigkeit  in  jeder 
Richtung  Fürsorge  triflFfc,  auch  bezüglich  der  Gemüthsrücksichten 
allenfalls  entbehrlich.  Wo  der  Mensch  an  dem  nächsten  Kreise  ge- 
sellschaffchch  einen  im  edelsten  Sinne  des  Worts  humanen  Rückhalt 
hat,  da  mag  er  den  Mangel  der  engsten  Beziehungen  zwar  nicht 
völlig  ersetzt  finden,  aber  doch  leichter  verschmerzen.  Allerdings 
giebt  es  keinen  vollständigen  Ersatz  für  die  individuelle  Liebe  und 
Sorge;  aber  es  handelt  sich  auch  hier  nur  um  die  Frage,  was  an  die 
Stelle  des  früheren  Zwanges  trete,  der  wahrlich  auch  keine  Bürg- 
schaft; der  freiwilligen  und  aufrichtigen  Liebe  einschloss.  Fehlt  der 
Vater  für  die  spätere  Zeit  der  Erziehung  und  Leitung,  welche  mit 
der  beginnenden  Geschlechtsfähigkeifc  eintreten  muss,  so  ist  es  in 
der  freien  Gesellschaft  sehr  leicht,  seinen  Antheil  an  der  natürlichen 
elterlichen  Vormundschaft  durch  öffenthche  Organe  wirksam  zu  er- 
setzen, da  die  Enge  und  Durchsichtigkeit  des  politischen  Zusammen- 
hangs der  kleinen  Gesellschaftscommunen  eine  nachhaltige  und  ver- 
lässliche Wahrnehmung  der  Angelegenheiten  des  Einzelnen  ermöglicht. 
Was  aber  das  Recht  des  Vaters  auf  die  natürliche  Vormundschaft 
anbetrifft,  so  hängt  es .  selbstverständlich  von  einer  unbestrittenen 
wirklichen  Vaterschaft  ab  und  kann  der  Regel  nach  nur  in  der 
freien  sittlichen  Ehe  als  ohne  Weiteres  vorhanden  anerkannt  werden. 
Man  wird  sich  jedoch  überhaupt  derartige  Verhältnisse  nicht  nach 
den  Interessen  des  heutigen  Familienrechts  zu  denken  haben.  Die 
Vermögensrücksichten  fallen  mit  der  Bedeutung  des  Erbrechts  für 
Wirthschaft  und  Existenz  so  gut  wie  fort;  denn  es  kann  sich 
äusserstenfalls  nur  um  die  Uebertragung  von  massigen  Anhäufungen 
für  die  Consumtion,  aber  nicht  von  grossen  Mitteln  für  die  Pro- 
duction  handeln.  Das  Verhältniss  zum  Grund  und  Boden,  zu  den 
Gebäuden  und  zu  den  Arbeitsmitteln  ist  ein  publicistisches  und  regelt 
sich  daher  nicht  nach  den  Grundsätzen  des  heutigen  Privateigenthums 
und  demgemäss  auch  nicht  nach  denen  des  Familien-  und  Erbrechts. 
Die  heutigen  Familienrechte  auf  die  Personen  verlieren  mit  den 
Zwangscönsequenzen  ebenfalls  ihre  Bedeutung,  und  die  Ausübung 
von  dem,  was  in  der  frei  sittlichen  Ehe  und  der  entsprechenden 
Familie  an  ihre  Stelle  tritt,  wird  zu  einer  gesellschaftlichen  Function 
fundamentaler  Art.  Die  freie  und  gleiche  Ehe  ist  die  von  der  Sitte 
aufrechterhaltene  Grundvereinigung  der  Geschlechter  in  individueller 
Liebe    und  Fürsorge   für    die  Nachkommenschaft.     Wo   diese  Sitte 


—    295     — 

selbst  die  etwa  entstehenden  Streitigkeiten' nicht  in  freier  Einigung 
ausgleicht,  da  sorgen  die  politischen  Functionen  der  Gesellschaft 
nicht  etwa  für  eine  Zwangsausgleichung,  sondern  unmittelbar  für 
die  Erziehungsinteressen  und  zwar  annähernd  so,  als  wenn  die  Ehe 
und  die  unentscheidbaren  Familienrechte  nicht  vorhanden  wären. 

14.  Nirgend  hat  das  Problem  der  einheitlichen  Leitung  gemein- 
samer Angelegenheiten  mehr  Schwierigkeiten  als  in  der  Ehe,  und  es 
ist  bisher  in  erträglicher  Weise  nur  durch  die  Anerkennung  der 
Oberherrschaft  des  Mannes  und  mithin  nur  einseitig  gelöst  worden. 
Die  sittliche  Ehe  in  der  freien  Gesellschaft  kennt,  wie  die  letztere 
überhaupt  und  in  allen  Gebilden,  durchaus  keine  Vorrechte  des 
Mannes.  Die  Vergesellschaftung  auf  gleichem  Fuss  ist  auch  in  der 
freien  und  natürlichen  Ehe  der  zukünftigen  bessern  Socialität  das 
Grundprincip.  Glücklicherweise  müssen  die  Conflicte  unter  Voraus- 
setzung der  neuen  socialitären  Gebilde  im  Rahmen  des  rein  Mora- 
lischen verbleiben,  und  hier  werden  die  gegenseitigen  Sympathien 
und  Interessen  das  den  Veruneinigungen  vorbeugende  oder  über  sie 
hinweghelfende  Band  abgeben.  Die  Functionentheilung  in  der  Er- 
ziehung wird  nicht  schwer  fallen  und  übrigens  werden  die  gegen- 
seitigen Anbequemungen  auch  weit  weniger  schwierig  sein,  wenn 
von  der  einen  Seite  nicht  mehr  die  besondere  Anmaassung  eines 
vermeintlich  naturberechtigten  üebergewichts  und  eines  privilegirten 
Willens  ausgespielt  werden  kann.  Um  gar  kein  Missverständniss 
offenzulassen,  sei  hier  noch  besonders  darauf  hingewiesen,  dass  die 
sittliche  Ehe  der  freien  Gesellschaft  ein  häusliches  Beisammenleben 
zwar  der  Regel  nach  mit  sich  bringen  wird,  aber  keineswegs  stets 
zur  unumgänglichen  Nothwendigkeit  macht.  Unter  Umständen  wird 
die  äusserliche  Trennung,  deren  sich  in  verkehrter  Anwendung  jetzt 
der  besondere  Luxus  der  Reichen  und  Hochgestellten  erfreut,  in 
heilsamer  Gestaltung  dazu  dienen  können,  den  Verkehr  unabhängiger 
zu  machen  und  individuell  zu  veredeln.  Die  Individualisirung  des 
Lebens  erheischt  oft  für  jeden  Theil  ein  Reich  für  sich  und  eine 
auch  thatsächliche  Selbständigkeit  in  den  sogenannten  Kleinigkeiten 
oder  besondern  Gewohnheiten  des  Daseins.  Auch  die  blos  indirecte 
Nöthigung,  selbst  mit  dem  nächsten  Herzensangehörigen  bei  jeder 
noch  so  untergeordneten  Lebens  äusserung  in  Berührung  zu  kommen, 
wird  für  beide  Theile  lästig  und  ergiebt  wahrlich  kein  Ideal  einer 
freien  und  schönen  Existenz.  Man  muss  einsam  sein  und  sich  zeit- 
weihg  dem  Verkehr  entziehen  können,  wenn  der  missliebige  Zwang 


—     296     — 

nicht  die  Reize  der  edleren  Geselligkeit  beeinträchtigen  und  die  allzu 
enge  Gemeinschaft  theilweise  zu  einer  Last  machen  soll. 

Unter  den  heutigen  Gesellschaftsverhältnissen  uud  überhaupt 
unter  jeglichem  ünterdrückungsrecht  ist  die  freie,  rein  sittliche  Ehe 
schon  der  Versorgungsrücksichten  wegen  eine  Unmöglichkeit.  Die 
Frauen  selbst  haben  ein  grosses  Interesse,  sich  unter  diesem  System 
sogar  gegen  allzu  leichte  Scheidungsmöglichkeiten  zu  erklären ;  denn 
unter  der  Herrschaft  der  Ausbeutung  würden  sie  es  grade  sein,  die 
so  zu  sagen  einem  Verbrauch  durch  die  Männer  anheimfallen  müssten. 
Nachdem  ihre  Reize  verblüht  oder  gar  ihre  Kräfte  in  der  Familien- 
sorge vemutzt  wären,  liefen  sie  Gefahr,  den  Abschied  zu  erhalten. 
Das  Einzige,  was  unter  den  rückständigen  Culturverhältnissen  der 
Gegenwart  geschehen  kann ,  ist  eine  Wegräumung  der  letzten  Reste 
der  sogenannten  Geschlechtsvormundschaft,  indem  die  Frau  juristisch 
vollkommen  handlungsfähig  gemacht  und  von  der  Nöthigung  befreit 
wird,  in  ihren  Rechtshandlungen  die  Beistimmung  und  den  soge- 
nannten Beistand  des  Mannes  für  sich  zu  haben.  Uebrigens  hängt 
die  Möglichkeit  der  bessern  und  dem  Sittenideal  entsprechenden  Ehe 
von  der  politisch  socialitären  Umschaffung  der  Gesammtzustände  ab. 
Es  würden  sich  die  verkehrtesten  und  widersprechendsten  Vorstel- 
lungen ergeben,  wenn  Jemand  die  Thorheit  beginge,  die  Züge  des 
von  mir  entworfenen  Bildes  in  unsere  heutige  Wirklichkeit  über- 
tragen und  mit  derselben  vereinbaren  zu  wollen. 

Die  Stellung  der  Frauen  ist  nicht  blos  bezüglich  der  Ehe  son- 
dern auch  im  Hinblick  auf  alle  politischen  und  gesellschaftlichen 
Functionen  ein  Merkzeichen  der  Cultur  oder  üncultur.  Diejenigen 
Gemeinwesen  werden  die  freiesten  und  edelsten  sein,  in  denen  auch 
die  Unabhängigkeit  und  Gleichberechtigung  des  Weibes  in  .allen  Be- 
ziehungen einst  zur  Verwirklichung  gelangt  sein  wird.  Auf  dem 
Wege  zu  diesem  Ziele  liegt  der  gewöhnliche  materielle  Socialismus, 
der  sich  jedoch  vor  der  naheliegenden  Rückständigkeit  zu  hüten  hat, 
in  blossen  Vorstellungen  über  Schutz  und  iudirecte  Versorgung  der 
Frauen  im  Rahmen  der  Zwangsfamilie  hängen  zu  bleiben.  Sonstige 
gesellschaftliche  und  politische  Erweiterungen  der  Frauenrechte  inner- 
halb der  Formen  des  Gewaltstaats,  etwa  durch  Ertheilung  des  Wahl- 
rechts und  durch  Eröffnung  von  mancherlei  theils  gewerblichen  theils 
öffentlichen  Functionen  oder  von  Aemtem  mit  gemischtem  Charakter, 
— .  derartige  Freiheitsst^iigerungen  innerhalb  der  allgemeinen  und 
principiellen  Unfreiheit  haben  einigen  Reiz  und  vielleicht  auch  einigen 


—     297     - 

Vortheil,  indem  sie  die  Unvereinbarkeiten  und  den  Widerstreit  in 
den  Zuständen  häufen  und  so  dazu  beitragen,  die  alte  Unterdrückungs- 
und Gewaltverfassung  immer  mehr  aus  dem  Gleichgewicht  zu  bringen. 
Die  Natur  konnte  mit  der  grossem  Belastung  des  Weibes  durch 
Schwangerschaft  und  Muttersorgen  nicht  unmittelbar  die  gleiche 
Energie  der  in  andern  Richtungen  erforderlichen  Kräfte  zur  Ver- 
fügung stellen,  und  so  musste  es  der  längsten  geschichtlichen  Ent- 
wicklung und  den  höchsten  Culturzuständen  einer  veredelten  Zukunft 
vorbehalten  bleiben,  das  Weib  auch  nach  der  allgemein  mensch- 
lichen Seite  und  in  der  Theilnahme  an  den  geistig  schöpferischen 
sowie  den  höhern  gesellschafthchen  Functionen  zu  vollenden.  Nur 
die  Umschaffung  der  jetzt  noch  vom  Gewaltstaat  umklammerten 
Elemente  zum  Gemeinwesen  der  frei  organisirten  Gesellschaft  wird 
auch  dem  Weibe  die  Stätte  eines  allseitig  vollkommneren  Daseins 
bereiten. 


Z-^reites   Oapitel- 
Geschichtsauffassung  und  CiviKsation. 

Zutreffende  Gedanken  über  das  Ganze  der  bisherigen  Geschichte 
haben  wesentlich  eine  Zukunftsbedeutung.  Es  ist  der  Trrthum  einer 
falschen  und  zwecklosen  Gelehrsamkeit,  die  Wiederholungen  gemeiner 
Thatsachen  zum  Hauptgegenstand  zu  machen  und  in  dem  Wissen 
von  der  Vergangenheit  nur  eine  hergebrachte  Notizenloinde  ohne 
wahrhaften  Reiz  und  ohne  echtes  Interesse  zu  pflegen.  Andererseits 
ist  aber  auch  die  Geschichte  nicht  dazu  da,  zum  Spielwerk  für  leicht- 
fertige Schablonensucht  und  philosophastrisch  eitle  Constructionen- 
phantastik  zu  werden  oder  gar  den  Auslassungen  gemeiner  Vorsehungs- 
macherei  anheimzufallen.  Letzteres  ist  ihr  von  den  religiösen  und 
theologischen  Velleitäten  her  in  einem  ekelerregenden  Grade  wider- 
fahren, und  Ersteres  hat  sich  in  den  meist  traurigen,  stets  aber 
dürftigen  Versuchen  zur  sogenannten  Philosophie  der  Geschichte  nur 
zu  ungestört  bekundet.  Die  Missachtung  der  Philosophie  der  Ge- 
schichte ist  daher  gerecht,  und  unter  dieser  Rubrik  selbst  ist  im 
19.  Jahrhundert  nichts  Erträgliches  zu  Tage  gefördert  worden.  Die 
besten,   wenn  auch  noch  sehr  unzulänglichen  Schematisirungen  sind 


—    298    — 

von  August  Comte  im  Anschluss  an  Saint  Simon,  aber  nicht  etwa 
unter  dem  mit  Recht  verdächtig  gewordenen  Titel  einer  Philosophie 
der  Geschichte,  geliefert  worden.  Buckles  einzig  dastehendes  Werk 
einer  Einleitung  in  die  Geschichte  der  neuem  Civilisation  ist  zugleich 
eine  Detailforschung  des  Fachhistorikers  und  Gelehrten  im  edelsten 
Sinne  des  Worts.  Ihr  allgemeiner  Gedankengehalt  bewegt  sich  in 
der  Mitte  zwischen  der  näherliegenden,  fast  unmittelbar  an  die  be- 
sondem  Thatsachen  angelehnten  Reflexion  und  einer  durchgreifenden, 
von  einer  logisch  gearteten  Weltauffassung  getragenen  Ideenconse- 
quenz.  Auf  diese  Weise  hat  es  die  Klippe  der  gemeinen,  nach 
einem  strengeren  Maasse  unzurechnungsfähigen  Philosophie  der  Ge- 
schichte vermieden  und  sich  überhaupt  Verdienste  erworben,  wie  kein 
anderes  historisches  Buch  unserer  Zeit.  Aber  weder  Comte  noch 
Buckle  haben  auf  ihren  verschiedenen  Wegen  die  höchste  Aufgabe 
einer  rationellen  Geschichtsauffassung  in  Angriff  genommen.  Der 
letztere  ist  den  Thorheiten  der  gewöhnlichen  Geschichtsphilosophie 
nur  dadurch  völlig  entgangen,  dass  er  sich  beschränkte;  und  der 
erstere  hat  die  verhältnissmässig  rationelle  und  zutreffende  Haltung 
seiner  Conceptionen  nur  da  gewahrt,  wo  er  die  nachweisbaren  Ge- 
staltungsgründe seiner  drei  Einsichts-  und  Verfassungszustände  inner- 
lich und  äusserlich  nachwies,  sich  aber  derselben  nicht  als  einer 
Schablone  bediente.  Uebrigens  ist  August  Comte  bekanntlich  von 
Ausweichungen  in  das  Gebiet  voreiliger  Geschichtsconstruction  nichts 
weniger  als  frei  geblieben.  Hiezu  kommt  noch,  dass  jene  beiden 
grössten  Vertreter  der  Sache  die  entschieden  socialitäre  Auffassung 
nicht  erreichten,  deren  gegenwärtig  eine  tiefer  eindringende  Ge- 
schichtstheorie nicht  entbehren  kann.  • 

Die  Geschichte  ist  eine  Fortsetzung  der  blossen  Naturarbeit. 
Das  Menschenschicksal  wird  in  ihr  mannichfaltig  ausgeprägt,  und 
der  Gestaltungstrieb  des  Lebens  ergeht  sich  je  nach  den  Racen-  und 
Stammesvoraussetzungen  sowie  nach  Maassgabe  der  umgebenden 
Naturverhältnisse  und  der  Verschiedenheit  menschlicher  Charaktere 
in  den  buntesten  Gebilden.  Inmitten  dieser  Vielgestaltigkeit,  die  dem 
Variationsbedürfniss  der  Empfindungs-  und  Bewusstseinszwecke  dient, 
waltet  aber  auch  das  allgemeine  Gesetz  mit  seinen  universellen  For- 
men. Das  Grundgerüst  der  menschlichen  Verhältnisse  wird  überall 
in  wesentlich  gleicher  Art  aufgeschlagen,  und  der  Lebenslauf  der 
Menschheit  zeigt  in  allen  seinen  Phasen  und  Wendungen  einen  ein- 
heitlichen Typus.   Wo  das  Hervortreiben  von  Lebensformen  nur  den 


—    299     — 

alten  Kreislauf  wiederholt,  ist  wohl  ein  gleichsam  rhythmisches 
Wechselspiel  in  der  Zeit,  aber  keine  eigentliche  und  fortschreitende 
Geschichte  vorhanden.  Das  Interesse  und  der  Reiz  liegen  nicht  blos 
in  der  Neuheit  des  individuellen,  durch  die  Generationsfolge  immer 
frisch  erweckten  Lebens,  sondern  in  den  Unterschieden  und  Wand- 
lungen, die  sich  für  die  Lebensformen  eröffnen.  Diejenige  schöpfe- 
rische Thätigkeit,  durch  welche  nicht  blos  die  alten  Verhältnisse 
wieder  hervorgebracht,  sondern  neue  Elemente  und  Bildungen  in  den 
bisherigen  Zusammenhang  eingeführt  werden,  ist  allein  im  Stande, 
dem  Dasein  stets  frischen  Reiz  zu  verleihen  und  die  Kräfte  zur  be- 
wussten,  geschichtsgestalteuden  Arbeit  zu  erregen.  Wie  überall,  so 
bringt  auch  hier  das  Erzeugen  und  Schaffen  die  am  höchsten  ge- 
steigerten Lebensgefiihle  mit  sich,  so  dass,  wenn  der  Zweck  der  Ge- 
schichte das  Leben  ist,  das  Wesen  der  Geschichte  nur  in  der  Her- 
vorbringung von  Unterschieden  und  Veränderungen  liegen  kann,  in 
denen  sich  das  strebende  Wesen,  sei  es  nun  der  Mensch  oder  das 
geistig  begabte  Erzeugniss  eines  andern  Weltkorpers,  durch  immer 
neue  Erprobungen  und  Bereicherungen  seiner  Natur  befriedigt. 

2.  Auch  die  Natur  ist  kein  blosses  Wiederholungssystem,  son- 
dern eine  Abfolge  von  weitertragenden  Scliritten,  die  zu  neuen  Ge- 
bilden fähren.  Durchmisst  man  den  weiten  Abstand,  der  die  elemen- 
taren und  unorganischen  Beharrlichkeiten  von  den  regungsvolleren 
Gestaltungen  trennt,  so  steigert  sich  die  Wandlungs-  und  Entwick- 
lungsfähigkeit von  Stufe  zu  Stufe.  Die  Zeiträume,  in  denen  eine 
schöpferische  Veränderung  sichtbar  ist,  werden  immer  kleiner,  und 
sind  wir  bei-  dem  Menschen  selbst  angelangt,  so  ist  es  in  ihm  die 
geistige  Gestaltungsfähigkeit,  in  welcher  die  Fortschritte  und  neuen 
Wendungen  in  Vergleichung  mit  den  sonstigen  Veränderungen  seiner 
Natur  am  schnellsten  vollzogen  werden.  In  dieser  geistigen  Regsam- 
keit hat  daher  auch  die  Geschichte  ihre  Wurzeln,  und  man  wird  so 
gut  wie  nichts  von  dem  bisherigen  und  ferner  absehbaren  Verlauf 
der  menschlichen  Angelegenheiten  verstehen,  wenn  man  nicht  von 
der  Wahrheit  geleitet  ist,  dass  der  Erwerb  und  die  Bethätigung  von 
Einsicht  und  Geschicklichkeit  das  Entscheidende  ist.  Die  Aufklärung 
des  Menschen  über  die  Natur  und  über  sich  selbst  bestimmt  mit 
der  zugehörigen  Entwicklung  der  technischen  Kräfte  die  verschie- 
denen Grade  des  Culturfortschritts.  Die  Macht  über  die  Naturkräfte 
ist  zum  grössten  Theil  nur  eine  Folge  der  geistigen  Errungenschaften, 
und  die  politische  Auseinandersetzung  des  Menschen  mit  dem  Men- 


—     300    — 

sehen  kann  in  allen  ihren  Formationen  auch  nur  das  Ergebniss  des 
grössern  oder  geringem  Mangels  an  Gerechtigkeitsverständniss  sein. 
Erst  durch  die  Entwicklung  eines  deutlicheren  Rechtsbewusstseins 
werden  die  Gebilde  aufgelöst,  die  fast  ausschliesslich  dem  wüsten 
Macht-  und  Gewaltspiel  ihr  Dasein  verdanken.  Solange  das  feinere 
Verständniss  für  das  veredelte  natürliche  Recht  noch  durchschnittlich 
fehlte,  wurden  auch  die  Verletzungen  nicht  mit  derjenigen  moralischen 
Pein  empfunden,  die  uns  der  bewusste  Contrast  unseres  gesteigerten 
Gefühls  und  schärferen  Urtheils  mit  den  rohen  Verworfenheiten  heu- 
tiger Rechts-  oder  vielmehr  Unrechtsbrutalität  auferlegt.  Durch- 
schnittlich hat  sich  die  Menschheit  in  der  Hervorbringung  ihrer 
politischen  Lebensformen  mit  ihrem  Innern,  d.  h.  mit  ihren  jeweiligen 
Gedanken  und  Bestrebungen  wenigstens  theilweise  ins  Gleichgewicht 
setzen  müssen.  Wäre  der  Geist  der  Einzelnen  und  namentlich  der 
Sinn  für  Gereciitigkeit  weniger  verworren  und  weniger  stumpf  ge- 
wesen, so  hätten  die  Einrichtungen  den  subjectiven  Beschaffenheiten 
nicht  entsprechen  und  nicht  lange  standhaltet  können.  Es  liegt  in 
dieser  für  die  Gesammtmasse  der  Menschen  gültigen  Uebereinstim- 
mung  von  innerer  Beschaffenheit  und  äusserlichem,  mehr  oder  minder 
gemässigtem  Sklaventhum  sogar  ein  gewisser  Trost  und  eine  Art  von 
Versöhnung  mit  den  für  die  edlere  Betrachtung  unbedingt  miss- 
liebigen  Thatsachen.  Nur  der  höher  entwickelte  Mensch  empfindet 
die  Kluft  zwischen  dem  gesteigerten  Bedürfaiss  und  der  jeweiligen 
durchschnittlichen  Beschaffenheit  der  Zustände.  Dies  gilt  vom  Indi- 
viduum wie  von  den  Völkern  und  ganzen  Culturgruppen  und  wird 
sich  schliesslich  an  der  ganzen  Menschheit  bewähren.  Das  äussere 
Leiden  für  die  im  Bewusstsein  Höherstehenden,  mögen  es  nun  ver- 
einzelte hochstrebende  und  geistig  überlegene  Naturen  oder  ganze 
Gruppen  und  gesellschaftliche  Classen  sein,  wird  einigermaassen  durch 
den  Vorzug  der  bessern  Innerlichkeit  und  durch  die  Aussicht  auf 
das  Vollkommnere  aufgewogen.  Wie  die  schlimmste  Seite  der  Pein 
eine  ideelle  ist,  so  findet  sich  auch  ihre  lindernde  Ausgleichung,  ja 
oft  genug  mehr  als  eine  blosse  Entschädigung  in  der  ideellen  Theil- 
nahme  an  dem  Leben  späterer  Generationen.  Der  Zusammenhang 
mit  einer  besseren  Welt  hat  im  Gedanken  und  Gefühl,  welche  hier 
allein  in  Frage  sind,  einen  ähnlichen  Wirklichkeitscharakter,  wie 
wenn  es  sich  um  jede  beliebige  naheliegende,  die  unmittelbaren 
Nachkommen  oder  das  Schicksal  der  eignen  Angelegenheiten  nach 
dem  Tode  betreffende  Voraussicht  handelte.   Der  Mensch  lebt  wesent- 


—     301     — 

lieh  in  Ideen,  und  wenn  eine  Erweiterung  derselben  ihm  nach  der 
einen  Seite  die  Beschränkung  fühlbarer  macht,  so  eröffnet  sie  ihm 
nach  der  andern  Seite  ein  neues  Reich  volleren  Lebens.  Die  geistige 
IVIachtsteigerung,  die  sich  mit  der  Aufklärung  jeder  Art,  also  mit 
jeghcher  Veredlung  des  Wissens  und  Wollens  verbindet,  schliesst 
das  Gefühl  der  überlegenen  Genugthuung  auch  dann  ein,  wenn  die 
Verhältnisse  des  Augenblicks  oder  einer  verfallenden  Epoche  nur  die 
Unterdrückung  und  den  zunächst  ungleichen  Kampf  eintragen. 
Hierauf  beruht  die  einzig  möghche  Versöhnung  mit  dem  missliebigen 
Theil  der  geschichtlichen  Nothwendigkeiten.  Der  Hinblick  auf  die 
innere  Rache,  welche  die  bewusste  Niedertracht  der  Einzelnen  und 
der  Zustände  als  ihr  Schicksal  bis  zur  vollen  Reife  austragen  muss, 
ergiebt  die  Versöhnung  mit  denjenigen  Thatsachen,  die  nicht  aus- 
schhesshch  in  der  durchschnittlichen  Stumpfheit  und  ünzulängUchkeit 
ihren  Grund  haben. 

3.  Der  Satz,  dass  die  geistige  Erhebung  es  ist,  wodurch  die 
fortschreitende  Geschichte  gemacht  wird,  und  dass  die  unwillkür- 
lichen Veränderungen  sowie  die  technischen  Kräfte  nur  mitwirkende 
Factoren  oder  von  dem  geistigen  Anstoss  herstammende  Mittel 
zweiter  Ordnung'  sind,  liefert  uns  sofort  einen  Aufschluss  über  eine 
Gesammteintheilung  der  Geschichte.  Der  bisherige  Geschichtsverlauf 
bildet  eine  erste  Aera,  gegen  deren  uns  noch  nicht  im  Einzelnen 
bekanntes  Ende  die  grosse  Französische  Revolution  als  prophetische 
Einleitung  eines  später  umzuschaffenden  Daseins  und  als  Ankündigung 
einer  Abrechnung  mit  der  alten  Ueberlieferung  ihre  praktisch  und 
theoretisch  durchschlagenden  Lehren  ertheilt.  Das  neunzehnte  Jahr- 
hundert bleibt  noch  wesentlich  reactionär,  ja  es  ist  es  in  geistiger 
Beziehung  noch  mehr  als  das  achtzehnte;  aber  es  trägt  trotz  aller 
Rückwirkungen  gegen  die  Aufraffung  von  1793  dennoch  in  seinem 
Schoosse  die  Keime  einer  gewaltigeren  ümschaffung,  als  sie  von  den 
Vorläufern  und  den  Heroen  der  Französischen  Revolution  erdacht 
wurde.  Der  communitäre  Socialismus  ist  im  letzten  Viertel  dieses 
Jahrhunderts  das  weltgeschichtliche  Programm.  Die  Abschaffung 
des  Cultus  und  der  politischen  Vormundschaft  sind  zugehörige  und 
gleich  wesentliche  Punkte  des  neuen  Planes,  und  die  geistige,  poli- 
tische und  wirthschaftliche  Emancipation  bezeichnet  die  neue  Epoche 
des  Menschenschicksals»  Der  Gewalt-  und  Unterdrückungsstaat  ist 
als  mit  dem  edleren  Menschenthum  unverträglich  erkannt,  und  die 
neue  Wendung  besteht  eben  darin,    dass  sich  an   seiner  Stelle  die 


—     302     — 

freie  Gesellschaft  einfuhrt.  Die  wenigen  Jahrtausende,  iiir  welche 
eine  historische  Rückerinnerung  durch  ursprüngliche  Aufzeichnungen 
vermittelt  wird,  haben  mit  ihrer  bisherigen  Menschheitsverfassung 
nicht  viel  zu  bedeuten,  wenn  man  an  die  Reihe  der  kommenden 
Jahrtausende  denkt  und  die  unumgänglichen  Fortschrittsnothwendig- 
keiten  erwägt,  die  sich  jetzt  schon  absehen  lassen.  Wir  haben  ein 
Recht,  uns  und  die  nächsten  Generationen  als  die  Träger  der  ent- 
scheidenden Weudungskräfte  zu  denken,  und  so  befänden  wir  uns 
denn  auf  der  Grenzscheide  zwischen  zwei  völlig  von  einander  ab- 
weichenden Theilen  des  Menschen  Schicksals.  Die  Eintheilungen, 
welche  die  Historiker  für  die  bisherige  Vergangenheit  belieben, 
sinken  zu  Abgrenzungen  zweiter  Ordnung  herab;  denn  eine  gleich 
wurzelhafte  UmschafPung,  wie  diejenige,  durch  welche  die  neue 
Weltära  eingeführt  werden  wird,  ist  in  der  bisherigen  Geschichte 
nicht  einmal  annähernd  vorgekommen.  Der  Uebergang  von  der 
reinen  Sklaverei  zur  Lohnarbeit  ist  eine  Kleinigkeit  in  Vergleichung 
mit  der  Abschaffung  des  Ablohnungssystems  selbst  und  der  damit 
verbundenen  Ausmerzung  des  UnWdrückungseigenthums.  In  geistiger 
Beziehung  hat  aber  der  Schluss  der  Aera  der  Religionen  doch  etwas 
mehr  zu  bedeuten,  als  die  bisherigen  Wandlungen  und  Kämpfe 
innerhalb  der  religiösen  Organisationen.  Auch  die  Yerfassungs unter- 
schiede innerhalb  der  einen,  bisher  allein  verwirklicht  gewesenen, 
nach  irgend  einer  Seite  stets  unterdrückerischen  Grundgestalt  des 
Gewaltstaats  verschwinden  fast  zu  einem  Nichts,  wenn  man  ihnen 
gegenüber  das  Zukunftsbild  des  Gerechtigkeitsstaats  d.  h.  die  Er- 
setzung der  angemaassten  Herrschaft  durch  die  auf  freier  Wahl  be- 
ruhende Leitung  ins  Auge  fasst.  Das  Menschengeschlecht  ist  als 
Ganzes  noch  sehr  jung,  und  wenn  einst  die  wissenschaftliche  Rück- 
erinnerung mit  zehntausenden  statt  mit  tausenden  von  Jahren  zu 
rechnen  hat,  wird  die  geistig  unreife  Kindheit  unserer  Institutionen 
eine  selbstverständliche  Voraussetzung  über  unsere  alsdann  als  Ur- 
alterthum  gewürdigte  Zeit  unbestrittene  Geltung  haben. 

Für  uns,  die  wir  mitten  in  den  Wandlungen  stehen,  erklärt 
sich  eine  sonst  befremdliche  Thatsache  aus  unserm  Grundgedanken 
der  geschichtlichen  Haupteintheilung  ganz  leicht.  Die  neuem  Jahr- 
hunderte arbeiten  an  der  Wegräumung  der  mittelalterlichen  üeber- 
lieferungen,  und  die  neuste  Zeit  fühlt  sich  in  den  Vertretern  ihrer 
besten  Elemente  als  die  Trägerin  einer  grundsätzlichen  Opposition 
gegen  die  traditionellen  Herrschaftsgebilde.   In  einem  gewissen  Sinne 


—     303     — 

ist  die  Revolution  permanent,  d.h..  die  auf  das  Edlere  gerichteten 
Triebkräfte  drücken  gleich  einer  gespannten  und  eingezwängten 
Feder  gegen  die  Wandungen  der  pressenden  Institutionen,  während 
sich  die  bisherigen  Monopolisten  der  Politik  zum  letzten  Gegendruck 
aufraffen.  Diese  Einverleibung  der  Revolution  in  den  modernen  Ge- 
waltstaat, mit  dem  sie  ein  Zwillingspaar  bildet,  ist  eine  des  weiteren 
Nachdenkens  würdige  Thatsache.  Gewaltstaat  und  Revolution  ge- 
hören zusammen;  denn  der  eine  würde  ohne  die  andere  nur  unter 
Voraussetzung  geistiger  Stumpfheit  denkbar  sein.  Die  früheren 
untergeordneten  Epochen  der  Menschengeschichte  hatten  das  poli- 
tische Bewusstsein  und  speciell  die  Gerechtigkeitsideen  noch  nicht 
hoch  genug  entwickelt,  um  jenen  Antagonismus  in  seiner  vollen 
Stärke  noth wendig  zu  machen.  Seit  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts ist  aber  die  fragliche  Kluft  vor  Aller  Augen  aufgerissen 
und  seitdem  theoretisch  und  praktisch  immer  mehr  erweitert  worden. 
Die  Triebkräfte  zur  Umschaffung,  die  sich  im  Widerstreit  mit  dem 
Gewaltstaat  befinden,  sind  integrirende  Bestand theile  der  Zustände 
geworden,  und  in  diesem  Sinne  ist,  so  befremdlich  es  zunächst  klin- 
gen mag,  die  Revolution  eine  Institution  und  so  zu  sagen  ein  un- 
beabsichtigtes Verfassungselement  des  Unterdrückungsstaats.  Die 
erstere  kann  nur  verschwinden,  wenn  der  letztere  abgethan  ist.  In 
der  freien  Gesellschaft  hat  die  Revolution  der  heutigen  Epoche  keine 
Stätte  mehr,  weil  mit  der  Ursache  auch  die  Wirkung  fortfallen 
muss.  Der  Ünterdrückungsstaat  erzeugt  auf  seinem  Boden  die  Re- 
volution als  eine  Rückwirkung,  und  anstatt  diese  Gefolgschaft  jemals 
loswerden  zu  können,  muss  er  sich  von  ihr  immer  mehr  umgeben 
finden.  Die  Unterdrückung  wird  mit  dem  helleren  Bewusstsein  für 
diejenigen,  welche  sie  ausüben,  schliesslich  ein  grösserer  Fluch,  als 
für  diejenigen,  welche  sie  erleiden. 

4.  Das  Interessanteste  in  der  abgelaufenen  Geschichte  sind  die 
politischen  Wandlungsgesetze,  welche  für  Staatenexistenz,  Gesell- 
schaftsverfassung und  Völkertod  maassgebend  wurden.  Der  Lebens- 
lauf eines  politischen  Gebildes  ist  unter  allen  Umständen  bemessen. 
Es  giebt  auch  hier  keine  Unsterblichkeit,  und  allermindestens  müssen 
Umschaffangen  eintreten,  die,  wenn  sie  im  günstigsten  Falle  auch 
die  Stoffe  conserviren,  doch  die  Formen  oder  wesentliche  Theile  der- 
selben zerstören,  um  sie  durch  neue  Gruppirungen  und  Organisa- 
tionen zu  ersetzen.  Was  wir  eben  Stoffe  nannten,  sind  die  von  der 
Natur  und   Cultur  geformten  individuellen  Menschenexistenzen   mit 


—     304     — 

ihren  Raceu-  und  Sfcammeseigenthümlichkeiten.  Auch  sie  werden 
von  den  allgemeinen  Mächten  der  Vergänglichkeit  und  Umbildung 
nicht  unerheblich  ergriffen;  aber  die  gewöhnlichen  Fälle  von  Staaten- 
untergang berühren  diese  tieferen  Grundlagen  und  diese  Träger- 
schaffcen  der  individuellen  Existenz  nicht  so  häufig  und  nicht  so  eng, 
als  man  gewöhnlich  voraussetzt.  Allerdings  sind  Völkertypen  und 
Sprachen  ausgestorben;  aber  zu  diesem  Verschwinden  hat  es  mehr 
bedurft,  als  des  blossen  Staatentodes.  Auch  die  Völkermischungen 
würden  hiezu  allein  noch  nicht  ausgereicht  haben,  wenn  nicht  das 
innere  natürliche  Gesetz  auch  diese  tieferen  Wurzeln  des  Daseins 
beträfe  und,  auch  abgesehen  von  den  politischen  und  gesellschaft- 
lichen Schicksalen,  jede  Ausprägungsform  des  Daseins  zum  Ziele 
fährte  und  alsdann  nöthigte,  andern  Gebilden  Platz  zu  machen.  Die 
Hindenmg  der  schwächeren  Theile  an  der  Fortpflanzung  und  die 
hiedurch  beherrschten  Blutmischungen  haben  bei  der  Völkermengung 
zu  ungleichem  Recht  allerdings  eine  sehr  grosse  Einwirkung  üben 
müssen.  Indessen  hüte  man  sich,  ohne  Weiteres  anzunehmen,  dass 
die  Macht  der  erobernden  Elemente  soweit  gereicht  habe,  auch  die 
physiologischen  Nothwendigkeiten  ausschliesslich  zu  ihren  Gunsten 
auszubeuten.  Viele  Bestandtheile  und  Eigenthümlichkeiten  sind  für 
eine  Zeit  lang  niedergedrückt  und  in  der  breiten  einflusslosen  Masse 
gleichsam  verborgen  geblieben.  Sie  sind  von  der  Bühne  verdrängt, 
aber  darum  nicht  aus  dem  Dasein  verschwunden.  Sie  vegetireu  still 
in  dem  breiten  Unterbau  der  oben  herrschenden  Gesellschaften  und 
Staaten  und  müssen  sich  wieder  in  vollerer  Lebensregung  bethätigen, 
sobald  die  an  der  Oberfläche  spielenden  Gewalten  ihr  verhältniss- 
mässig  kurzlebiges  Schicksal  erfüllt  haben. 

Wenn  das  Vernichten  zum  Schaffen  und  .geradezu  der  Tod  zum 
Wesen  des  Lebens  gehört,  wie  dies  in  der  That  der  Fall  ist,  so 
darf  man  freilich  niemals  auf  absolut  feste  Gebilde  rechnen,  ja  sie 
nicht  einmal  wünschen.  Auch  die  Gestalten  innerhalb  der  freien 
Gesellschaft  der  Zukunft  werden  und  sollen  dem  Wechselspiel  nicht 
entgehen,  in  welchem  der  Keiz  des  Lebens  liegt.  Ja  sogar  die  heut 
erdachte  freie  Gesellschaft  selbst  ist  zwar  für  uns  die  letzte  abseh- 
bare Form,  deren  Einzelheiten  wir  mit  dem  Gedanken  einigermaassen 
zu  bestinmien  vermögen;  aber  sie  ist  nicht  das  letzte  Maass  aller 
Möglichkeiten  (ies  Gemeinlebens,  imd  es  ist  au  sich  selbst  nicht  un- 
denkbar, dass  einst  die  moralisch  vervollkommnete  Individualität 
auch    ohne    besondere    schützende   Vergesellschaftung   existiren  und 


—     305     — 

sich  auf  diejenigen  rein  positiven  Vorkehrungen  beschränken  könnte, 
durch  welche  das  planmässige  Zusammenwirken  productiver  Art  unter 
allen  Umständen  aus  rein  technischen  Gründen  vermittelt  werden 
muss.  Wir  sind  also  weit  davon  entfernt,  in  der  umgeschaffenen 
Zukunft  die  neuen  Gebilde  für  unsterblic'h  zu  erklären.  Allerdings 
sind  auch  schon  in  der  bisherigen  Geschichte  die  entlegensten  All- 
gemeinheiten des  Daseins,  wie  sie  von  der  Menschennatur  überhaupt 
mit  sich  gebracht  wurden,  dauernd  gewesen.  Stets  hat  es  irgend 
welche,  wenn  auch  unterdrückerische  Formen  der  politischen  und 
wirthschafthchen  Kraftvereinigung  und  ebenso  irgend  welche.,  an 
Recht  und  .Unrecht  theilhabende  Regelungen  des  Geschlechterverkehrs 
gegeben.  Jedoch  ist  diese  Art  von  Dauerbarkeit  eines  ganz  all- 
gemeinen, inhaltarmen  und  die  volleren  Lebensgebilde  noch  gar  nicht 
berührenden  Schematismus  kein  stichhaltiger  Einwand  gegen  die 
universelle  Sterblichkeit  der  bestimmteren  und  lebensreicheren  Hervor- 
bringuugen.  Auch  in  der  Natur  hegt  allen  Organisationen  von  der 
niedrigsten  bis  zur  höchsten  ein  einfacher  Typus  zu  Grunde,  der  in 
allen  Combinationen  und  Wandlungen  beibehalten  wh'd;  aber  so 
wichtig  dieser  Typus  auch  für  die  Logik  der  Dinge  ist,  so  hat  man 
an  ihm  doch  nicht  das  gesteigerte  und  manuichfaltig  erfüllte  Leben, 
da  er  ja  schon  in  der  untergeordnetsten  Regung  der  unvollkom- 
mensten Pflanze  in  seinem  allgemeinen  Wesen  voll  und  ganz  anzu- 
treffen ist.  Das  Gesetz  der  Zusammengehörigkeit  von  Leben  und  Tod 
oder  überhaupt  von  Schöpfung  und  Vernichtung  reicht  soweit,  als 
die  Regungen  des  Lebens  und  Schaffens  selbst.  Es  waltet  ausnahmslos 
und  gestattet  dennoch  einerseits  eine  relative  Beständigkeit  und  an- 
dererseits eine  Erhaltung  der  einmal  gewonnenen  Fortschritte  in  der 
Ausprägung  der  zusammengesetzteren  und  mithin  reicheren  Lebens- 
gestalten. Hierin  liegt  kein  Widerspruch ;  denn  die  Erhaltung 
bewerkstelhgt  sich  eben  selbst  nach  dem  Schema  des  Wechselspiels 
individuellen  Lebens  und  Sterbens.  Die  Fortpflanzungen  und  Ueber- 
tragungen  setzen  bei  ihren  Compositionen  umbildende  und  verschieden 
mischende  Kräfte  ins  Spiel,  so  dass  die  Arbeit  der  Reproduction  auch 
zugleich  die  Production  und  mit  dieser  die  Ausmerzung  des  Unbrauch- 
baren einschliesst. 

5.  Gilt  nun  die  eben  gekennzeichnete  Nothwendigkeit  für  das 
universelle  Menschheitsschicksal,  so  giebt  es  für  die  von  uns  ange- 
nommene erste  Aera  der  Menschen  geschichte,  also  für  die  ganze  bis- 
herige Vergangenheit  und  einen  Theil  der  Zukunft,  noch  ein  bestimm- 

Dühring,  Cursus  der  Philosophie.  20 


—     306     — 

teres  Gesetz,  welches  über  die  Staaten  nicht  blos  den  Tod,  sondern 
sogar  den  gewaltsamen  Tod  als  eine  innere  IS^othwendigkeit  verhängt 
und  sich  bis  jetzt  auch  stets  sichtbar  genug  zur  Ausführung  gebracht 
hat.  Man  hat  sich  seit  den  Zeiten  des  Griechischen  Alterthums 
bemüht,  eine  Art  Entwicklungs-  oder  Kreislaufegesetz  aufzustellen, 
nach  welchem  die  Regierungsformen  der  Staaten  auf-  und  auseinander 
folgen  und  abspielen,  bis  innere  Verwesung  oder  äussere  Gewalt  mit 
den  Abgelebtheiten  ein  vollständiges  Ende  machen.  In  der  neuem  Zeit 
hat  Macchiavelli  der  Idee  eines  sich  in  solchem  Kreislauf  erschöpfenden 
Lebens  mit  besondemi  Nachdruck  gehuldigt.  Was  mau  aber  davon 
in  der  That  durch  die  bisherige  Erfahrung  sicher  feststellen  und 
zugleich  auch  innerlich  als  Nothwendigkeit  begreifen  kann,  ist  äusserst 
wenig.  Jede  Aristokratie  trägt  die  Corruption  in  sich  und  concen- 
trirt  sich  schliesslich  zur  schamlosesten  Oligarchie,  deren  nackte 
Ausbeuterei  wiederum  einer  noch  stärkeren  ausbeutenden  Kraft, 
nämlich  einem  die  Gewaltthätigkeit  centralisirenden  und  mit  der 
Volksmasse  coquettirenden  Despoten  anheimfällt.  Mit  dieser  letzten 
Cäsaristischen  Centralisation  erfüllt  sich  das  Schicksal  der  Reiche  in 
der  allgemeinen  Verwesung  der  vorher  herrschenden  Elemente  und 
Classen.  Sollen  neue  frische  Gebilde  emporwachsen,  so  müssen  sie 
aus  dem  Untergrund  ihre  Nahrung  ziehen;  aber  die  Geschichte  hat 
bis  jetzt  von  einem  Vorgang  dieser  Art  kein  einziges  grosses  Bei- 
spiel aufzuweisen.  Griechenland  ist  Alexandristisch  und  das  gewaltige 
Römerreich  Cäsaristisch  zu  Grunde  gegangen.  Aus  der  Geschichte 
selbst  können  wir  mithin  für  unsere  Vorstellung,  dass  die  heutigen 
Centralisationen  die  moderne  Menschheit  nicht  zum  politischen 
Leichnam  machen  werden,  wenigstens  unmittelbar  nichts  Tröstliches 
entnehmen.  Hier  ist  die  Grenze,  bei  .welcher  die  Geschichte  mit 
ihren  thatsächlichen  Lehren  unzulänglich  wird  und  jenes  Vorurtheil 
aller  Arten  von  Historismus  zusanmienfällt,  als  wenn  sich  für  Gegen- 
wart und  Zukunft  aus  der  Geschichte  Alles  entscheiden  lassen  müsste. 

Man  versteht  sehr  wenig  von  dem  Wesen  der  Geschichte,  solange 
man  noch  glaubt,  in  der  Gruppe  von  Erfalirungen,  die  sie  uns  vor 
Augen  legt,  unmittelbar  die  Hauptsache  zu  besitzen.  •  Eine  echte 
Geschichtswissenschaft,  wie  sie  zum  Theil  auch  schon  Buckle  an  die 
Stelle  der  blossen  Geschichtskunde  und  der  unverdauten  Geschichts- 
gelehrsamkeit zu  setzen  unternahm,  richtet  sich  auf  die*  Bestandtheile 
und  Kräfte  selbst,  aus  denen  die  besondern  Thatsachen  entspringen. 
Sie  macht  daher  auch  fähig,  durch  Combination  und  Schlüsse  über 


—    307    —  l 

die  schon  zu  Thatsacljen  gewordenen  Gestaltungen  hinauszugreifen 
und  neue  Gebilde  im  Gange  der  Dinge  vorauszusehen.  Die  gedanken- 
arme, an  der  unzergliederten  Erfahrung  haftende  Beschränktheit  des 
gewöhnlichen  Historismus  begreift  die  Nothwendigkeit  der  feineren 
Operationen  nicht.  Sie  glaubt  mit  ihrer  unmittelbaren  Wahrnehmung 
der  oberflächlichen  Physionomie  auszukommen  und  tritt  sogar  jeder 
freier  beweglichen  Auffassung  grundsätzlich  entgegen.  Auch  wenn 
dieser  falsche'  Historismus  nicht  im  Dienst  und  Lohn  des  Gewalt- 
staats stände,  und  wenn  auch  die  Mehrzahl  der  Historiker  wesentlich 
etwas  Anderes  wäre  als  eine  Beamtenschaft,  welche  vorzugsweise  der 
dynastischen  Historiographie  und  der  Verherrlichung  der  Regierungen 
ergeben  sein  soll  und  ist,  —  wenn  also  auch  nicht  schon  die  Stel- 
lung auf  die  träge  Oberflächlichkeit  und  Einseitigkeit  der  Auffassung 
hinwiese,  so  würde  dennoch  der  rein  wissenschaftliche  Mangel  einer 
rationellen  bis  zu  den  Elementarkräften  vordringenden  Geschichts- 
zergliederung mit  jeder  ernstlichen  Beschaffung  maassgebender  Lehren 
unverlräglich  sein.  Wer  aus  der  Geschichte  mehr  Wahrheit  ziehen 
will,  als  in  den  nackten  Thatsachen  und  unmittelbaren  Vergleichungs- 
föllen  enthalten  sein  kann,  muss  mit  den  Factoren  der  geschicht- 
lichen Composition  selbst  rechnen  lernen.  Wie  arm  würde  unser 
Wissen  von  der  Natur  sein,  wenn  man  sich  mit  den  unmittelbaren 
Erfahrungsthatsachen  und  einem  äusserlich  beobachteten  Schema- 
tismus begnügt  hätte !  Der  Geschichte  widerfährt  noch  immer  diese 
traurige  Beschränkung,  und  das  Wenige,  was  freiere  und  überlegene 
Geister  in  diesem  Fach  an  zerlegender  Untersuchung  annäherungs- 
weise geleistet  haben,  pflegt  immer  wieder  in  dem  sich  breit  machen- 
den Geschichtströdel  des  gemeinen  Schlages  den  Augen  des  Publicums 
entrückt  zu  werden.  Die  wahre  Geschichtswissenschaft  muss  einiger- 
maassen  der  Mechanik  gleichen  und  auf  die  einfachen  bewegenden 
Kräfte  selbst  gerichtet  sein.  Alsdann  wird  ihr  auch  die  blosse  Thatsäch- 
lichkeit  als  solche  nur  das  Erste,  aber  nicht  das  Letzte  sein,  und  sie 
wird  über  die  Zukunft  rationell  zu  urtheilen  verstehen.  Die  geistige 
Macht,  welche  von  einer  solchen  Geschichtswissenschaft  als  das 
stärkste  Motiv  der  Gestaltungen  anerkannt  wird,  lässt  es  in  der  That 
begreifen,  wie  der  moderne  Gewaltstaat  und  namentlich  unsere  neuste, 
zugleich  einen  halben  Cäsarismus  und  eine  Caricatur  desselben  dar- 
stellende Phase  zwar  nicht  in  sich  selbst,  wohl  aber  in  den  unter- 
drückten Elementen  die  Keime  lebensfrischer  Gebilde  umschliessen 
könne.     Im  Alterthum  waren  es  ernsthafte  Republiken,  welche  der 

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Verwesung  anheimfielen;  in  der  neusten  Zeü;  sind  es  Monarchien, 
welche  sich  zersetzen  oder  sich,  wie  jenseit  des  Oceans,  in  wurm-, 
stichige  Bourgeoisrepubliken  verwandelt  haben.  Dieser  Unterschied 
ist  aber  nicht  durchgreifend  genug,  um  uns  gegen  etwas  Aehnliches 
oder  gar  noch  Schlimmeres  zu  schützen,  als  die  antike  Fäulniss  des 
Griechen-  und  Römerthums  an  universeller  Unfreiheit  und  Corrup- 
tion  mit  sich  gebracht  hatte.  Könnten  wir  nicht  auf  die  hohe  ße- 
wusstseinsentwicklung  und  auf  die  ideellen  Mächte  vertrauen  und 
von  ihnen  die  Belebung  des  trägen  Stoffs  und  die  zur  Regenera- 
tion erforderlichen  Massenbewegungen  als  einfache  Wirkungen  der 
geistigen  Naturgesetze  erwarten,  so  würden  unsere  Vorwegnahmen 
einer  edlen  Entwicklung  mindestens  für  die  stetige  und  absehbare 
Reihe  der. Ereignisse  nicht  passen.  Diese  Zukunftsbilder  würden  in 
eine  Ferne  rücken,  vor  deren  Erreichung  auf  einem  langen  Wege 
das  allseitige  Absterben  der  heutigen  Welt  dazwischenträte  und 
gleichsam  ausgeduldet  werden  müsste.  In  einer  solchen  Gestalt  aber 
brauchen  wir  uns  das  Menschheitsschicksal  glücklicherweise  nicht  zu 
denken,  wenn  auch  immerhin  die  Versuchung  dazu  oft  genug  nahe- 
gelegt werden  mag.  Mitten  in  den  Rahmen  des  Unterdrückungs- 
staats hinein  können  sich  nach  und  nach  Gebilde  einschieben,  die 
nicht  nur  ihm  selbst  verhängnissvoll  werden,  sondern  auch  positiv 
die  freie  Gesellschaft  vorbereiten.  Was  aber  die  Wegräumung  des 
historischen  Gewaltstaats  anbetrifft,  so  muss  er  unter  allen  Umstän- 
den seiner  eignen  Logik,  nämlich  derjenigen  der  Missachtung  der 
Gerechtigkeitsmotive  anheimfallen.  Diese  Logik  besteht  des  Nähereu 
darin,  dass  schliesslich  in  ihm  eben  nur  die  Gewalt,  aber  nicht  mehr 
der  Schein  des  Moralischen  gesehen  wird,  und  dass  er  demgemäss 
durch  die  Unzulänglichkeit  dieser  Gewalt  zusammenbricht,  sobald 
ihm  die  Kraftelemente,  die  er  sonst  noch  mit  ideellen  Mitteln  seiner 
eignen  einsichtserdrückenden  Art  bannen  konnte,  den  Dienst  ver- 
sagen. 

6.  Die  Möglichkeit,  dass  die  Herrschaft  von  einem  Einzigen  au 
Mehrere  oder  von  einer  geringeren  Zahl  an  eine  grössere  zurückfalle, 
ist  unserer  Anschauungsweise  gegenüber  voq  untergeordneter  Bedeu- 
tung. Uns' sind  die  historischen  Demokratien  ebenfalls  Gewaltherr- 
schaften, da  sie  stets  eine  unterdrückte  Schicht  unter  sich  hatten. 
Auch  die  Misch  Verfassungen  der  neusten  Zeit,  die  man  nach  Eng- 
lischem Muster  vorzugsweise  Constitutionen  nennt,  gelten  uns  nur 
als  Bastardformen  und  Uebergangscoufusionen.     Ihr  Werth  besteht 


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eben  in  der  Steigerung  der  Haltlosigkeit  der  von  den  alten  Haupt- 
formen her  überlieferten  Zustände.  Sie  sind  überdies  sehr  kurzlebig; 
denn  hinfällige  Compromisse  sowie  Scheineinrichtungen  und  corrup- 
tive  .Umwege  der  innern  und  äussern  Politik  sind  ihr  Wesen.  Sie 
fallen  daher  bald  ausgeprägteren  Gestalten  anheini,  die  trotz  aller 
Hohlheit  doch  den  Vorzug  haben,  durchgreifender  verfaliren  zn  können. 
Von  dieser  Art  ist  das  Zerrbild  des  Cäsarismus,  welches  die  neuste 
Franzosische  Geschichte  inaugurirt  und  auf  andere  Staaten  fortge- 
pflanzt hat.  Das  Wesen  alles  Cäsarismus  besteht  darin,  die  Form 
zu  sein,  in  welcher  alte  verdorbene  Verfassungen  vollends  unter- 
gehen, um  durch  die  nniverselle  Verfassungslosigkeit,  nämlich  dm:ch 
das  willkürliche  Walten  eines  Einzelnen  ersetzt  zu  werden.  Etwas 
Scbeinräcksicht  auf  die  materiellen  Privatinteressen  und  etwas  Gefall- 
süchtelei den  Volksmassen  gegenüber  ist  hiebei  stets  im  Spiele.  Die 
verwahrlosten  Existenzen  aus  den  höhern  Gesellschaftsschichten  bilden 
die  natürlichen  Verbündeten  aller  Arten  und  Spielarten  von  Cäsa- 
rismus. Die  vollständige  Entblössung  der  nackten  Gewalt  von  allem 
ihr  früher  vnrksam  anhaftenden  Sittlichkeitsschein  vollzieht  sich  sogar 
mit  jener  ärmlichsten  Spielart  des  Cäsarismus,  die  man  den  ministe- 
riellen Zwittercäsarismus  nennen  könnte,  weil  sie  es  noch  nicht  ein- 
mal zur  Vertauschung  der  alten  Dynastie  mit  einer  nenen,  aus  der 
Militairdictatur  hervorgegangenen  Machthaberschaft  gebracht  zu  haben 
braucht,  um  mit  den  Resten  des  guten  Glaubens  an  die  älteren  In- 
stitutionen aufzuräumen  und  die  Regierungsmittel  auf  brutale  Exe- 
cutionen  und  Willkürmaassregeln  herunterzubringen. 

Es  liegt  etwas  innerlich  Befreiendes  und  wenigstens  in  dieser 
Beziehung  Befriedigendes  darin,  dass  sich  das  Uebel  der  Cäsaristischen 
Gestaltung  der  Zustände  am  allerwenigsten  dem  Geist  in  einer  mora- 
lisch bindenden  Weise  aufzuerlegen  vermag.  'Es  ist  die  Berufung 
auf  die  militairischen  Executionsmittel,  wodurch  sich  diese  Herrschafts- 
art fast  ansschliesslich  und  ziemlich  unverhüllt  behaupten  muss. 
Hiedurch  schwindet  jede  Achtung,  die  mit  Sitte  und  Gerechtigkeit 
etwas  zu  schafiFen  hätte,  nnd  es  bleiben  nur  die  Furcht  vor  der  phy- 
sischen üebermacht  und  die  von  den  gemeinsten  Interessen  aus- 
gehende Benutzungstendenz  übrig.  Die  Unterwerfung  unter  die 
willkürliche  Gewalt  beruht  alsdann  einerseits  auf  dem  körperlichen 
Zwang,  der  als  solcter  überall  demaskirt  ist  und  nicht  mehr  unter 
irgend  einem  Heiligenschein  von  Pflicht  verschleiert  werden  kann, 
und   andererseits   auf  dem  Reiz  der  gröbsten  Ausbeutungsinteressen, 


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deren  Speculation  auf  die  Gunst  der  Willkürgewalt  gerichtet  ist.  Unter 
solchen  Umständen  ist  es  nicht  schwer,  dem  Trug  der  Sittlichkeits- 
heuchelei zu  entgehen,  und  sogar  die  noch  rückständigen  Volks- 
massen lernen  bald  die  Hohlheit  und  Unzuverlässigkeit  des  so- 
genannten Rechts  durchschauen.  Das  Vertrauen,  welches  der  alte 
Mechanismus  der  Rechtspflege  noch  immer  in  wesentlichen  Richtungen 
für  sich  hatte,  sinkt  zu  einer  Wahrscheinlichkeitsrechnung  mit  blossen 
Interessen  herab,  and  es  wird  von  vornherein  angenommen,  dass  für 
eine  auch  nur  relative  Gerechtigkeit  im  Sinne  der  ehrlichen  An- 
wendung der  Gesetze  einzig  der  geringe  Spielraum  des  politisch  oder 
sonst  für  die  machthaberische  Willkür  Gleichgültigen  übrig  bleibe. 
Jedoch  auch  über  die  unzuverlässige  Ausfüllung  dieses  engen  Spiel- 
raums giebt  man  sich  bald  keinen  Täuschungen  mehr  hin;  denn 
man  lernt  nur  zu  rasch,  dass  die  allgemeine  Demoralisation  und 
Creaturenhaftigkeit  in  der  Gesellschaft  auch  noch  andere  Ablenkungen 
mit  sich  bringt,  als  diejenigen,  welche  blos  die  Interessen  der  Macht- 
haber berühren.  Das  ganze  System  gesellschaftlicher  Beziehungen 
entwickelt  alsdann  seine  corrumpirenden  Einwirkungen,  und  das 
einzig  Tröstliche  in  diesem  allgemeinen  Schiffbruch  der  öffentlichen 
und  privaten  Moral  bleibt  die  Thatsache,  dass  auch  die  falschen 
geistigen  Bindemittel  mitaufgelöst  und  das  Individuum  wenigstens 
innerhch  zur  Freiheit  des  Durchschauens  alles  moralischen  Truges 
emancipirt  und  so  fähig  gemacht  wird,  in  einer  neuen  und  bessern 
Richtung  höhere  sittliche  Antriebe  aufzunehmen. 

7.  Es  drängt  sich  nicht  blos  für  die  gekennzeichneten  Zustände, 
sondern  für  den  gesammten  Verlauf  der  bisherigen  Geschichte  und 
absehbaren  Zukunft  die  Frage  auf,  was  die  hervorragenden  Indivi- 
dualitäten in  Vergleichung  mit  der  breiten  elementaren  Massenwirkung 
allgemeiner  Gesetze  zli  bedeuten  haben.  Auf  der  einen  Seite  steht 
die  nebelhafte  Geschichtsromantik  eines  Carlyle  mit  ihrem  über- 
spannten Heroencultus ,  und  auf  der  andern  Seite  findet  sich  in 
Buckles  Auffassung  der  modernen  Civilisation  die  Auslöschung  der 
Erheblichkeit  der  Staatsmännerrollen  vertreten.  Die  rückläufige 
Ansicht  des  ersteren  feiert  einen  Crom  well,  einen  Napoleon  I  und 
verherrlicht  schliesslich  einen  Friedrich  II  von  Preussen  mit  der  bi- 
zarresten  Personenanbetung.  •  Diesem  Sonderling  von  Schriftsteller  mit 
seinem  zwar  leidenschaftlich  angehauchten,  aber  trotzdem  nichts 
weniger  als  natürlichen  Stil  erscheinen  die  Massen  als  Piedestal,  um 
darauf  die  Götter  der  G